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Zuhause Barbara Wenzel hat eine WG für junge Schlaganfallpatienten gegründet

Leute im Kreis lachen gemeinsam
© Luc.Pro / Adobe Stock
In Hamburg gibt es ein besonderes Projekt: eine WG für jüngere Schlaganfallbetroffene. Manche schaffen es danach zurück ins eigene Zuhause.

Neulich war Claudia Moll da, die Pflegebeauftragte der Bundesregierung. Es gab Käsekuchen mit Sauerkraut, und alle haben tapfer zugelangt. Denn gewünscht hatte sich die ungewöhnliche Kombi ein Bewohner des Projekts, das Moll an diesem Tag kennenlernen wollte: eine WG für jüngere Schlaganfallpatient:innen.

Es ist ein Projekt, das aus persönlicher Betroffenheit entstanden ist, denn Henrik Wentzel, Ehemann der Initiatorin Barbara Wentzel, lebt in der Wohngemeinschaft. Vor zehn Jahren erlitt er einen Schlaganfall, damals war er 55, Jurist, Sportler und gerade dabei, nach einem Chefposten als Finanzvorstand bei einer Reederei mit einer eigenen Kanzlei durchzustarten. Doch mit buchstäblich einem Schlag war das Leben ein anderes. Und das seiner Frau und den drei Kindern zwischen 13 und 19 auch.

Jetzt sitzen die Wentzels in einem ziemlich paradiesischen Innenhof, der zum Zindlerhaus gehört, einer ehemaligen Textil-Fabrik in St. Georg, nahe dem Hamburger Hauptbahnhof. Die Heerlein- und Zindler-Stiftung betreibt hier Einrichtungen, in denen vor allem ältere Menschen leben und gepflegt werden. Barbara Wentzel, 59, hat hier eine 360 Quadratmeter große Wohnung angemietet und bedarfsgerecht umbauen lassen.

Wentzels kleine Pflegerevolution

Barbara Wentzel kommt aus dem Marketing; was sie heute über Schlaganfälle und das Gesundheitssystem weiß, lernte sie im Lebensblitzkurs. Ein Jahr verbrachte ihr Mann in Krankenhaus und Reha, danach pflegte sie ihn bei voller Berufstätigkeit zu Hause, mit Hilfskräften, die bei ihr wohnten. Für alle sei es ein Ritt auf der Rasierklinge gewesen, sagt sie. Henriks trotz des Schlaganfalls scharfer Geist kontrastierte mit einer gestörten Wahrnehmung. Dass er plötzlich Lust auf Käsekuchen mit Sauerkraut entwickelt, ist eine der lustigen Anekdoten (und Titel des Buchs, das sie 2017 mit der Journalistin Miriam Collée schrieb). Es war ihr Sohn, der irgendwann sagte: Mama, du gehst kaputt. Und wir auch.

Henrik in ein Pflegeheim zu geben kam für sie nicht infrage, denn wie es dort oft zuging, wusste sie inzwischen. "Nämlich gruselig", sagt sie, "und da können die Pflegekräfte nichts dafür – das ganze System der Leistungskataloge ist krank." Das viel zu knappe Personal werde schlecht bezahlt, die Pflege aufs Notwendige beschränkt, "Profite werden aus den Heimen abgezogen, ohne Rücklagen. Wir haben ein einstmals gutes System kaputtgespart". Jeder Schlaganfall sei anders, Behandlung und Pflege aber gleich. Das funktioniere nicht. Und nimmt den Menschen die Würde, findet sie.

Eine kleine Pflege-Revolution hat sie in Gang gebracht, an ihrem Küchentisch, mit ihren Freundinnen Christiane Holtappels und Brigitte Kober-Dill. Das "Haus für morgen e.V." ist 2017 entstanden, ein Verein, dem Wentzel vorsteht, Holtappels und Kober-Dill sind die Projekt-Managerinnen. Sie sorgen dafür, dass jüngere Schlaganfallbetroffene eine Betreuung bekommen, die auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten ist, sie emotional und individuell auffängt, sie durch aktive Teilnahme an Leben und Gemeinschaft fordert, ihnen eine Perspektive aufzeigt: irgendwann wieder ein eigenständiges Leben zu führen. Und vor allem: das Verbindung schafft. "Wohnpflegegemeinschaft" nennt Wentzel das.

