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Nothelferin Birgit Zeitler: "Birma? Da muss ich wohl hin"

Kaschmir, Haiti, Sri Lanka - wann immer Menschen Opfer von Naturgewalten oder Krieg werden, Birgit Zeitler macht sich auf den Weg. Zuletzt nach Birma. Von einem Tag auf den anderen wird aus der Mutter einer vierjährigen Tochter eine Nothelferin im Krisengebiet.

Als Birgit Zeitler die Bilder der Zerstörung im Fernsehen sah, dachte sie gleich: "Na, da muss ich wohl hin." So war es 2005 beim Erdbeben in Kaschmir, so war es 2004 beim Tsunami in Südostasien, der sie mitten im Umzug erwischte.

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Und so war es jetzt. Birma also. Sie hatte Urlaub genommen, um den 70. Geburtstag ihres Vaters vorzubereiten. Ein großes Fest. Als Dankeschön, weil ihre Eltern ihre Tochter Chiara, 4, immer zu sich nehmen, wenn sie los muss, oft von einem Tag auf den anderen. Birgit Zeitler, 42, ist Projektleiterin "Nothilfe" bei der Welthungerhilfe, und Katastrophen lassen sich nicht planen.

Sie ist eine Frau ohne Schnörkel. Jeans, T-Shirt, fertig. Das dunkelblonde Haar oft zum Zopf gebunden. Sie wohnt mit ihrem Freund Harry und der gemeinsamen Tochter in Leimen. In zwei Tagen wird sie nach Birma abreisen, dort wird die Zahl der Toten inzwischen auf 34 000 geschätzt.

Doch jetzt sitzt Birgit Zeitler im Cafe und entwirft eine Sitzordnung, 80 Gäste werden zum Geburtstag ihres Vaters erwartet. Sie erzählt von einer kleinen privaten Katastrophe: Die Waschmaschine ist kaputt. Der Heizstab hat sich durch die Trommel gebohrt. Das klingt banal, aber gewaschen werden muss auch vor einer Reise ins Krisengebiet. Und viel Zeit ist nicht mehr.

Am Tag darauf stehen Zelte im Garten, Tische, Bänke. Josef Zeitler, ein gemütlicher Mann, geht jedem Gratulant en ein paar Schritte entgegen. Sein Sohn serviert Weizenbier und Weißwurst, seine Tochter hilft der Mutter bei den Schnittchen. Die Angst um die Tochter ignorieren die Eltern. "Wenn ich anfangen würde, darüber nachzudenken, was Birgit bei ihren Einsätzen erlebt, könnte ich nicht mehr schlafen", sagt die Mutter.

Bald ist der Garten voller Gäste. "Hab gehört, du fährst wieder los. Was kommt da auf dich zu?", fragen die Verwandten, die schrecklichen Bilder aus dem Fernsehen im Kopf. "Das Übliche", sagt Birgit Zeitler ohne sichtbare Emotion. Im Jargon der Nothelfer heißt das: schnell Strukturen aufbauen, die Erstversorgung sichern, die ersten Schritte zum Wiederaufbau einleiten. Dann verschwindet sie kurz nach Hause, um zu gucken, ob das Visum für Birma endlich in der Post ist. Es ist da. Sie kocht sich einen Tee. Raucht eine Zigarette. Informiert die Zentrale der Welthungerhilfe. Und geht zurück zu ihren Eltern, um zu feiern. "Solange ich hier bin, bin ich hier", sagt sie. "Die Bilder von der Katastrophe müssen in der Schublade bleiben."
 

Das Packen am nächsten Morgen dauert 20 Minuten. Hosen, Hemden, Haargummis. Gründlich prüft sie die Reiseapotheke. Ein Mittel gegen Durchfall fehlt noch. Sie besorgt Dollars, kauft Krimis für den Notfall. Je dicker, desto besser. Und möglichst spannend, etwas wie "Knochenlese'' von Kathy Reichs, wo in Guatemala zwanzig Jahre nach einem Massaker eine Menschenrechtsorganisation versucht, die brutalen Verbrechen aufzuklären. "Lesen", sagt sie, "ist mein Ausweg aus der Krise." Die Kollegen kennen das: Wenn Birgit ihr Buch holt, dann braucht sie Abstand.

