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Eine Entschuldigung wäre zu wenig

Als Carsten S. den Hinterbliebenen der NSU-Opfer sein Mitgefühl ausdrückt, erreicht er nur ihre Anwälte - keiner der Angehörigen ist im Gericht. Die Tochter eines Mordopfers zeigt Mitgefühl mit ihm.
Eine Entschuldigung wäre zu wenig
© imago/IPON

Sieben Tage hat er gebraucht, um diese Worte hervorzubringen. Sieben lange Verhandlungstage im NSU-Prozess, an denen er sich immer wieder den Fragen des Richters, des Staatsanwalts und der Nebenklägervertreter stellte. Carsten S. hat Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe die Ceska 83 gebracht, als sie bereits im Untergrund in Chemnitz lebten. Neun Menschen wurden damit getötet, mit Kopfschüssen, meist mitten ins Gesicht.

Carsten S., der kurz nach der Übergabe der Waffe aus der rechten Szene ausstieg ist und als Schwuler ein neues Leben in Düsseldorf begann, saß an manchen der Tage noch gekrümmter als zuvor an dem braunen Tisch der Anklagten. Als versuche er, den letzten Fitzel der Erinnerung hervorzuwürgen. Carsten S. hat wohl viel verdrängt. Auch aus Scham, das wird deutlich, als er kurz vor dem Ende seiner Vernehmung noch einmal das Wort ergreift.

Eine Entschuldigung an den Angehörigen vorbei

"Ich kann nicht ermessen, welch unglaubliches Leid und Unrecht Ihren Angehörigen angetan wurde, mir fehlen die Worte, um zu beschreiben, wie ich dafür empfinde", fängt er zaghaft an. "Eine Entschuldigung wäre zu wenig. Eine Entschuldigung, das klingt für mich wie ein Sorry, und dann ist es vorbei, aber es ist noch lange nicht vorbei. Ich wollte Ihnen mein tiefes Mitgefühl ausdrücken."

Er richtet sich nun, am 12. Verhandlungstag mit seinen Worten direkt an die Nebenkläger, die Opfer und Angehörige von NSU-Opfern also. Er spricht sie direkt an – doch es ist von ihnen niemand mehr im Saal. Ismail Yozgat, der Vater des in Kassel ermordeten Halit Yozgat, war zwei Wochen zuvor am Ende des siebten Verhandlungstags aufgesprungen. Er wollte etwas sagen, doch Richter Götzl verwies ihn auf seinen Platz. "Sie sind jetzt nicht dran", sagte er streng. Es war das letzte Mal, dass die Angehörigen der NSU-Opfer in München in Erscheinung traten. Auf den Bänken unter der Besuchertribüne, die Plätze also, die für die Nebenkläger vorgesehen sind, sitzen seitdem nur Menschen in schwarzen Roben. Die Anwälte der Opfer sind es nun auch, die die Worte von Carsten S. an ihre Mandanten überbringen.

"So etwas kann man nicht entschuldigen"

Warum er das jetzt erst sage, fragt Ismail Yozgat. "Warum nicht, als wir alle dort waren?" Geschlossen saß die Familie Yozgat in den ersten Verhandlungswochen im Saal, die Eltern und ihre vier erwachsenen Töchter. An einigen Tagen mussten sich die Eltern um einen Krankheitsfall in der Familie kümmern, dann harrten die jungen Frauen in München aus. Doch aus beruflichen Gründen können sie es nun auch nicht mehr einrichten, erst im Juli werden sie es wohl wieder schaffen, zumindest für ein paar Tage

Ismail Yozagt nimmt die Erklärung hin – nicht an. "Bei mir hat er sich nicht entschuldigt", sagt er. Er war ja nicht da. Er weiß nicht, wie er darauf reagieren soll, kann dafür kein Gefühl entwickeln. Carsten S. fiel es schwer, Worte zu finden, nun findet auch Ismail Yozgat keine.

Dabei sein, mit eigenen Ohren hören

Wenn es um seine politische Einstellung ging, konnte er sich plötzlich nicht mehr erinnern

Gamze Kubasik ist froh, dass Carsten S. sich nicht entschuldigt hat. Eine Entschuldigung hätte sie nicht annehmen können, sagt sie. "So etwas kann man nicht entschuldigen." So etwas, das ist der Tod ihres Vaters, den sie als 20-Jährige erlebte. Mehmet Kubasik wurde 2006 in Dortmund von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos ermordet.

