Anzeige

Ode an die Oma

Sie ist friseurfrisch onduliert, trägt praktisches Schuhwerk, hat immer einen Bonbon in ihrer Handtasche und ist eine der wichtigsten Personen der Welt: die Oma. Wir sollten ihr ein Denkmal setzen, findet BRIGITTEwoman-Mitarbeiterin Sabine Reichel.

image

Wer noch eine hat, liebt sie meist innig. Wer seine nicht kannte oder verloren hat, der spürt den Verlust mit überraschender Stärke und sehnt sich nicht nur nach Omas Weihnachtsplätzchen und Extra-Groschen für Lakritze, sondern nach der verlässlichen Fürsorge und altmodischen Bescheidenheit, die eigentlich allen Omas eigen ist. Großmütter sind die Hüterinnen unserer Kindheit, und die nostalgisch gefärbten Geschichten von treuen Omas und ihren Enkeln und Enkelinnen ziehen sich durchs ganze Leben und überdauern oft Ehen, Lieben und sogar Elternbeziehungen.

Omas kommen zwar in allen Formen und verschiedenen Temperamenten vor, sind mächtig wie Margaret Thatcher, plietsch wie Oma Duck oder aufopfernd wie Mutter Beimer. Doch das vertraute Klischee der gütigen Oma mit Schürze und Dutt ist so alt und vertraut, dass selbst die jüngsten und flottesten von ihnen nicht gegen das Bild der "Ur"-Oma ankommen. Und die ist ein deutscher Klassiker. Die interessanteste Oma-Generation ist vom Aussterben bedroht, aber menschlich und historisch zu einem Schatz und einer bedeutungsvollen Figur ohnegleichen geworden; Trägerin unglaublicher Geschichte und Geschichten, prall gefüllt mit Weltkriegen, Trecks und Bombenhagel, Hunger und Horror, Scham und Hoffnung, vom Kaiser zum Führer. Und sie hat alles tapfer und mit der ihr eigenen Zähigkeit überlebt: Wirtschaftswunder und Miniröcke, Beatles-Fieber und Kalten Krieg, Waldsterben und künstliche Befruchtung, den Mann auf dem Mond und die Frau in der Chefetage, neues Geld und alte Grenzen, Discomusik und Glasnost, Hippies und Handys, Mauerfall und E-Mail-Grüße. Gehört ihr nicht die Welt?

Und gibt es sie denn heute noch irgendwo, diese typischen Omas aller Omas? Sicher nicht mehr ganz so oft wie früher – was hauptsächlich damit zu tun hat, dass Frauen länger jung aussehen, berufstätig und unabhängig sind. Aber scheinbar vererbt sich doch immer noch von Generation zu Generation ein gewisses altmodisches Oma-Gen. Zwischen all den neuen Menschen, den halb nackten Mädchen und tätowierten Jungs taucht sie dann auf wie ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit; eine einzigartige Gestalt, unverändert und unverwechselbar in ihrer distinguierten Kostümierung. Mit praktischem Schuhwerk und heller Seniorinnenkleidung, das weiße Haar unterm Hütchen friseurfrisch onduliert, streift sie tapfer und leicht verloren durch die Großstädte auf der Suche nach einem Kännchen Bohnenkaffee und Kuchen in einer schönen Konditorei, die es nicht mehr gibt. Oder sie sitzt im Bus, der U- oder S-Bahn, eine alte Frau mit schrulligem Benehmen, die ihre Handtasche auf die Knie stellt und festhält, denn deutsche Omas lieben Handtaschen und sind sehr, sehr besorgt um sie. Deutsche Omas essen auch Bonbons in der U-Bahn, die sie sehr sorgfältig auswickeln und deren Papier sie klein zusammenfalten und wieder in die Tasche stecken. Deutsche Omas haben einen großen Busen und reisen gern. Deutsche Omas haben immer ein Taschentuch in der Tasche und geben gern praktische Ratschläge. Und das ist gut so, denn die Oma ersetzt natürlich oft den Familienberater. Für sehr viele Kinder oder Teenager, die in einer dysfunktionalen Familie aufwuchsen, war Oma die einzige Komplizin im Chaos, die Zuspruch spendete und Geheimnisse für sich behielt. Bei der Oma mit dem großen Herzen und viel, viel Zeit fanden sie Stabilität und Gerechtigkeit. Bei Omas konnte man entspannt in Ohrensesseln rumlümmeln oder ihr beim Ausstechen der sehnsüchtig erwarteten jährlichen Produktion von perfekten Weihnachtsplätzchen helfen. Ihr Reich, in dem sie mit Staubwedel und Kochlöffel wirkte, war das von wohltuenden Ritualen und unverrückbaren Traditionen. Und es war die Welt der Wunder, denn Omas hatten alles: Wellensittiche und träge Katzen, Apfelausstecher und Natronsalz, ein Klavier und einen kühlen Keller voll mit Eingemachtem, gebügelte Damastservietten und Tee in China-Blechdosen, Porzellanpuppen und eine Schaukel im Garten. Omas trugen auch zur Bildung bei. Zu Hause gab's Mickymaus-Hefte und "Bravo", doch Omas Bücherschränke enthielten exotische alte Wälzer in Ledereinbänden und mit goldener Schrift. Deutsche Klassiker, alte Lexika, herrliche Bände wie "Brehms Tierleben", riesige Wilhelm-Busch-Werke und Erich Kästners gesammelte Kinderbücher für die besuchenden Enkel und Enkelinnen.