Und günstiger ist das auch

Henrik Wentzel zog im Juli 2020 als erster Bewohner ein, inzwischen ist die WG mit neun Schlaganfallpatient:innen voll belegt. Sie leben jeweils in Einzelzimmern mit Bad, es gibt einen Gemeinschaftsbereich mit großem Tisch und Sitzecke und einer Küchenzeile. 47 ist die jüngste, Wentzel mit 66 der älteste. "Bei uns sitzt man nicht nur herum und wird gepampert", sagt Barbara Wentzel. "Das ist eine Wohngemeinschaft, und da gehört es dazu, dass man kocht, aufdeckt, gemeinsame Zeit verbringt."

Dafür gönnt sich das "Haus für morgen" einen überdurchschnittlichen Personalschlüssel, auf einen Bewohner, eine Bewohnerin kommen 1,2 Pflegekräfte. 40 Prozent der Kosten tragen die Sozialsysteme, den Rest die Angehörigen oder die Ämter, auch die Zimmermiete. Der Beitrag für die Pflege entspricht dem in normalen Einrichtungen. Wentzel will aber mehr: Psychobetreuung, Freizeitprogramme, Workshops. Und disziplinübergreifende Beurteilungen. "Jeder bleibt in seinem Silo, das wollen wir aufbrechen. Wir wollen, dass sich Neurologen gemeinsam mit Gefäßexperten, Therapeuten und Pflegenden Gedanken um unsere Bewohner machen." Derzeit wird das über Spenden ermöglicht. "Aber das ist eigentlich falsch, es gehört in die Regelfinanzierung." Und überhaupt sei diese Art der Pflege viel günstiger für die Gesellschaft. "Wir konnten zwei Bewohner wieder nach Hause entlassen, das ist ein Riesenerfolg. Normalerweise bleiben solche Patienten 20, 30 Jahre im Pflegesystem hängen." Sie rechnet weiter: Von 270 000 Schlaganfall-Patient:innen pro Jahr sind 30 000 unter 55. Die werden von Angehörigen gepflegt, die dann weniger arbeiten können – wirtschaftlicher Schaden: etwa fünf Milliarden Euro pro Jahr; oder sie leben in Heimen, Kosten bei durchschnittlicher Lebenserwartung von 15 Jahren nach dem Hirninfarkt: 260 000 Euro.

Barbara Wentzel hat große Pläne, und die verfolgt sie mit der Beharrlichkeit einer Frau, für die völlig klar ist, dass es nichts gibt, was nicht geht. Politiker:innen besuchen die WG, der Bundestagsabgeordnete Falko Droßmann war da, auch Hamburgs Sozialsenatorin Melanie Schlotzhauer. Das "Haus für morgen" hat Aufmerksamkeit erregt, als gelungenes Beispiel für ein Reset des Pflegesystems. Sieben weitere WGs will Wentzel in Hamburg in den nächsten Jahren einrichten, dafür beantragt sie Förderung und klappert den Immobilienmarkt ab.

Die Wentzels haben seit vielen Jahren ein Ferienhaus an der Schlei, im vorletzten Sommer hat die WG mit allen Angehörigen einen Ausflug dorthin gemacht. Beim Essen saß Henrik am Kopf der Tafel und hielt eine Rede. Im normalen Leben, sagte er, wären sich diese neun Menschen wohl nie begegnet. "Aber durch unsere Zweckgemeinschaft sind wir uns alle nah und wichtig geworden." Und Barbara Wentzel saß daneben und dachte: genau das.

Brigitte

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