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Forensische Psychiaterin Nahlah Saimeh "Bei solchen Verfahren kann es passieren, dass erfahrene Polizeibeamte in Tränen ausbrechen"

Nahlah Saimeh
Nahlah Saimeh
© Tristar Media / Getty Images
Nahlah Saimeh ist die bekannteste forensische Psychiaterin Deutschlands. Ihr gegenüber sitzen Menschen, die anderen Grauenvolles angetan haben. Wie hält sie das aus?

Auf dem Ledersessel hockt ein ausgestopfter Hase, auf dem Schreibtisch steht eine weiß getünchte Skulptur: ein Hund, der sich an einen Totenschädel schmiegt. Dahinter thront die Zeichnung eines Skeletts, das ein menschliches Gehirn im Einmachglas umklammert. "Nicht so niedlich", sagt Nahlah Saimeh und streichelt dem Hasen über die Löffel.

Wer das Büro der promovierten Psychiaterin betritt, dem zeigt schon ihre Auswahl an Kunstwerken, mit welchen Themen die 57-Jährige sich intensiv beschäftigt: Vergänglichkeit, Tod, Menschsein, dem Wert des Lebens. Nahlah Saimeh sieht ihre Besucherin an, direkt, offen, irgendwie eindringlich. Mustert sie mit diesem Blick auch die Menschen, die sie hinsichtlich ihrer Gefährlichkeit begutachtet?

BRIGITTE WOMAN: Frau Saimeh, Sie beschäftigen sich permanent mit Themen, mit denen die meisten von uns nichts zu tun haben möchten: Vergewaltigung, Kindstötung, Mord, sogar Kannibalismus. Wie kommt man zu so einem Beruf?

NAHLAH SAIMEH: Es fällt mir leicht, klar, nüchtern und unparteiisch zu sein, auch bei schwierigen Inhalten. Das ist eine Grundvoraussetzung für diesen Beruf und passt zu meiner Persönlichkeit. Das wusste ich allerdings nicht schon zu Beginn meiner medizinischen Ausbildung. Eigentlich wollte ich seit meiner Kindheit Chirurgin werden. Schon in den ersten Semestern des Medizinstudiums habe ich allerdings bemerkt, dass ich handwerklich wirklich furchtbar ungeschickt bin. Ich musste mir dann irgendwann eingestehen, dass ich das Berufsfeld der Chirurgie zwar fantastisch finde, aber ich dazu leider absolut kein Talent habe. Das hat mich damals in eine tiefe Krise gestürzt.

Nahlah Saimeh, geboren 1966 als Tochter eines Jordaniers und einer Deutschen, wuchs in Münster/Westfalen bei ihrer Mutter auf. Nach dem Abitur studierte sie Medizin und machte ihren Facharzt in Psychiatrie. Sie leitete 18 Jahre lang Kliniken für forensische Psychiatrie, darunter über 13 Jahre als Ärztliche Direktorin einer der größten hoch gesicherten forensischen Kliniken Deutschlands. Als Gutachterin hat sie sich insbesondere auf schwere Gewalt- und Sexualdelikte spezialisiert und befasst sich mit Fragen der Schuldfähigkeitsbeurteilung und Gefährlichkeitsprognose, wie in dem aufsehenerregenden Fall um das "Horror-Haus Höxter", wo ein Ehepaar über Jahre mehrere Frauen schwer misshandelte. Saimeh hat zahlreiche Bücher veröffentlicht und einen Podcast "Psychologie des Verbrechens", in dem sie über die psychologischen Muster von Täter:innen aufklärt. Sie war verheiratet mit dem Künstler Ingolf Timpner, ihr Mann ist 2018 verstorben. Seit 2019 ist sie selbst auch als Künstlerin unter dem Namen Ingnahl Magadan tätig.
Nahlah Saimeh, geboren 1966 als Tochter eines Jordaniers und einer Deutschen, wuchs in Münster/Westfalen bei ihrer Mutter auf. Nach dem Abitur studierte sie Medizin und machte ihren Facharzt in Psychiatrie. Sie leitete 18 Jahre lang Kliniken für forensische Psychiatrie, darunter über 13 Jahre als Ärztliche Direktorin einer der größten hoch gesicherten forensischen Kliniken Deutschlands. Als Gutachterin hat sie sich insbesondere auf schwere Gewalt- und Sexualdelikte spezialisiert und befasst sich mit Fragen der Schuldfähigkeitsbeurteilung und Gefährlichkeitsprognose, wie in dem aufsehenerregenden Fall um das "Horror-Haus Höxter", wo ein Ehepaar über Jahre mehrere Frauen schwer misshandelte. Saimeh hat zahlreiche Bücher veröffentlicht und einen Podcast "Psychologie des Verbrechens", in dem sie über die psychologischen Muster von Täter:innen aufklärt. Sie war verheiratet mit dem Künstler Ingolf Timpner, ihr Mann ist 2018 verstorben. Seit 2019 ist sie selbst auch als Künstlerin unter dem Namen Ingnahl Magadan tätig.
© Tristar Media / Getty Images

