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Wohin steuert Narendra Modi das neue Indien?

Wohin steuert Narendra Modi das neue Indien?
© Abidi/Reuters
Mit einer überraschend großen Mehrheit hat der wirtschaftsfreundliche Hindu-Nationalist Narendra Modi von der BJP die Wahlen in Indien gewonnen. Was bedeutet das für die größte Demokratie der Welt? Eine Analyse der indischen Journalistin Rajni George.

Bis Mitte Mai war es unmöglich, meine Miete zu zahlen, ohne jeden Monat aufs Neue in eine langwierige Diskussion zu geraten. Mein entzückender siebzigjähriger Vermieter ist für Modi - und ich, eine Autorin in den Dreißigern, bin es nicht. Er besteht darauf, dass er es besser weiß: Er hat die blutreichen Gräueltaten während der Aufteilung des ehemaligen Britisch-Indiens in die unabhängigen Staaten Pakistan und Indien miterlebt, musste in der Zeit vor Indiens Unabhängigkeit mit wenig auskommen. Meine Generation, sagt er, kann den hart erkämpften Fortschritt nicht wertschätzen.

Am 20. Mai 2014 wurde im "neuen Neu Delhi" ein neues Indien ausgerufen, während Indiens neuer Premierminister Narendra Modi weinend niederkniete, bevor er ins Parlament einzog. Das ganze Land ist in Aufruhr. Indien - an der Schwelle zu einer starken, aber durch Armut gelähmten Nation - hat noch nie eine so kontroverse Wahl gesehen. Und obwohl jeder die vagen Umrisse dessen gesehen hat, was kommen würde, haben die wenigsten mit einem solch klaren Ergebnis gerechnet. Unsere Nachrichten-gesättigten Gespräche sind zeitweise übergekocht. Mein Vermieter fühlt sich bestätigt.

Denn am 16. Mai 2014, 67 Jahre nach der Indiens Unabhängigkeit, hat die Bharatiya Janata Partei (BJP, "Indische Volkspartei") 272 der 543 Parlamentssitze und damit die absolute Mehrheit errungen - im einseitigsten Sieg unserer jungen Nation, der die herrschende Dynastie der Kongresspartei INC (Indian National Congress) umgestürzt hat. Die Partei um die Gandhi-Familie war seit unserem ersten Premierminister Jawaharlal Nehru die meiste Zeit an der Macht. Die Mehrheit der Inder wirft der Kongresspartei vor, ihre Macht als Selbstverständlichkeit angesehen zu haben, durch Nachlässigkeit und Korruption unsere Wirtschaft geschwächt und so sich selbst ins Wanken gebracht zu haben - obwohl die Koalition aus Kongresspartei und anderen mitte-links Parteien (UPA; United Progressive Alliance) sehr wohl für Wirtschaftswachstum gesorgt hat. Zusammen mit der Ende 2012 gegründeten Aam Aadmi Partei (AAP, "Partei des einfachen Mannes") musste die Kongresspartei nun die Macht an die BJP abgeben.

Hunderte Anhänger Modis feierten in den Straßen Neu Delhis den historischen Sieg der Bharatiya Janata Partei.
Hunderte Anhänger Modis feierten in den Straßen Neu Delhis den historischen Sieg der Bharatiya Janata Partei.
© Mukherjee/Reuters

Auch mangels einer besseren Alternative haben die Außenseiter der BJP die herrschende Elite aus der Hauptstadt zu Fall gebracht und sind auf einer "Modi-Welle" ins Parlament gerauscht. Eine zentrale Rolle spielt dabei das versprochene Wirtschaftswachstum, das die Partei durch gelockerte Handelskontrollen erreichen will. Die haben Modi zwar in seinem westindischen Heimat-Bundesstaat Gujarat tatsächlich geholfen, doch auf nationaler Ebene haben sie sich trotz des allmählichen Fortschritts für die Armen nicht als hilfreich erwiesen. Die BJP hat viele, strategisch wichtige Unterstützer - zum einen innerhalb der Geschäftswelt (die von den Zugeständnissen an die Wirtschaft profitieren wird), zum anderen innerhalb der ehrgeizigen und aufstrebenden jungen Generation.

551 Millionen (das sind mehr als die Bevölkerung der USA, Deutschlands, Kanadas und Großbritanniens zusammen) der insgesamt 1,23 Milliarden Einwohner Indiens haben über das Schicksal der größten Demokratie der Welt entschieden. Die BJP hat schon im vergangenen Jahr eine massive, teure Kampagne gestartet und im Vorfeld der sechswöchigen Wahlen auf die Spitze getrieben, indem sie Wirtschaftswachstum und Entwicklung in einem Ausmaß versprochen hat, bei dem niemand sicher sein kann, dass sie es jemals einhalten wird. Unterstützt wird sie dabei von einem rechten Kern, der dafür bekannt ist, nicht gerade nett zu Minderheiten zu sein. Viele betrauern schon das bevorstehende Ende der Demokratie

Es gibt viele Gründe für Diskussionen wie die, die ich monatlich mit meinem Vermieter führe. Erstens ist bis heute nicht geklärt, inwiefern Modi in die Ausschreitungen von 2002 in Gujarat (dem von ihm regierten Bundesstaat) verwickelt war. Hunderte von Muslimen wurden damals von Hindus ermordet. Die USA verweigerten Modi 2005 wegen "schwerer Einschränkung der Religionsfreiheit" die Einreise. Obwohl er vom Gericht freigesprochen wurde und Obama ihm jetzt vermutlich die Tür zum Weißen Haus offenhält, gibt es noch immer eine lautstarke Fraktion, die Modi für das Blutbad verantwortlich macht.

