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Natascha Kampusch: "Was mir passiert ist, geht nur mich etwas an"

Diesen Satz hat Natascha Kampusch Anfang 2009 in unserem Interview gesagt. Jetzt hat sie ihre Geschichte doch öffentlich gemacht. "3096 Tage" heißt ihre morgen erscheinende Biografie - nach den 3096 Tagen, die Natascha Kampusch in der Gewalt ihres Entführers Wolfgang Priklopil war. Lesen Sie hier noch einmal das Interview mit Natascha Kampusch von 2009.

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Die Österreicherin Natascha Kampusch war zehn Jahre alt, als sie 1998 in Wien entführt wurde; mehr als acht Jahre lang war sie in der Gewalt ihres Entführers. Am 23. August 2006 befreite sie sich selbst, der Entführer stürzte sich auf der Flucht vor eine S-Bahn und starb. Ihr Fall löste ein weltweites Medienecho aus. Indem sie kurz nach ihrer Befreiung nur drei sehr gezielt vereinbarte Interviews gab, versuchte Kampusch, sich dem Druck der Boulevardpresse zu entziehen.

BRIGITTE: Frau Kampusch, Sie sind nicht nur Ihrem Entführer entkommen, sondern halten auch die Boulevardjournalisten in Schach, die Ihnen seit der Flucht nachstellen. Wie machen Sie das?

Natascha Kampusch: Die entscheidende Frage ist: Wie überlebt man überhaupt einen solchen Einschnitt, wie ich ihn im Leben erlitten habe? Überlebt man als gebrochener Mensch? Als Mensch, der von den Medien gegängelt, gequält und letztlich im Stich gelassen wird? Oder überlebt man als souveränes Individuum, das es wie ich geschafft hat, sich von den Medien nicht vereinnahmen zu lassen? Meine Strategie habe ich mir, natürlich gemeinsam mit Beratern, größtenteils autonom zurechtgelegt. Es entspricht meiner Natur, immer nach Unabhängigkeit zu streben.

BRIGITTE: Nach Ihrer Flucht aus der Gefangenschaft haben Sie einen offenen Brief für die Presse verfasst, um das Interesse der Journalisten einzudämmen. Darin schrieben Sie, dass Sie keinerlei Fragen über intime oder persönliche Details beantworten werden. Trotzdem gaben Sie kurz darauf dem österreichischen Fernsehen und ausgerechnet zwei Boulevardblättern ein Interview. Warum haben Sie das getan?

Natascha Kampusch: Ich wollte bis zu einem gewissen Grad für Aufklärung sorgen, damit keine Gerüchte aufkommen und keine Horrorgeschichten über mich in die Welt gesetzt werden können. Zu mehr war und bin ich nicht bereit.

BRIGITTE: Bis heute ist aber das Interesse der Medien nicht abgekühlt: Jeder will wissen, was während Ihrer Gefangenschaft passiert ist. Die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" reagierte sogar mit einem offenen Brief an Sie, in dem unter anderem stand: "Sie wollen wissen, warum wir so sind? Warum wir Sie einfach nicht in Ruhe lassen können, Ihnen Zeit geben, bis Sie die Kraft haben, Ihre Geschichte zu erzählen? Die raffinierte Antwort lautet: Wir glauben, dass die Öffentlichkeit ein Recht darauf hat, Ihre Geschichte zu erfahren - ob Sie das wollen oder nicht." Können Sie das denn verstehen?

Natascha Kampusch: Nein, das kann ich nicht verstehen. Ich empfinde es als Eingriff in meine persönliche Freiheit, wenn mich die Medien in diesem Ausmaß belagern. Stellen Sie sich vor, ein Mann verliebt sich in Sie, von dem Sie aber nichts wollen. Er lässt nicht locker, verfolgt Sie auf Schritt und Tritt, bedroht Sie, falls Sie nicht auf seine Wünsche eingehen. Sie würden sich belästigt fühlen und eventuell sogar die Polizei rufen, um ihn loszuwerden. Genauso geht es mir mit den Medien. Sie schmeicheln und sie drohen mir, sie überhöhen und sie erniedrigen mich. Das geht so weit, dass ich mir selbst manchmal fremd vorkomme, weil mein Selbstbild und das Bild, das die Medien von mir zeichnen, so wenig miteinander zu tun haben.

BRIGITTE: Ihnen tritt also eine Figur Natascha Kampusch entgegen, die es so gar nicht gibt?

Natascha Kampusch: So ist es. Viele Berichte über mich sind bar jeder Substanz. Wenn ich unerkannt unterwegs bin und etwa mithöre, wie die Menschen mich wahrnehmen, erkenne ich mich nicht wieder.

BRIGITTE: Sie werden in jüngster Zeit immer häufiger von Boulevardjournalisten angegriffen. Haben Sie die Zügel da denn überhaupt noch in der Hand?