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Gegen Mittag holt sie Chiara im Kindergarten ab. Die schaukelt und tut so, als sei es ihr egal, dass die Mutter nachher verreist. Natürlich hat sie es längst mitbekommen, seit ein paar Tagen schiebt sie zwei rosa Spielzeugkoffer mit sich herum und drängelt, dass die Mutter, wenn sie schon wegmüsse, doch bitte nach Kenia fahren solle - die Mitbringsel von dort waren so schön. Aber jetzt ist sie ganz ins Spiel versunken. Die Mutter sieht ihr zu, und ihr Blick ist zärtlich. "Komm", sagt sie dann, "bei der Omi gibt es Kuchen."

Erdbeertorte. Donauwelle. Dazu diskutiert die Familie Lokales: Der Betreiber vom Freibad ist pleite. Chiara spielt mit den Nachbarskindern. Um 16 Uhr blickt Birgit auf die Uhr, in vier Stunden geht der Flieger. Chiara kommt angerannt. "Die haben mich geärgert." - "Übernimmst du?", fragt Birgit ihre Mutter. Trudl Zeitler fasst ihre Enkelin an die Hand und geht den Streit schlichten. Von nun an wird sie, bis Birgit zurückkommt, für das Kind zuständig sein. "Ich weiß, dass Chiara hier gut versorgt ist", sagt Birgit Zeitler, "und dass ich kein schlechtes Gewissen haben muss."

Harry fährt sie nach Frankfurt, eineinhalb Stunden, wenn kein Stau ist. In den 22 Jahren ihrer Beziehung ist das immer so gewesen. Wie oft, weiß er nicht. Sie zählen nur die Länder: 18 waren es, seit sie nach einer landwirtschaftlichen Lehre mit dem Studium angefangen hat. Seit sie 1996 zum Nothilfe-Team der Welthungerhilfe kam, sind alle Krisenherde vertreten. Normalerweise, sagt Harry, habe er keine Angst um seine Freundin. Die würde schon gut auf sich achten.

Nur als es nach den Präsidentschaftswahlen in Kenia im Dezember 2007 zu Unruhen kam, da habe er erstmals gezittert. Aber Birgits Kommen und Gehen gehört zu ihrem gemeinsamen Leben. Am Terminal hält er, sie springt aus dem Wagen. Während er einen Parkplatz sucht, checkt sie das Gepäck ein. Dann setzen sie sich, trinken einen Kaffee. Er Cappuccino, sie Latte macchiato. Das ist ihr kleines privates Ritual. Kurz kommt ein Mann an ihren Tisch. Er überreicht Birgit Zeitler einen Umschlag, darin sind 50 000 Euro.

Ankunft in Rangun, 20 Stunden später. Birgit Zeitler mustert die Menschen am Gepäckband. Vier Helfer vom französischen Roten Kreuz sind mit der gleichen Maschine gelandet, sie tragen dicke, leuchtend rote Westen. Und ein paar Europäer, die gut Journalisten sein könnten. Endlich kommt ihre Tasche. Sie steuert auf den Zoll zu. Jeans, T-Shirt, Schlappen an den Füßen. Eine Touristin, so steht es im Visum. Die Beamten winken sie durch.

Hinter der Sperre steht eine kleine Frau: Heike Schweinbenz, die für die Welthungerhilfe in Rangun die Finanzen regelt. "Und?", fragt sie, "hast du was mit ?" Birgit Zeitler grinst. "Was denkst du denn!", sagt sie, als wäre es selbstverständlich, einen Umschlag mit 50 000 Euro im Handgepäck zu transportieren. Normalerweise werden die Hilfsgelder überwiesen. Aber Birma wird von einer brutalen Militärjunta regiert, der man zutraut, dass sie die Konten der Hilfsorganisationen sperrt. Birgit Zeitler hat den Gedanken verdrängt, sie könne mit dem Geld an der Grenze erwischt werden. Schließlich hatte sie keine Wahl, und sie ist daran gewöhnt, die Dinge so zu nehmen, wie sie nun mal sind.