War die Psychiatrie-Ausbildung also eine Notlösung?

Ich wusste nicht, wie gut das zu mir passt, bis ich in einem höheren Semester die Pflichtvorlesung Psychiatrie besuchen musste. Zu dem Zeitpunkt hatte ich null Interesse an Psychiatrie. Ich hatte auch jede Menge dumme Vorurteile. Im Grunde habe ich gedacht, dass alle Psychiater selbst einen Dachschaden haben und dass es denen irgendwie gelungen ist, aus ihrem Verrücktsein eine ökonomische Nische zu machen. Ich bin dann mit äußerster Vorsicht in diese Vorlesung gegangen, habe mich sehr weit hinten in den Hörsaal gesetzt, in die Nähe des Ausgangs. Ich dachte, wenn da irgendein Spinner reinkommt, dann kannst du schnell aus dem Hörsaal raus.

Was uns zu Menschen macht, ist im Grunde die Psyche.

Das haben Sie offensichtlich nicht gemacht. Was hat Ihre Meinung geändert?

Der Dozent des Kurses brachte einen jungen Studenten mit, der eine akute schizophrene Psychose hatte. Ich hatte nie zuvor jemanden so wirr reden hören. Sein Denken war völlig zerfahren, er machte lange Sprechpausen, die nicht erklärbar waren. Eine Grammatik war nicht mehr existent. Es gab dann noch einen sehr poetischen Moment. Der erkrankte Student wurde gefragt, welche Sprachen er gerne noch lernen wolle. Er antwortete ganz ernsthaft und überzeugt: "Karpfisch und Delfinisch." Ab dem Punkt war es komplett um mich geschehen, weil ich plötzlich begriffen habe, was die menschliche Psyche bewirkt und was passiert, wenn bestimmte Gehirnfunktionen nicht mehr mitspielen. Ich fand das so beeindruckend und auch so anrührend. Was uns zu Menschen macht, ist im Grunde die Psyche. Nach 90 Minuten Vorlesung, in die ich ja mit großer Hybris reingegangen bin, kam ich aus dem Hörsaal und wusste: Das ist mein Fach.

Sie haben jahrzehntelang mit Straftätern in Kliniken für forensische Psychiatrie gearbeitet. Sie sind also bestens vertraut mit der gesamten Bandbreite an psychischen Störungen und menschlicher Grausamkeit. Gibt es dennoch Fälle, bei denen Sie die Zusammenarbeit ablehnen?

Mir eilt der Ruf voraus, eher die Frau für die spezielleren Fälle zu sein. Das macht mir große Freude und erfüllt mich mit Dankbarkeit. Ich habe noch nie einen Gutachtenauftrag abgelehnt wegen der begangenen Delikte. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass ich das je tun werde. Ich bin Sachverständige geworden, weil ich Dinge betrachten kann. Ich glaube, mein Leben ist geprägt davon, dass ich ganz viel sehe, aber nicht auf direkte Art interveniere. Ich betrachte und beschreibe. Aber ich behandle nicht.

Wie geht es Ihnen, wenn Sie einem Mann wie dem "Kannibalen von Rotenburg" gegenübersitzen?

