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Waldorfschulen: "Wir leisten nach wie vor Pionierarbeit"

Debatte um die Waldorf-Pädagogik: Wie gehen die Waldorfschulen mit der Kritik um?

Das "Schwarzbuch Waldorf" von Michael Grandt* hat die Debatte um die Waldorf-Pädagogik neu angeheizt - auch auf BRIGITTE.de diskutieren Userinnen intensiv über die Theorien Rudolf Steiners und die Praxis an den Waldorfschulen. Wie gehen die Waldorfschulen mit der Kritik um? Wir haben Henning Kullak-Ublick, Vorstand des Bundes der Freien Waldorfschulen, mit einigen Vorwürfen konfrontiert.

*mittlerweile vom Markt genommen

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BRIGITTE.de: Herr Kullak-Ublick, der Autor des "Schwarzbuch Waldorf", Michael Grandt, hat sich bei mir beschwert, dass sich noch nie ein Waldorfvertreter mit ihm an einen Tisch gesetzt habe, um zu diskutieren. Warum scheuen Sie die Konfrontation?

Henning Kullak-Ublick: Grundsätzlich setzen wir uns gerne mit unseren Kritikern auseinander. Deshalb wollten wir mit dem Verlag und Herrn Grandt zusammentreffen, um die teilweise wirklich absurden Behauptungen seines Buches richtigzustellen. Leider wurden uns aber nur Gesprächstermine nach der Auslieferung angeboten. Auch gegenüber dem SWR hatten wir uns bereit erklärt, mit Herrn Grandt zu diskutieren, aber daraus wurde dann nichts. Im Übrigen gehört zu einem Gespräch ein Mindestmaß an Fairness und das sucht man in diesem Buch leider vergeblich.

BRIGITTE.de: Eine Behauptung des Autors ist, dass die Waldorfschule eine "Weltanschauungsschule" sei. Warum wehren Sie sich so dagegen? Schließlich ist die Anthroposophie doch die Grundlage Ihrer Pädagogik.

Henning Kullak-Ublick: Eine Weltanschauungsschule ist per Definition eine Schule, welche die Kinder auf eine bestimmte Weltanschauung hin erziehen will. Genau das wollen die Waldorfschulen aber ausdrücklich nicht. Eine kürzlich vorgelegte Absolventenstudie belegt auch, dass sie es nicht tun. Die Anthroposophie ist ein Übungsweg, der die Lehrer dafür sensibilisieren kann, das Einzigartige und Unerwartete in jedem Kind immer wieder neu zu entdecken, um seine besonderen Fähigkeiten fördern zu können. Es geht gerade nicht darum, dem Kind die eigenen Überzeugungen überzustülpen, sondern es dazu zu bringen, eigene Ideen und Kräfte zu entwickeln. Deshalb werden Waldorfschulen auch nicht als Weltanschauungsschulen, sondern als 'Schulen besonderer pädagogischer Prägung' genehmigt.

BRIGITTE.de: Aber bremsen die Waldorflehrer die Kinder nicht auch gleichzeitig aus, indem sie zum Beispiel vieles ablehnen, was in unserer technikorientierten Welt als normal gilt?

Henning Kullak-Ublick: Technikunterricht gehört seit jeher zum Stundenplan der Waldorfschulen. Natürlich gibt es Computer. Die Jugendlichen sollen lernen, die sie umgebende Technik zu durchschauen, um sie verantwortlich handhaben zu können und nicht nur ihrer Faszination zu erliegen. In der Unterstufe jedoch kommt es uns darauf an, dass die Kinder erstmal reale Erfahrungen mit allen Sinnen, mit ihrem Herzen und natürlich auch mit dem Verstand machen, um die Welt in ihrer ganzen Vielfalt und Schönheit zu erleben. Elektronische Medien haben also durchaus ihren Platz in der Waldorfschule; es wird nur darauf geachtet, wann die Kinder damit in Berührung kommen. Das heißt aber noch lange nicht, dass wir uns in die Vorgärten der Eltern stellen, um zu kontrollieren, ob im Haus ein Fernseher läuft.

BRIGITTE.de: Doch wie gehen Sie mit Schülern um, die Ihre Unterrichtsmethoden hinterfragen? Man hört öfter von ehemaligen Waldorfschülern - unter anderem auch auf BRIGITTE.de - dass kritische Fragen nicht erwünscht seien.

Henning Kullak-Ublick: Natürlich gibt es manchmal Lehrer, die mit Kritik schlecht umgehen können, übrigens auch an anderen Schulen. Da sind Lehrer vielleicht allgemein etwas empfindlich, weil sie immer unter Beobachtung stehen. Aber ich kann Ihnen versichern, dass es generell an unseren Schulen einen ganz intensiven Austausch mit den Schülern gibt, bei dem auch kritische Fragen besprochen werden. Auch mit Kritik von den Eltern setzen wir uns ständig auseinander. Schließlich haben diese ihre Kinder nicht zuletzt deshalb auf eine Waldorfschule geschickt, weil sie sich kritische Gedanken über das Regelschulwesen gemacht haben. Dieses kritische Bewusstsein legen sie ja nicht an der Schwelle der Waldorfschulen ab. Ich würde sogar sagen, dass Waldorflehrer aus diesem Grund stärker beobachtet und zur Aufklärung verpflichtet werden, als Lehrer an anderen Schulen.