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Am Straßenrand liegen noch umgefallene Bäume. Aber der Verkehr fließt schon wieder, die Wege sind beleuchtet. Golden leuchtet die Shwedagon-Pagode in der Nacht. Sie fahren ins Hotel, ein Betonbau mit üppigen Teak-Ornamenten an den Wänden, nicht weit vom Büro, günstig und ziemlich leer. Taschen ins Zimmer. Dann schnell das erste Curry in einem kleinen Lokal in der Nähe. Im Restaurant ist es laut. Männer übertrumpfen sich, Jungs in schwarzen Hemden fahren in viel zu dicken Autos vor, Mädchen auf Pfennigabsätzen stöckeln auf die Veranda. Die Kinder der lokalen Oberschicht sind bei ihrem Wochenendvergnügen. In einer Ecke flimmert CNN: Inzwischen gibt es 78 000 Tote.

"Normalerweise würde ich jetzt ins Katastrophengebiet fahren", sagt Birgit Zeitler am ersten Morgen im Lande. Sie würde, wie damals in Ruanda, im Irak, Haiti, in Kaschmir, Sri Lanka oder Somalia, in die betroffenen Gebiete fahren und versuchen, schnell zu erfassen, was passiert ist, was benötigt wird und ob noch Straßen existieren, um die Hilfe zu den Menschen zu bringen. "Aber Pustekuchen, das geht nicht, Ausländer dürfen die Stadt nicht verlassen." Also geht sie ins Büro, das in einer graurosa Kolonialstilvilla untergebracht ist. Angela Schwarz kommt dazu, die Koordinatorin vor Ort, und Rüdiger Ehrler, ihr Nothilfe-Kollege. Birgit Zeitler ist diesmal die Dritte im Bunde, als Nachzüglerin soll sie unterstützen, nicht leiten.
 

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Die Erstversorgung steht: Es gibt Lagerhallen, Lebensmittel, sogar Fässer mit Diesel. Täglich fahren Lastwagen ins Krisengebiet, vier Stunden über Asphalt, dann zwei durch Matsch und Schotter. 15 Welthungerhilfe-Leute arbeiten im Irrawaddy-Delta. Als klar war, dass die eingeflogenen Nothilfe-Teams nicht aus der Stadt herauskommen, wurden einheimische Mitarbeiter entsandt. Eine List. Die Regierung hat das geduldet.

Birgit Zeitler lässt sich erklären, hakt nach. Plötzlich steht eine Frage im Raum: "Und wie läuft das mit der Verteilung?" Schweigen. So genau weiß das niemand. Es ist schon einige Tage kein Mitarbeiter aus dem Delta in die Stadt zurückgekommen. Sie kann nur zugucken, wie in Rangun die Säcke auf Lkws geladen werden. Aber was dann passiert , bleibt unklar. Birgit Zeitler fühlt sich, als säße sie hinter Absperrgittern.

Nur einmal kommt ein Anruf aus dem Delta, die neuesten Zahlen. ,"14 Dörfer sind versorgt!" Die Liste des Erfolgs klingt so: 1802 Haushalte, 7823 Menschen, 356 Säcke Reis, 2994 Flaschen Öl , 704 Kilo Erbsen, 38 Sack Salz, 3630 Yard Tischtuch, 705 Wasserkanister, 76 Eimer, 7260 Yard Nylonschnur. Die Helfer kommen mit Schubkarren, wo sie mit Schwertransportern kommen müssten; 2,5 Millionen Menschen im Irrawaddy-Delra brauchen Unterstützung.