Eltern und Kinder liegen bekannterweise oft im Clinch, sie sind zu verstrickt in der Familiendynamik und bilden ein Universum, in dem es kracht und in dem elterliche Autoritäten flöten gehen. Gestern wie heute bringen Omas auf magische Weise Gehorsam, gutes Benehmen, Respekt und den Wunsch nach "Anständigkeit" heraus. Besonders früher waren sie noch stärker "moralische Instanzen", die es schafften, aus ungezogenen, sadistischen Rüpeln brave Bengel mit Scheitel und einem artigen Diener zu verwandeln. Ich war ein Rock 'n' Roll besessener Teenager, aber der einzige Platz, wo ich nicht wagte, die amerikanische Hitparade im Radio laut anzustellen, war bei meiner Großmutter, einer gediegenen Klavier spielenden Nordfriesin und Verehrerin von Bach und Mozart. Elvis' Stimme und Dürers betende Hände über dem braunen Telefunken-Radio passten so zusammen wie ihre Romika-Schuhe und meine Ballerinas. Soweit meine Nachforschungen stimmen, hat sich an dem erzieherisch wertvollen Einfluss von Omas relativ wenig geändert. Selbst Teen-Schwarm Leonardo DiCaprio schwärmt von seiner guten deutschen "Omi" mehr als von Supermodels.

Die neue Generation von schicken, modernen, "heißen" und arbeitenden Großmüttern gibt es heute natürlich. Aber früher hatten Omas asexuell zu sein, denn sie waren nicht so sehr ein Vorbild als weibliche Wesen, sondern als Menschen und gestandene Frauen mit einer unangefochtenen Position, als eine der gemütlichsten Vertreterinnen des Matriarchats. Emanzipation war ja kein Massenstreben, der Wunsch nach Selbstentfaltung absurder Luxus. Man war als Frau dort angekommen, wo der schöne, sichere und stressfreie Teil begann: das Leben als Oma. Vor fast einem halben Jahrhundert galt die ewig elegante Marlene Dietrich mit ihren 50 Jahren nicht nur für ihre Enkel als "schönste Großmutter der Welt". Aber ehrlich – suchen wir nicht in unserer Oma nach einer erfahrenen Frau, die genau mit der Welt abgeschlossen hat, in der wir uns noch befinden und unsere Kämpfe ausfechten, auf dass wir durch ihre milden und ausgewogenen Ansichten oft wieder den Boden unter den Füßen spüren? Omas sind so unentbehrlich, weil sie uns das bieten, was wir am meisten brauchen, wenn wir Zuflucht in ihrer sauber aufgeräumten Welt suchen: Zeit, Ruhe, Geduld und vernünftige Ratschläge – und eben diese Weihnachtsplätzchen, die nur bei ihr so unnachahmlich schmeckten.

Es gibt sicherlich vereinzelte Fälle, in denen jemand Oma-geschädigt ist. Von "kühlen", geizigen und zu strengen Großmüttern ist dann die Rede oder sogar von bösen alten Weibern, die Hexen in Märchen wären. Vielleicht fehlt ihnen nur das Oma-Gen, vielleicht war das lange Leben zu bitter. Unsere klassische Oma ist eine wunderbare Mischung aus Anachronismus und Altruismus, aus nostalgischer Dichtung und solider Wahrheit. Nichts kommt auf die deutsche Oma. Sie zu lieben und ihr Ebenbild am Leben zu halten ist für uns selbst wichtig, denn sie bringt uns näher zu uns selbst. Wir sollten ihr ein Denkmal setzen.

Text: Sabine Reichel<br/><br/>BRIGITTEwoman 06/2005

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel