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Oll Inklusiv Mitra Kassai holt Hamburgs "Senioren und Senioritas" aus der Einsamkeit

Mitra Kassai, 52, hat ein riesiges Herz aus Gold – nicht nur für ältere Menschen
Mitra Kassai, 52, hat ein riesiges Herz aus Gold – nicht nur für ältere Menschen
© Jonas Krantz
"Wir wollen nicht zu Hause abgammeln!", sagt Mitra Kassai, Gründerin von "Oll Inklusiv" – und mischt das Leben von Hamburgs Senior:innen auf.

Auf die Reeperbahn mittags um zwölf ballert die Sonne und eine steife Brise fegt die Bierdosen über den Asphalt. Von Deutschlands bekanntester Partymeile tauche ich ab ins Dunkel der Kiezbühne "Schmidtchen". Großes Hallo, die Stimmung ist prächtig, denn hier kommen gerade über 90 "Senioren & Senioritas" zusammen – so nennt Mitra Kassai, Gründerin von "Oll Inklusiv", ihre Gäste, die alle jenseits der 60 sind. 

Warum nicht tagsüber in die Clubs gehen, wenn man abends müde ist?

Für diesen Sonntag hat Mitra ein Konzert mit Sängerin Norma organisiert, das für eine CD mitgeschnitten wird. Und danach wird getanzt. Häufig auch im "Knust" oder im "Indra", dem Club, in dem die Beatles groß geworden sind. Als Musik- und Kulturmanagerin ist die 52-Jährige bestens vernetzt in Hamburg und findet: "Wenn man abends lieber auf dem Sofa sitzt – warum sollte man dann nicht tagsüber in die Clubs gehen?"

Mitra umarmt und wird umarmt, Hände werden geschüttelt, Gesichter strahlen. Wer niemanden kennt, wird von ehrenamtlichen Helferinnen zu anderen Senior:innen an die runden Tischchen vor die Bühne gesetzt. "Mir ist ganz wichtig, dass sich niemand lost fühlt“, sagt Mitra. Im sechsten Jahr "Oll Inklusiv" kennen sich aber schon viele – kein Wunder, Mitra organisiert mit ihren 40 Ehrenamtlichen laufend Clubnachmittage, Musicalbesuche, Lesungen, Mal- und Schreibkurse oder Ausflüge. Im Sommer geht es nach Wacken, zum größten Metal-Festival der Welt, das war sofort ausgebucht, erzählt sie, und unterbricht unser Gespräch, um einer Seniorita entgegenzuschmettern: "Hey, du hast ja Glitzer an heute!" Strahlend beginnt die Dame, auf Mitra einzureden, hinterher wird sie sagen: "Ich bin häufig die einzige Ansprechperson, viele quatschen ja die ganze Woche nix". Und genau das ist Mitras Anliegen: Die Leute aus der Einsamkeit holen und Gemeinschaft schaffen. 

"Wir wollen nicht zu Hause abgammeln, wir wollen zusammen sein und ne gute Zeit haben!", sagt Mitra. Und zwar jenseits von Klöppeln und Kaffeekränzchen. Kuchen gibt es aber schon. Zwei Frauen kredenzen "Eierlikörchen" und Butterkuchen, alles ist kostenlos und spendenfinanziert. Der Kuchen kommt von "Rönfeld“, einer der ältesten Konditoreien auf St. Pauli. "Support the local people" – auch das ist Mitra wichtig.

"Oll Inklusiv" hat Mitra nach ihrem Burnout gegründet - weil sie nur noch Dinge tun wollte, die Spaß machen

"'Oll Inklusiv' ist inzwischen eigentlich ein Full Time Job", sagt sie, "und wir machen das alle ehrenamtlich. Doch wenn ich die schönen, lustigen, süßen und grinsenden Gesichter der Senioren und Senioritas sehe, weiß ich genau, warum.“ "Positive Footprints" will sie hinterlassen, die Welt sei grau genug. "Mir geht’s gut, also gebe ich der Gesellschaft etwas zurück. Jeder muss sich selbst überlegen, ob er in den Himmel oder in die Hölle will." Der Himmel weiß wann, aber Mitra engagiert sich auch noch bei diversen anderen Projekten: "Tu Gutes und dir wird Gutes getan", davon ist sie überzeugt. 

Es ist jetzt zehn Jahre her, dass Mitra nach einem Burnout beschlossen hat, nur noch Dinge zu tun, die ihr und anderen Freude machen. Die entscheidende Frage sei doch: Wie will ich die Welt haben, damit ich mich wohl darin fühle? "Statt Rummotzen einfach mal lächeln oder Danke sagen, froh und glücklich sein, dass du sein darfst" – das sei doch schon mal ein Anfang.