Natascha Kampusch: Ich habe, um in diesem Bild zu bleiben, die Zügel bewusst losgelassen. Die wilden Boulevardjournalisten können also losgaloppieren und meinetwegen in den nächsten Graben stürzen.

BRIGITTE: Ist es Ihnen mittlerweile egal, was über Sie geschrieben wird?

Natascha Kampusch: Nein, das ist es nicht, aber ich habe erkannt, dass einige Medien kein großes Interesse am Wahrheitsgehalt ihrer Geschichten haben. Anfangs dachte ich noch, dass es eine gewisse Logik in der Berichterstattung gibt und dass ich darauf durch klare Aussagen Einfluss nehmen kann. Mittlerweile bin ich desillusioniert, denn mir ist klar geworden, dass es diese Logik nicht gibt. Sollten die Medien allerdings etwas Anstößiges oder Skandalöses konstruieren, werde ich mich mit juristischen Mitteln dagegen wehren.

BRIGITTE: Sie haben gegen die österreichische Zeitschrift "Heute" geklagt, weil sie ein Paparazzo-Foto druckte, das Sie bei einer angeblichen Schmuserei in einer Diskothek zeigt. In erster Instanz haben Sie gewonnen, in zweiter Instanz stellte das Oberlandesgericht Wien fest, Sie seien eine Person des öffentlichen Interesses und müssten Eingriffe in Ihr Intimleben dulden.

Natascha Kampusch: Das Urteil finde ich skandalös. Ich sehe mich nicht als Person des öffentlichen Lebens wie etwa eine Politikerin, wobei selbst die ein Recht auf Privatsphäre haben sollte. Was mir passiert ist, geht im Großen und Ganzen auch nur mich etwas an. Meiner Ansicht nach habe ich den Durst der Öffentlichkeit durch drei Interviews schon ausreichend gestillt. Nachdem ich damals in der Disco gegen meinen Willen fotografiert worden war, meldeten sich Journalisten und sagten, die Fotos würden verschwinden, wenn ich ein Exklusivinterview zum Jahrestag meiner Entführung gäbe. Ich ging natürlich nicht darauf ein. Meinem Verständnis nach sollte es im öffentlichen Raum einen höchstpersönlichen Lebensbereich geben, der, wenn es nicht anders möglich ist, von den Gerichten geschützt wird.

BRIGITTE: Ihnen ist aber schon bewusst, warum die Menschen und damit die Medien von Ihrer Geschichte fasziniert sind?

Natascha Kampusch: Natürlich ist mir das bewusst. Aber dabei geht es nicht um mich als Mensch, sondern lediglich um die Kunstfigur Natascha Kampusch, die mit etwas möglichst Skandalösem in Verbindung gebracht werden soll, um die Auflagen und Einschaltquoten nach oben zu treiben. Warum sollte ich da mitspielen?

BRIGITTE: Achten Sie jetzt auf Schritt und Tritt darauf, ob ein Paparazzo an der nächsten Ecke steht?

Natascha Kampusch: Nein, denn außer einer Laufmasche wäre bei mir wohl nichts Auffälliges zu entdecken.

BRIGITTE: Bereuen Sie es denn heute, überhaupt Interviews gegeben zu haben? Vielleicht hätten Sie ohne diesen Schritt ein so ruhiges Leben wie die Opfer des Inzestfalls von Amstetten, die bis heute schweigen.

Natascha Kampusch: Ich bereue meine Interviews nicht, denn ich wollte mich nicht weiter isolieren oder von irgendjemand in den Untergrund drängen lassen. Im Fall Amstetten akzeptieren die Opfer eine neuerliche Isolation von der Außenwelt.

BRIGITTE: Haben Sie mit ihnen Kontakt aufgenommen?

Natascha Kampusch: Ich habe ihnen meine Hilfe angeboten, bisher ist es jedoch bei einer finanziellen Unterstützung geblieben. Wenn sie auf mein Gesprächsangebot nicht zurückgreifen, respektiere ich das. Ich möchte auf keinen Fall überheblich auftreten oder mich aufdrängen, weil ich - auch wenn ich selbst gefangen gehalten wurde - nicht wirklich verstehen kann, was ihnen geschehen ist.

Das Buch zum Thema

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Unser Interview mit Natascha Kampusch ist ein gekürzter Auszug aus dem Buch "Skandal! Die Macht öffentlicher Empörung", das im Februar 2009 erschienen ist. In 29 aufschlussreichen und spannenden Interviews, geführt von Studierenden des Instituts für Journalistik und Kommunikationswissenschaft der Universität Hamburg, erzählen Prominente, die Skandale und Empörung verursacht oder miterlebt haben: Günter Wallraff, Gabriele Pauli, Desirée Nick, der Radrennfahrer Patrik Sinkewitz, RAF-Terrorist Peter-Jürgen Boock u.a.

Foto:dpa Interview: Friederike Meister und Silvia Worm Ein Artikel aus der BRIGITTE 05/09

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