Auch bei einem Mann wie Herrn Meiwes ist es meine Aufgabe, den Menschen zu erfassen, und ich möchte das mit so viel Tiefe tun, wie es eben geht. Generell wird erst nach Kenntnisnahme der Akten und einer Risikoanalyse entschieden, ob Gespräche unter vier Augen möglich sind und unter welchen Rahmenbedingungen sie stattfinden. In meinen mehr als 22 Jahren Tätigkeit habe ich vielleicht acht Personen begutachtet, bei denen eine Trennscheibe zwischen der Person und mir oder ein Beamter mit im Raum war. In der Regel spreche ich völlig normal in einem Raum mit einem Menschen, der mir gegenübersitzt.

Sind Sie nicht manchmal angewidert oder empört angesichts der Verbrechen?

Mein Beruf ist, nicht zu verurteilen, das machen die Juristen. Aber natürlich habe ich einen inneren Maßstab, was eine mittelgroße und eine richtig große Schweinerei ist. Es ist schon ein Unterschied, ob ein Mann einem Jungen im Schwimmbad die Hose runterzieht oder ob jemand schwere sexuelle Misshandlungen an Kindern begeht. Ich will hier nicht ins Detail gehen, aber das kann ziemlich grenzenlos werden. Bei solchen Verfahren kann es passieren, dass selbst erfahrene Polizeibeamte in Tränen ausbrechen. Es gibt also Dinge, die ich abartig finde. Aber mein inneres Empfinden fließt nicht in mein professionelles Skript ein. Das kann ich und muss ich trennen. Ich rutsche nicht auf meiner eigenen Empörung aus.

Meine Arbeit ist ein Teil meines Menschseins.

Wie verarbeiten Sie das, was Sie bei solchen Fällen zu hören bekommen?

Besonders grausame Fälle vergisst man nicht. Aber ich empfinde das, was ich tue, nicht als belastend. Meine Arbeit ist ein Teil meines Menschseins. Genauso gut könnte man einen Fisch fragen, wie er sich von diesem ständigen Schwimmen erholt. Schwimmen ist seine Natur.

Wie hat Ihre Arbeit Ihre Sicht auf den Menschen geprägt?

Meine Arbeit hat mich im Laufe der Zeit demütig gemacht.

Können Sie das näher erklären?

Irgendwann habe ich mich gefragt, wer ich selbst mit meinen Charaktereigenschaften hätte werden können, wenn die Rahmenbedingungen meines Aufwachsens, die sozialen Faktoren und vor allem auch angeborene Eigenschaften andere gewesen wären. Wer wäre ich, wenn ich als Kind misshandelt worden wäre? Was wäre, wenn ich einen Hang zu Alkohol und Drogen entwickelt hätte und das zum Problem geworden wäre?

Wir alle sollten uns bewusst sein, dass jeder von uns ebenso gut ein anderer hätte sein können.

Wie sind Sie denn aufgewachsen?

Ich stamme nicht aus einem Akademikerhaushalt. Meine Mutter war alleinerziehend, und in den Siebzigerjahren waren Scheidungskinder deutlich seltener. Medizin habe ich nur studieren können, weil ich sehr gern zur Schule gegangen bin und fleißig war. Mein Glück war, dass ich von Natur aus genügend Antrieb hatte. Wir alle sollten uns bewusst sein, dass jeder von uns ebenso gut ein anderer hätte sein können. Im Umkehrschluss heißt das auch, dass eine Person, die ich begutachte, ebenso gut meinen Platz hätte einnehmen können, wenn die sozialen Einflüsse und Persönlichkeitseigenschaften anders gewesen wären.

Glauben Sie, dass in jedem Menschen Böses schlummert? Bringt jede und jeder theoretisch die Möglichkeit mit, ein Verbrechen zu begehen?

Wie wir uns als Person entwickeln, hängt vom Zusammenspiel einer unglaublichen Menge von Einflussfaktoren ab. Das eine sind in der Tat die Gene, weil sie gewissermaßen das Produktionsmuster für uns als körperlicher Mensch sind. Dazu kommen Milieu-Einflüsse während der Schwangerschaft: Es macht einen unglaublichen Unterschied, ob Sie während der Schwangerschaft regelmäßig mit Musik beschallt werden, die Ihre Eltern sehr mögen. Oder ob Sie aber in einem Mutterleib heranwachsen, der regelmäßig vermöbelt wird. Dann richten Sie sich als ungeborenes Kind schon auf eine ziemlich stressige Umwelt ein und werden mit ganz anderen Genaktivierungsmustern auf die Welt kommen.