Der 43-jährige Rahul Gandhi, Nachkomme der Nehru-Gandhi-Dynastie und Spitzenkandidat der jahrzehntelang regierenden Kongresspartei, konnte sich im Wahlkampf nicht gegen Narendra Modi durchsetzen.
Der 43-jährige Rahul Gandhi, Nachkomme der Nehru-Gandhi-Dynastie und Spitzenkandidat der jahrzehntelang regierenden Kongresspartei, konnte sich im Wahlkampf nicht gegen Narendra Modi durchsetzen.
© Mukherjee/Reuters

Ich gehöre zu denen, die sich wundern, wie ein des Mordes beschuldigter Politiker zur besten Option für Inder werden konnte, die entweder 2002 vergessen wollen, nachsichtig oder offen islamfeindlich sind. Natürlich gehört in dieses Spektrum auch das Massaker von 1984, bei dem mehr als 8000 Sikhs ermordet wurden. Der damalige Premierminister Rajiv Gandhi (dessen Mutter Indira Gandhi kurz zuvor von einem Sikh getötet wurde) und viele Mitglieder der Kongresspartei schauten untätig zu. Keiner der beiden Vorfälle wurde vollends aufgeklärt – aber das eine Pogrom entschuldigt nicht das andere. Und Rahul Gandhi, Spross der einflussreichen Nehru-Gandhi-Familie und Kontrahent von Modi, war schließlich nicht persönlich dafür verantwortlich.

Zweitens fürchten viele Menschen um ihre bürgerlichen Freiheiten, denn Modi ist langjähriges Mitglied im radikal-hinduistischen Kampfverband Rashtriya Swayamsevak Sangh (Hindi für Nationale Freiwilligenorganisation, kurz RSS). Ihre Bedenken betreffen Alkoholkonsum (verboten in Modis Heimatstaat Gujarat), außereheliches Zusammenleben (verpönt unter konservativen RSS-Mitgliedern), das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung (die Kriminalisierung von Homosexualität ist auf der Agenda vieler BJP-Mitglieder) und der Konsum von Rindfleisch (ist frommen Hindus verboten). Die Presse, die zum Großteil Unternehmerfamilien mit BJP-Verbindungen gehört, ist auf der Hut vor stärkeren Kontrollen und Verleger haben Angst vor dem Verbot bestimmter Bücher, das verschiedene fundamental-hinduistische Gruppen kürzlich gefordert haben. Innerhalb des letzten Monats haben sich mehrere bekannte Intellektuelle wie jüngst Pratap Bhanu Mehta, eigentlich BJP-kritisch, Modi angenähert. Frauenrechte stehen nicht weit oben auf Modis Agenda; seine Herrschaft sei sogar frauenfeindlich, warnen indische Feministinnen.

Muslime und andere Minderheiten können nicht sicher sein, künftig gehört zu werden.

Nur 22 Muslime, so wenig wie noch nie, werden künftig in der 16. Lok Sabha ("Volksversammlung", Unterhaus des indischen Parlaments) sitzen. Muslime und andere religiöse Minderheiten können nicht sicher sein, im Gebrüll der hinduistischen Mehrheitsregierung gehört zu werden. Obendrein könnte Modi damit überfordert sein, die Exzesse der durch seinen Aufstieg ermutigten hinduistischen Fundamentalisten zu kontrollieren.

Drittens schauen viele Inder noch immer mit Skepsis auf das verheißene Wirtschaftswachstum. Die meisten Ökonomen gehen davon aus, dass wirkliches Wachstum erst in zehn Jahren sichtbar sein wird - obwohl der BSE Sensex (Bombay Stock Exchange Sensitivity Index, der indische Aktienindex) und die Rupie vorige Woche gestiegen sind, mit einem klaren Wahlurteil zugunsten eines aggressiven Wandels. Sie gehen außerdem nicht davon aus, dass die Armen je von irgendeiner Regierung profitieren werden. Es könnte ihnen sogar noch schlechter gehen, wenn die Unterstützer der BJP (die für ihr Selbstmarketing mehrere Milliarden Dollar ausgegeben hat) aus deren Erfolg Kapital schlagen. Wir sind besorgt, dass es eine ganze Weile dauern wird, bis all das herauskommt.