Normalerweise stünde in diesen Tagen das Telefon nicht still. Die Mitarbeiter aus dem Katastrophengebiet würden anrufen, wir brauchen dies, wir brauchen das, bitte, schnell. Aber das Telefon schweigt. Das Einzige, was Birgit Zeitler und Rüdiger Ehrler jetzt tun können, ist Anträge schreiben. Ans Auswärtige Amt, die EU, die UN. Sie versuchen sich vorzustellen, was die Entwurzelten brauchen. Pumpen, um ihre Wasserreservoirs zu reinigen. Seife für die Hygiene. Werkzeug, um neue Häuser zu bauen. Aber bauen sie mit Wellblech oder mit Bambus? Als nach dem Erdbeben in Kaschmir alle Zelte liefern wollten, war es Birgit Zeitler, die rief: Halt, nein, die Menschen haben Vieh, die brauchen festere Gebäude!
 

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Jetzt muss sie die Erfahrungen, die sie anderswo gemacht hat, nutzen, um die Situation der Menschen in Birma im Kopf zu erfassen, auch wenn viele Informationen fehlen. In der Katastrophe gibt es keine optimalen Bedingungen. Man muss aus den Bedingungen, die man vorfindet, das Optimale machen. In diesem Fall heißt das: dafür zu sorgen, dass Geld für Hilfsgüter da ist. Erst wenn alle Anträge geschrieben sind, fließen die Mittel. Erst dann wird den Menschen geholfen. Und da draußen entscheiden ein paar Stunden über Leben und Tod.

Birgit Zeitler wirkt ruhig, professionell, hoch motiviert. Aber innerlich kocht sie. Was soll das, sie vom eigentlichen Gebiet der Katastrophe fernzuhalten? Was denken sich diese Generäle? In der Stadt macht das Gerücht die Runde, ein Reporter habe sich in einer Kiste versteckt und sei jetzt, als Hilfsgut getarnt, auf dem Weg ins Delta. Birgit Zeitler grinst. Ja, das könnte ihr passen. Aber der Schalk ist schnell verflogen, die Vernünftige meldet sich zu Wort. Sechs Jahre hat es gedauert, die Welthungerhilfe in Birma aufzubauen. Soll man das riskieren? Später gibt es neue Gerüchte. Zwei Männer wollten Reporter ins Delta schmuggeln, es heißt, sie seien erschossen worden.

Besonnenheit rettet Leben. Zu viele Emotionen behindern die Arbeit. Deshalb ist Birgit Zeitler auch nicht erleichtert, dass ihr der Anblick des Elends, die Wasserleichen und die Verzweiflung der Leute erspart bleibt. Es ist ein Ärgernis, weil es ihr die realistische Einschätzung der Situation erschwert . "Das Elend belastet mich seelisch nicht", sagt Zeitler, "das klingt hart , aber ich habe keine Zeit, mich belasten zu lassen." Sie erklärt ihre zwei Seiten. Die eine, die handelt, und die andere, die mitfühlt. Die muss zurückstehen. Sonst kommt sie der handelnden in die Quere. Es gab schon Mitarbeiter, die nach Hause fahren mussten, weil ihre Gefühle ihnen die Sicht aufs Wesentliche versperrten.

Dann setzt der Monsunregen ein, so heftig, dass die Tropfen auf der Veranda kniehoch hüpfen. Der Garten der Kolonialstilvilla wird zum Sumpf. Birgit Zeitler sitzt an ihrem Schreibtisch. Das Licht flackert. Stromausfall. Der Rechner hängt am Akku. Vom Bildschirm lacht ihr eine dünne Vierjährige entgegen, das Foto ihrer Tochter. Sie lächelt kurz, dann klickt sie das Foto weg und öffnet den Antrag an das Büro für Humanitäre Hilfe der Europäischen Kommission. Wenn sie in ein paar Wochen zurück nach Frankfurt fliegt, werden Harry und Chiara sie vom Flughafen abholen. Aber solange sie hier ist, ist sie hier.

BRIGITTE 14/08 Text: Cornelia Gerlach Fotos: Cordula Kropke

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