Als die Saallichter verlöscht sind, ruft Mitra von der Bühne: "Geht’s euch gut!?“, und jemand antwortet: "Wenn wir dich sehen, immer!“ Mitra erklärt kurz den Ablauf: "Norma nimmt heute eine Live-CD auf und alles, was aus dem Publikum kommt, wird zu hören sein. Also, bitte klatschen – und wenn ihr umkippt, kippt leise um!“ Gelächter. "Und nicht vergessen: Das Highlight des Tages seid ihr!" Beim Konzert kippt dann zum Glück niemand um, auch wenn Köpfe und Füße kräftig mitwippen. 

Mitra wird zu DJ RITA – und sie legt keine Schlager auf

Nach der Zugabe werden Tische und Stühle weggeräumt, um Platz zum Tanzen zu machen. Mitra wird zu DJ RITA und die Gäste schwingen das Tanzbein zu Boogie, Funk und Soul.

Neben mir schwoft eine Dame, weißer Bob, weiße Bluse. Sie heißt Brigitte, ist 89 und ich frage sie, ob sie ein BRIGITTE-Abo hat. "Nein, ich habe wenig Geld. Ich war nie verheiratet und habe meinen Sohn allein großgezogen“, sagt sie. "Ich auch!", brülle ich durch "Funkytown" und wir highfiven uns. Mir fällt ein, was Mitra vorhin gesagt hat: "Armut sieht man den Leuten nicht an, und Einsamkeit ist keine Frage des Geldes." 

Als ein Song aus der "Rocky Horror Picture Show" gespielt wird, verlassen einige die Tanzfläche, doch DJ RITA holt sie mit dem nächsten Song zurück: "Y-M-C-AAAA!" singen alle mit und schwenken die Arme in der Luft. Einer von ihnen ist Bernd, ganz junggebliebener 70-Jähriger: "Das ist ein geschützter Raum, hier macht jeder, wozu er Bock hat!" Auch ich habe heute die Kontaktlinsen zu Hause gelassen und tanze das erste Mal im Leben mit der verhassten Brille auf der Nase. Ist das die Freiheit des Alters, von der alle reden?

"Ring my be-he-hell, ring my bell!“ Tanzen ist auch Therapie: Gotlind, 79, sagt, dass ihre Beine so schwer geworden seien, aber beim Tanzen fühlten sie sich ganz leicht an. Sie hat die Nägel schwarz und die Lippen rot und findet ihren Vornamen eigenartig. "Kenn ich, ich heiße mit Drittnamen Rotraut", fühle ich mit. "So hieß meine Puppe, weil sie rote Haare hatte!", sagt Gotlind und wir prusten los. Mechthild, "kurz vor 80", geflochtener Zopf bis zum Po, singt lauthals mit bei "These Boots are Made for Walking“. "Ich tanze aus therapeutischen Gründen“, sagt sie augenzwinkernd, "ich hab zwei künstliche Hüften."

Wenn's mal brennt, ist Mitra da

Einige Senioritas kommen auf mich zu, um von Mitra zu schwärmen. Gertrud schätzt an "Oll Inklusiv", "dass man so warmherzig begrüßt und begleitet wird." Und Karla erzählt, dass Mitra immer da sei, auch wenn‘s privat mal brennt. "Sie ist einfach ein Schatz. Sie hat mir in einer sehr schwierigen Situation beigestanden, das war so grandios!" Auch kürzlich habe sie ihr wieder geholfen und gesagt, dass sie immer anrufen könne. Karla wischt gerührt an ihren Augen herum: "Also, jetzt heul ich bald."

Schluss macht DJ RITA mit "Hit the Road Jack", und wer kann, packt mit an, rückt die Stühle zurecht und bringt Geschirr zum Tresen. Als Ray Charles bei "And don‘t you come back no more" angekommen ist, ruft Mitra ins Mikro: "Natürlich kommt ihr wieder, meine Lieben!"

Mit Butterkuchen im Bauch und Liebe im Herzen trete ich auf die grelle Reeperbahn. Ich bin müde getanzt und habe heute im Dunkeln mehr Wärme getankt, als mir die Sonne jemals geben könnte. Vielleicht gar nicht so übel, dass ich in drei Jahren 60 werde, denke ich, und radle beschwingt nach Hause.

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"Oll Inklusiv" ist zu 100 Prozent auf Spenden angewiesen. Spenden geht ganz einfach hier: oll-inklusiv.de/spenden

Brigitte

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