Eine Mehrheit der Wählerstimmen lässt sich nicht mit einer Mehrheit in der Realität übersetzen: "Weniger als vier von zehn Stimmen gingen an NDA-Kandidaten (National Democratic Alliance; eine von der BJP geführte Koalition, Anm.d.Red.), und nicht einmal jeder Dritte wählte für ein BJP-Mitglied", berichtet die Times of India. Einer der interessantesten Aspekte dieser Wahl ist die hohe Anzahl derer, die NOTA (None Of The Above) angekreuzt haben - eine in diesem Jahr eingeführte Kategorie. Rund 440.000 der insgesamt sechs Millionen NOTA-Wähler kamen überraschenderweise aus Gujarat, Modis Heimatstaat.

Der neue Premierminister Indiens und radikale Nationalist Narendra Modi kann die Massen für sich begeistern.
Der neue Premierminister Indiens und radikale Nationalist Narendra Modi kann die Massen für sich begeistern.
© Dave/Reuters

Modi, der mit Machthabern wie Putin, Hitler und Reagan verglichen wurde, ist ein ausgezeichneter Redner mit der Bühnenpräsenz eines Rockstars. Er begeistert die Massen mit simplen, aber geschickt platzierten Parolen wie vor allem dieser: "Ache din aayega" ("Gute Tage werden kommen"). Auch andere, entwickelte wie Entwicklungsländer dieser Welt haben sich für kontroverse Führer wie ihn eingesetzt - und anschließend mit den Auswirkungen zu kämpfen gehabt. Es bleibt abzuwarten, was Modi tun und was er ändern wird, um mit dem neuen Indien mitzuhalten, das vor allem nach ökonomischem Fortschritt zu streben scheint - auch auf . Nehrus Idealbild vom Sozialismus, Gandhis Idealbild vom friedlichen Widerstand und jedermanns Recht auf Ausdrucksfreiheit könnten in dem Rennen schon bald auf der Strecke bleiben. Fans von Modi nennen das stolz das Überleben des Tüchtigsten.

Aber viele glauben auch, dass die große Mehrheit der BJP und das Fehlen einer Opposition etwas Gutes haben könnte, denn andere Parteien können nun immerhin nicht zum Sündenbock gemacht werden. Das Bedürfnis nach Veränderung hat zu einigen ungewöhnlichen und notwendigen Kompromissen geführt. So haben Politikerinnen erfolgreich als Teil der BJP kandidiert. Die ehemalige Polizistin Kiran Bedi etwa gehört zu den Frauen, die Modi unterstützt haben und die nun angeblich Teil seines Team werden soll. Kann diese Zusammenarbeit fruchten?

Über die Autorin
Rajni George arbeitet als Autorin und Redakteurin in Neu Delhi. Ihre Texte sind in India Today, The Caravan, El Pais, The New York Times, The Spectator, The Hindu, Open und anderen Medien erschienen.
© privat

Zu guter Letzt: Mein Vermieter hat zu einem gewissen Grad Recht. Meine Generation musste bisher wirklich nicht für ihre Freiheiten kämpfen. Wir wurden in dem Glauben erzogen, dass im Ausland ein besseres Leben auf uns wartet, dass Indien ein Ort zum Verehren, aber auch zum Verlassen ist. Für alle die das wie ich taten und die zurückkamen oder es vorhaben (sei es der Familie oder der Karriere wegen), ist Indien im Moment der interessanteste, frustrierendste und bedeutsamste Ort - auch wenn wir vielleicht noch mit dem Bedürfnis hadern, doch wieder zu fliehen.

Ein Land, das bisher zumindest im Groben durch Politikmüdigkeit geeint war und das nun durch eine umstrittene Wahl geteilt ist, ist vielleicht gar nicht so schlecht. Wir waren zu lange zu selbstgefällig. Wir liberalen Inder haben uns erlaubt, uns nicht zu kümmern, nicht zu wählen, uns nicht einzumischen - weil wir wussten, dass sich wenig ändern ließe und dass der Status Quo für uns erträglich ist. Jetzt sitzen rechts und links sehr nahe beieinander, wodurch sich Ehemänner und -frauen, Väter und Töchter, Freunde und Liebende oft über ihre politische Zugehörigkeit zerstreiten.

Meine Freunde und Kollegen haben über diese Wahl berichtet, sind im Wahlkampf so manch staubiger Straße gefolgt (einige von ihnen ohne Vorerfahrung als Politikjournalisten) und haben sich mehr eingemischt, als sie es geplant haben. Einige wollen nun sogar selbst in die Politik gehen. Viele Inder bleiben ungerührt, die Armen sind besonders skeptisch. Aber viele von uns, die nicht gewählt haben, werden es von nun an tun. Den rund 60 Prozent, die nicht für Modi gewählt haben, fehlt eine brauchbare Alternative. Die kommenden Jahre werden von uns mehr Einsatz fordern als wir es je gedacht haben. In der Zwischenzeit müssen wir abwarten und beobachten - und hoffen, dass die schlimmsten Befürchtungen nicht wahr werden.

Aus dem Englischen übersetzt von Nicole Wehr

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