BRIGITTE.de: Ein anderer Vorwurf, den ich in unserem Forum gelesen habe, lautet, die Waldorfschule würde ihre Kinder nicht ausreichend auf das Berufsleben vorbereiten. Es gebe immer wieder Absolventen, die etwa an der Uni nicht mit den anderen mithalten könnten.

Henning Kullak-Ublick: Das mag im Einzelfall stimmen, aber das tut es in allen Schulsystemen. Aus Absolventenstudien geht eindeutig hervor, dass ehemalige Waldorfschüler in ihrer überwiegenden Mehrheit bestens im Berufsleben zurechtkommen. Wir hören immer wieder, dass Waldorfschüler bei Bewerbungen für einen Ausbildungsplatz bevorzugt werden, weil sie in besonderem Maße über Schlüsselkompetenzen wie Teamfähigkeit, Selbstständigkeit und Verantwortungsbewusstsein verfügen.

BRIGITTE.de: Kommen wir noch mal auf das "Schwarzbuch Waldorf" zurück. Sie haben sich ja sogar gerichtlich gegen Herrn Grandts Vorwurf gewehrt, körperliche Züchtigung werde von den Waldorfpädagogen akzeptiert. Eine Userin hat auf BRIGITTE.de jedoch berichtet, dass sie selbst "Prügelszenen" an der Waldorfschule erlebt habe.

Henning Kullak-Ublick: Die Prügelstrafe wird an allen Waldorfschulen grundsätzlich abgelehnt. Schon bei der Gründung der ersten Waldorfschule im Jahr 1919, als die Prügelstrafe noch gang und gäbe war, stellte sie das unmissverständlich klar. In den 25 Jahren meiner Lehrertätigkeit hat es in den wenigen Situationen, bei denen Lehrern so etwas passiert ist, immer Konsequenzen gegeben. Etwas anderes würde sich heute auch zu recht niemand mehr gefallen lassen.

BRIGITTE.de: Wie sieht es mit dem zweiten schwierigen Thema aus, Rudolf Steiners rassistische Äußerungen: Wir leben ja heute in einer Zeit, in der sich öffentliche Personen schon wegen kleinster Diskriminierungen ins Abseits manövriert haben. Sollte da nicht mal Schluss sein mit dem Personenkult?

Henning Kullak-Ublick: Bei der Anthroposophie geht es an keiner Stelle um einen Personenkult oder darum, Rudolf Steiners Thesen nachzubeten. Es geht vielmehr um eine aktive Auseinandersetzung mit ihren Ideen. Sicherlich gibt es Lehrer, die Rudolf Steiner verehren, aber das heißt nicht, dass sie ihn nicht auch kritisch betrachten können. Es ist völlig fraglos, dass es nach heutigem Verständnis rassistisch wirkende Formulierungen bei Steiner gibt, von denen man sich auch distanzieren muss. Aber es wird Steiners Lebenswerk nicht gerecht, wenn man ihn darauf reduziert. Er wollte genau das Gegenteil: Die Emanzipation des einzelnen Menschen, ungeachtet seines Geschlechts, seiner ethnischen oder sozialen Herkunft. Die unantastbare Würde aller Menschen sah er als die Grundlage einer modernen Gesellschaft an. Deshalb haben die Nazis die Anthroposophie ja auch verboten.

BRIGITTE.de: Aber solange Sie an Ihrem Namenspatron festhalten, werden diese Vorwürfe doch immer wieder hochkommen. Wird es nicht Zeit, sich endlich von dieser 100 Jahre alten Lehre zu lösen?

Henning Kullak-Ublick: Der innerste Kern der Waldorfpädagogik ist Entwicklung. Rudolf Steiner sagte selbst, eigentlich müsse man die Waldorfschule jede Woche neu erfinden. Und so leisten wir nach wie vor Pionierarbeit auf ganz vielen Gebieten. Etliche Methoden, die wir erfunden haben, werden von den Regelschulen nach und nach übernommen, zum Beispiel fächerübergreifendes Lernen oder der Fremdsprachenunterricht ab der ersten Klasse. Und dieser Entwicklungsprozess geht weiter, wir forschen aktuell an vielen neuen spannenden Unterrichts- und Lernmethoden. Man kann also keinesfalls sagen, dass wir einer veralteten Lehre anhängen.

BRIGITTE.de: Wie wollen Sie künftig mit Ihren Kritikern umgehen?

Henning Kullak-Ublick: Bei der Größe, die die Waldorfschulbewegung weltweit erreicht hat, sind gelegentliche unfaire Angriffe kaum zu vermeiden. Glücklicherweise erfolgt der überwiegende Teil der kritischen Auseinandersetzung auf einem hohen Niveau. In diesen Fällen setzen wir uns sehr gern mit unseren Kritikern auseinander und betrachten den Dialog als sehr fruchtbar. Im Fall von Herrn Grandt muss ich jedoch leider sagen, wurde dieses Niveau deutlich unterschritten.

Interview: Michèle Rothenberg Fotos: Barth/laif, privat

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