Nachdem sie heute von Carsten S. Erklärung erfahren habe, sagt Gamze Kubasik, habe sich ein ganz "absurdes Gefühl" eingestellt. Sie kann es nicht richtig beschreiben, es sei eigenartig. Fast wie eine Spaltung in ihrem eigenen Kopf, in ihrem Herzen: "Dieser Mann ist für den Tod meines Vaters mitverantwortlich – aber er tut mir leid."

Gamze Kubasik hat Carsten S. am ersten Tag seiner Befragung erlebt, hat gehört, wie er sich gewunden hat unter den Fragen. "Wenn es um seine politische Einstellung ging, konnte er sich plötzlich nicht mehr erinnern", sagt sie. Es hat sie geärgert, dass er nicht einfach gesagt hat: Ja, ich habe damals Ausländer gehasst. Das habe sie nicht verstanden. Aber sie habe erkannt, eigentlich ist der Helfer der Mörder ihres Vaters ein armseliger Charakter.

Und so zeigt sie fast so etwas wie Mitgefühl dafür, dass er sich mit seiner Schuld so quält – er sei in seinen Erinnerungen in seinen Taten gefangen, so empfindet sie es.

Unerträgliche Aussage

Es ist schlimm für mich, nicht zu hören, was ich mit eigenen Ohren hören will

Die anderen sechs Tage, an denen Carsten S. befragt wurde, wären unerträglich für sie geworden. Gamze Kubasik und ihre Mutter entschieden sich noch vorher, erst einmal nicht mehr nach München zu kommen. Wenn der Tatort Dortmund verhandelt wird, werden sie wieder da sein. Sie wollen zeigen, dass sie Aufklärung wollen.

Genau deshalb habe sie kurz gezuckt, zu Hause, als Carsten S. das mit der Taschenlampe erzählt hat. Die Taschenlampe – das ist war ein bisher unbeachteter Rohrbombenanschlag in Nürnberg, der eventuell auch auf das Konto des NSU geht – Carsten S. hatte darauf erstmalig im Gerichtssaal Hinweise gegeben. "Wenn etwas Neues passiert", sagt Gamze Kubasik, "will ich natürlich dabei sein." So geht es auch Abdullah Özkan. Drei Verhandlungswochen lang ist er aus Köln nach München gereist. So lange, bis sein Stundenkonto hoffnungslos im Minus war. Dann konnte es sich der Elektriker nicht mehr leisten, zum Prozess zu kommen. Seine Urlaubstage sind aufgebraucht.

Der Anschlag in der Keupstraße

Abdullah Özkan war im Friseursalon in der Kölner Keupstraße, als am 9. Juni 2004 die Nagelbombe vor der Tür explodierte. Özkan wurde schwer verletzt, ebenso wie sein bester Freund Attila Özer. Sie sind in den ersten Wochen gemeinsam in München gewesen. Nun leidet der 39-Jährige sehr darunter, dass der Prozess läuft, während er arbeiten muss: "Es ist schlimm für mich, nicht zu hören, was ich mit eigenen Ohren hören will", sagt er. Was er hören will? Alles. Alles, sagt er noch einmal und betont fast jeden Buchstaben einzeln. Selbst wenn nur "um den heißen Brei herum geredet wird", wie Özkan es nennt, wenn im Gerichtssaal Anträge gestellt werden und Carsten S. sich nicht mehr zu erinnern meint, selbst dann will er lieber dort sein, als in Köln.

Die Worte von Carsten S., die sich auch an ihn gerichtet haben, hat er auf der Onlineseite der "Bild"-Zeitung gelesen. "Man kann sich zwar entschuldigen, aber das bringt nichts", sagt Özkan. "Ich kann damit nichts anfangen und die Toten kommen dadurch nicht zurück." Carsten S. hätte es wissen müssen, sagt er: "Der wusste genau was er tat."

Hoffnung auf eine umfassende Aussage

Özkan hofft, dass Carsten S. noch mehr sagen wird. Wenn der Angeklagte auspackt, wenn er dem Gericht wirklich hilft, aufzuklären, so Özkan - dann soll er sich nochmals zu Wort melden. Dann würde er die Entschuldigung annehmen. Wenn dann nur alle im Gerichtssaal sitzen.

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