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Kavita Sharma "Mein Thema ist nicht der Krieg an sich, sondern die Menschen, die er trifft"

Sharma im Dezember im Gespräch mit Thomas Gottschalk beim RTL-Jahresrückblick 2022.
Sharma im Dezember im Gespräch mit Thomas Gottschalk beim RTL-Jahresrückblick 2022.
© Andreas Rentz / Getty Images
Vor einem Jahr überfiel Russland die Ukraine. Die TV-Reporterin Kavita Sharma berichtet seither aus diesem Krieg – mit hohem persönlichen Einsatz.

Manchmal sind es die leisen, fast beiläufigen Bilder, die am eindrücklichsten davon erzählen, was Krieg bedeutet: Ein Gedenkschrein auf einer Fensterbank zum Beispiel, mit einer Ikone und einem Stapel Äpfel, für eine junge Mutter, die auf der Flucht aus ihrem Dorf von russischen Soldaten erschossen wurde. "Sie hat doch Äpfel so geliebt“, sagt ihr Mann. Die bettlägerige Frau mit ihrem gehbehinderten Sohn, denen ihr ärmliches Zuhause zum Gefängnis geworden ist. Weil sie es nicht die Treppen hinunter in den Schutzraum schaffen, sind sie dem russischen Beschuss hilflos ausgeliefert.

Im September berichtet Kavita Sharma aus der Stadt Isjum in der Ostukraine, kurz nachdem diese von russischen Truppen befreit wurde. Da es, wo sie sich aufhält, kein Handynetz gibt, benutzt sie ein Satellitentelefon.
Im September berichtet Kavita Sharma aus der Stadt Isjum in der Ostukraine, kurz nachdem diese von russischen Truppen befreit wurde. Da es, wo sie sich aufhält, kein Handynetz gibt, benutzt sie ein Satellitentelefon.
© David Nolte

Oft ist bei solchen Aufnahmen diese Frau zu sehen, mal am Rand hinter einem Mikrofon, mal in Schutzausrüstung direkt vor der Kamera: Die Berliner TV-Journalistin Kavita Sharma, 43, lebt seit 2016 als Korrespondentin für die Sender RTL und ntv in Istanbul, eigentlich, um über den Nahen Osten zu berichten. Aber Putins Angriffskrieg hat ihren Fokus verschoben. Von den vergangenen zwölf Monaten hat sie fast die Hälfte in der Ukraine verbracht. Das Wort Kriegsreporterin mag sie nicht: "Mein Thema ist nicht der Krieg an sich, sondern die Menschen, die er trifft.“ Ihrem Leid, ihrer Entrechtung kann sie als Journalistin eine Stimme geben, das treibt sie an: "Vor Ort zu sein ist durch nichts zu ersetzen, wenn wir als Medien glaubwürdig sein wollen.“

BRIGITTE: Waren Sie bereits in der Ukraine, als der Krieg begann?

KAVITA SHARMA: Wir waren in Kramatorsk im Donbass. Frühmorgens im Hotel bin ich von den ersten Explosionen aufgewacht. Ab dann war das Land im kollektiven Schock. Als Fernsehteam mussten wir uns anfangs in einer sehr unübersichtlichen Situation zurechtfinden: Ständig änderte sich der Frontverlauf, alles war knapp, Schlafplätze, Benzin, viele Supermärkte und Restaurants waren geschlossen, es war oft schwer, eine warme Mahlzeit zu bekommen. Manche Bilder und Geschichten werde ich nie vergessen.

"Menschen wurden vor unmenschliche, grausame Entscheidungen gestellt."

Können Sie davon erzählen?

Das kleine Mädchen, das auf der Flucht noch seinen Schlafanzug trug, so überstürzt war die Familie aufgebrochen. Eine Frau, die aus dem umkämpften Irpin in der Nähe Kiews entkommen war, aber ihren bettlägerigen Partner zurücklassen musste. Menschen wurden vor unmenschliche, grausame Entscheidungen gestellt. Andere Situationen waren surreal und verstörend. Im September gab es einen russischen Raketenangriff auf einen Konvoi mit Zivilisten. Als wir davon hörten, fuhren wir zum Angriffsort. Die Toten lagen noch da. Auf einmal klingelte neben einem der Toten ein Handy. Ich hatte sofort die Fantasie: Da versucht jemand verzweifelt, einen geliebten Menschen zu erreichen und ihn zu fragen, ob er okay ist.