Und abgesehen von den Genen?

Prägend sind auch die frühen Bindungserfahrungen, also wie viel Sicherheit, Geborgenheit, Zuwendung, Schutz erfahren Sie in der absolut vulnerabelsten Phase Ihres Lebens, nämlich als Neugeborenes? Dann kommen Erziehungsstile hinzu, Temperamentsfaktoren Ihrer Eltern, emotionale Muster, die Resonanz auf Sie, die kulturellen Einflüsse Ihrer Umgebung. Das alles bestimmt ein Stück weit, wie Sie sich später als Mensch durch Ihr Leben und die Gesellschaft bewegen.

Wenn ich genetisch bedingt psychopathische, also schwer gestörte Eigenschaften habe, werde ich dann unweigerlich straffällig?

Es ist nie so, dass Gene zu 100 Prozent etwas definieren, außer es geht um bestimmte medizinische Erkrankungen. Wenn Sie eine hohe Intelligenz haben, Durchhaltevermögen, Frustrationstoleranz, Lernwilligkeit, dann können Sie mit profunden psychopathischen Eigenschaften einen gesellschaftlich geachteten Weg gehen. Nicht umsonst finden sich gerade in sehr hohen Führungsetagen Menschen mit deutlich ausgeprägten psychopathischen Eigenschaften, die aber nicht anderweitig straffällig werden.

Die Frage nach dem Bösen in der Welt ist die Frage nach der Welt selbst.

Nach jedem schrecklichen Verbrechen taucht die Frage nach dem Warum auf. Wie kann jemand so etwas tun? Sind Sie der Antwort darauf im Laufe der Zeit näher gekommen?

Mich freut diese Verwunderung über Gewalttaten, weil sie für mich in allererster Linie ein Ausdruck des Umstandes ist, dass wir noch – und ich hoffe weiter – in einer verhältnismäßig friedlichen Zeit und Gesellschaft leben. Die Frage nach dem Warum für menschliche Zerstörungswut, Aggression und Destruktivität, also die Frage danach, warum es Böses gibt, ist letztlich keine Frage, die mit Wissenschaften vollständig und befriedigend zu erklären ist. Die Frage nach dem Bösen in der Welt ist die Frage nach der Welt selbst. Die forensische Psychiatrie hat da auch nur ihre winzig kleine Facette an Beschreibungen und Erklärungen beizutragen.

In Ihrem Buch "Das liebe Böse" bezeichnen Sie die Frage nach dem Warum als geschichtsvergessen.

Geschichtsvergessen finde ich die Ratlosigkeit, mit der die Frage oft gestellt wird, weil das Dritte Reich doch gezeigt hat, was ideologische Erzählweisen, geschickte Propaganda und das Erzeugen eines Gefühls von Ungerechtigkeit und Benachteiligung erzeugen können. Alle feindseligen Ideologien arbeiten mit denselben Prinzipien. Sie müssen andere Menschen dämonisieren, weil dann das Töten des Gegenübers leichter fällt. Sobald Sie im Gegenüber den Menschen sehen, der Sie selbst ja auch sind, lassen Sie das Gewehr sinken.

Kann ein psychisch kranker Straftäter geheilt werden, auch wenn seine Tat monströs erscheint?

In der Tat sind Kriminaltherapien so hochwirksam, dass viele Täter und Täterinnen ihren weiteren Lebensweg ohne erneute Rückfälligkeit gehen können. Es gibt aber auch Menschen, bei denen ich persönlich sehr eindeutig sage, dass ich überhaupt gar keine Perspektive sehe. Da muss man auch so ehrlich sein und entscheiden: Dieser Mensch wird in einer hoch gesicherten Institution sterben müssen. Das geht nicht anders.

Nahlah Saimeh: "Das liebe Böse. Warum wir gut sein wollen und nicht können", 128 S., 15 Euro, Fischer & Gann
Nahlah Saimeh: "Das liebe Böse. Warum wir gut sein wollen und nicht können", 128 S., 15 Euro, Fischer & Gann
© PR
Brigitte

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