Im Oktober ist Sharma mit der ukrainischen Armee in die Region Mykolajiw gereist. Das Erdloch soll im Angriffsfall Deckung bieten.
Im Oktober ist Sharma mit der ukrainischen Armee in die Region Mykolajiw gereist. Das Erdloch soll im Angriffsfall Deckung bieten.
© David Nolte

Wie schützen Sie und Ihr Team sich?

Informationen sind lebenswichtig: Wie ist der Zustand der Straßen, wie ist das Handynetz, welche Ortsteile sind begehbar, welche Angriffe zu erwarten? Und jede:r im Team hat ein Vetorecht, vom Kameramann bis zum Fahrer. Ich könnte mir nie verzeihen, wenn jemandem etwas passiert. Aber es bleibt immer ein Restrisiko, im Krieg kippen Situationen oft in Sekundenschnelle. Einmal sind wir nur knapp einem Artillerieeinschlag entkommen. Vor allem die ukrainischen Kolleg:innen im Team arbeiten unter einer krassen Doppelbelastung: Sie übersetzen, recherchieren und sorgen sich gleichzeitig um ihr Land und ihre Liebsten. Für diesen Einsatz bin ich unendlich dankbar.

"Es ist wichtig, Angst zu spüren"

Sie habe fast jeden Tag „im Zustand unterdrückter Angst gearbeitet“, hat die Journalistin Christiane Amanpour einmal gesagt, die für CNN unter anderem aus dem Irakkrieg berichtet hat. Gilt das auch für Sie und Ihre Kolleg*innen?

Es ist wichtig, Angst zu spüren, sie ist dein Koordinatensystem. Aber du darfst dich nicht von ihr überrollen lassen, dann triffst du schlechte Entscheidungen. Manchmal hängt die Angst auch von der Tagesform ab, oder weil vor Kurzem erst Pressekolleg:innen verletzt wurden oder sogar gestorben sind. Wir tauschen uns im Team ständig über diese Gefühle aus.

Ihre Interviewpartner:innen haben oft großes Leid erfahren, trotzdem müssen Sie als Journalistin Distanz wahren und Geschichten kritisch hinterfragen. Wie schwer fällt das?

Man muss sich immer daran erinnern: Wir sind Beobachtende. Wenn wir diese Rolle aufgeben, verlieren wir unsere Glaubwürdigkeit, unser allerhöchstes Gut. Einfühlsamkeit, Nähe, sensibles Nachfragen sind so wichtig wie Einordnung, Factchecking. Gerade in der jetzigen Informationslage, wo Fake News Hochkonjunktur haben, dürfen wir das nicht aufgeben, als Gegengewicht zur russischen Propaganda.

"Aber unser Bezugspunkt ist immer unsere eigene Realität."

Während im Donbass die Menschen sterben, wird in Deutschland über Energiepreise diskutiert und die Frage, ob wir uns in Putins Schusslinie begeben, wenn die Bundeswehr Kampfpanzer an die Ukraine liefert. Befremdet Sie das?

Nein. Dass Krieg viel schlimmer ist als eine hohe Heizkostenrechnung, das kann ja jede:r nachvollziehen. Aber unser Bezugspunkt ist immer unsere eigene Realität. Wenn die aus den Fugen gerät, weil die Strompreise explodieren oder man sich bedroht fühlt, nützt es nichts zu betonen, dass es anderen anderswo schlechter geht.

Eingespieltes Team: Kavita Sharma im März unterwegs mit dem Fernseh-Kameramann David Nolte, mit dem sie regelmäßig zusammenarbeitet.
Eingespieltes Team: Kavita Sharma im März unterwegs mit dem Fernseh-Kameramann David Nolte, mit dem sie regelmäßig zusammenarbeitet.
© Privat

Die meisten Journalisten, die aus dem Krieg berichten, sind Männer, ob in der Ukraine oder anderswo. Haben Sie als Frau einen spezifisch weiblichen Blick auf das Geschehen?

Nein, ich glaube, die Unterschiede sind eher individuell: Wie wissbegierig ist jemand, wie einfühlsam, wie viel Kontext hat er, wie mutig ist er oder sie? Die Ukraine ist uns kulturell ähnlich, da macht es keinen Unterschied, wer die Fragen stellt. Wenn ich in islamisch geprägten Ländern arbeite, in denen die Männer- und Frauenwelten teilweise stark getrennt sind, bin ich sogar im Vorteil: Ich habe Zugang zu beiden Seiten, selbst die Taliban gaben bisher auch ausländischen Journalistinnen Interviews, während umgekehrt für die männlichen Kollegen der Zugang zur Frauenwelt deutlich schwieriger ist.

Was denken Sie: Wie hat der Krieg in der Ukraine Europa verändert?

Er hat die Nato stärker vereint, die Prioritäten der USA neu definiert, den Fokus wieder mehr auf Russland gelegt. In Deutschland hat er die Diskussion angekurbelt, welche Rolle wir künftig außenpolitisch spielen wollen. Alles äußerst unerfreulich für Putin.

Selbst wenn durch ein Wunder morgen die Ukraine den Krieg gewinnt – es ist so viel zerstört, äußerlich und psychisch, dieses Rad kann man nicht einfach zurückdrehen.

Das klingt fast ein wenig optimistisch – meinen Sie es so?

Ich fürchte, nein. Der Ukraine-Krieg ist ein ungeheurer Zivilisationsbruch, ich habe zu viele Menschen gesehen, die zu großes Leid erfahren haben. Selbst wenn durch ein Wunder morgen die Ukraine den Krieg gewinnt – es ist so viel zerstört, äußerlich und psychisch, dieses Rad kann man nicht einfach zurückdrehen. Und leider sieht es derzeit nach einem brutalen Abnutzungskrieg aus, den am Ende die Seite entscheidet, die den längeren Atem hat. Wenn der Westen will, dass sich die Ukraine erfolgreich gegen Putins völkerrechtswidrigen Angriffskrieg verteidigt, dann muss der Westen das Land mit allen Mitteln, auch Waffen, weiter unterstützen.

Wie verarbeiten Sie selbst die hochemotionalen Situationen, die Sie erleben? Oder lassen Sie das gar nicht an sich heran als Profi?

Ich würde mir eher Sorgen machen, wenn ich das so abschütteln könnte. Wir sprechen viel im Team, immer frage ich mich, ob ich einer Geschichte gerecht geworden bin, den richtigen Ton getroffen habe. Aber es gibt auch brutale Bilder, die lassen mich lange nicht los. Wenn ich merken würde, dass ich sie nicht verarbeiten kann, würde ich mir professionelle Hilfe suchen. Sie einfach nur wegzuschieben, wäre nicht mein Weg. Am Ende steht das, was wir erleben, in keinem Verhältnis zum Leid der Menschen vor Ort. Wir können gehen, es ist nicht unsere Heimat, die brutal in Schutt und Asche gebombt wird.

Können Sie bei all dem noch glauben, dass die Menschen im Grunde ihres Wesens gut sind?

Im Krieg siehst du den Menschen von der schlechtesten und der schönsten Seite, das hält sich die Waage. Mein Team und ich waren und sind total beeindruckt von der Widerstandskraft und Hilfsbereitschaft der Ukrainer.innen: wie sie ganz selbstverständlich ihr Essen teilen, Botengänge für Alte und Kranke organisieren, die ihre Häuser nicht verlassen können. Wie Hotels Geflüchtete aufnehmen, ohne zu fragen, ob sie zahlen können, und Mütter während der Angriffe im Keller mit ihren Kindern ein Gutenachtlied singen, trotz aller Verletzlichkeit und Angst. Es beeindruckt mich immer wieder, wie Menschen sich in der entwürdigenden Situation eines Krieges ihre Humanität bewahren.

Immer in Bewegung: Kavita Sharmas Werdegang ist international wie ihre deutsch-indische Herkunft: Studium in London, Arbeit für Al Jazeera English, seit 2016 Korrespondentin für RTL in Istanbul, wo sie mit ihrem Partner lebt. Für ihren Beitrag „Ukraine-Krieg – Stotskyi’s Schicksal“ bekam sie 2022 den TV-Preis „intermedia-globe GOLD“.

Brigitte

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