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Nach dem Amoklauf: Wohin mit den Gefühlen?

Der erste Schock ist überwunden. Doch Entsetzen und Trauer nach dem Amoklauf in Winnenden hallen noch lange nach. Aber wohin mit den Gefühlen? Manchmal tröstet ein kluger Gedanke. Oder ein einfühlsames Buch. Oder ein Ritual. Empfehlungen aus der BRIGITTE-Redaktion.

Trost und Hoffnung

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Es ist ein trauriger, aber auch tröstlicher Zufall, dass der Roman "Die Stunde, in der ich zu glauben begann" des amerikanischen Autors Wally Lamb ausgerechnet jetzt auf Deutsch erscheint: Das Buch ist eine streckenweise fast dokumentarische Aufarbeitung des Amoklaufs in Littleton, Colorado, am 20. April 1999, erzählt aus der Sicht eines fiktiven Lehrers der Columbine High School. Die Morde stellen sein Leben auf den Kopf, Angst und Trauer zwingen ihn, sich ganz elementare Fragen zu stellen: Was hat noch Sinn, worauf kann man sich verlassen, wie kann man weiter leben? Wenn man angesichts des entsetzlichen Themas überhaupt so etwas wie Trost und Hoffnung in einem Buch finden kann, dann in diesem. Wally Lamb: Die Stunde, in der ich zu glauben begann. (750 S., 22,95 Euro, Pendo)

Till Raether, BRIGITTE-Autor

"Wir sind da!"

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Haben Eltern überhaupt noch eine Chance, wenn ihnen ihr Kind entglitten ist? Ja, es gibt eine Lösung, das ist mir klar geworden, als ich das beeindruckende Buch "Autorität ohne Gewalt" von Haim Omer und Arist von Schlippe gelesen habe. Präsenz ist der Schlüsselbegriff der beiden Psychologen. Und damit ist wörtlich räumliche und körperliche Präsenz in Form von "Sit-Ins" gemeint. Wir sind da, unverrückbar, das ist die Botschaft der Elten an die Kinder. Und anhand vieler Beispiele wird plausibel, wie effektiv dieser gewaltlose Widerstand ist. Autorität ohne Gewalt, Coaching für Eltern von Kindern mit Verhaltensproblemen. 'Elterliche Präsenz' als systemisches Konzept. Vandenhoeck & Ruprecht, 19,90 Euro

Christine Hohwieler, Ressortleiterin Dossier und Psychologie

Erzähl doch mal!

Ich finde, wir sollten ein hawaiianisches Ritual übernehmen: Abends sitzt die ganze Familie zusammen und jeder schildert das schlechteste und das schönste Erlebnis des Tages. Das hilft, sich die eigenen Gefühle bewusst zu machen, und man erfährt, was die anderen Familienmitglieder bewegt. Diese Zusammenkünfte schaffen gegenseitiges Vertrauen und Verständnis. Ein Bekannter von mir ist Lehrer und setzt diese Methode in abgewandelter Form in der Schule ein. Übrigens stand neulich in einem Artikel über die Obamas, dass sie es auch so praktizieren!

Birgit Kliemke, Grafikerin

Schuld und Liebe

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Warum, warum, warum? Wie kann ein Mensch so etwas tun? Es ist zwei Jahre her, dass ich "Wir müssen über Kevin reden" von Lionel Shriver gelesen habe. Aber das Buch ist sofort präsent, als ich die schrecklichen Bilder aus Winnenden sehe. Im Roman macht sich Eva, Mutter eines 16-jährigen Amokläufers, rückblickend auf die Spurensuche: Hätte sie nicht bemerken müssen, was sich anbahnte? Und: Hätte sie ihr Kind mehr lieben müssen? Das Motiv bleibt letztlich so unklar wie die Schuldfrage. Ein beunruhigendes Buch. Aber manchmal tut es gut, wenn man sich mit seinen Fragen nicht allein fühlte. Vor allem, wenn es keine richtige Antwort gibt. Lionel Shriver: Wir müssen über Kevin reden. (560 S., 9,95 Euro, List)

Claudia Kirsch, Ressortleiterin Politik, Gesellschaft und Beruf

Waffen weg!

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Michael Moores satirischer, aber nicht minder aufrüttelnder Dokumentarfilm "Bowling for Columbine" (Universal) entstand nach dem Massaker an der Columbine High School in Littleton 1999. Moore prangert darin vor allem die laxen Waffengesetze der USA an, die es den jugendlichen Tätern leicht machte, sich ein absurd große Schusswaffenarsenal anzulegen. Für mich war das damals wie heute die entschei-dende Erkenntnis bei der Diskussi-on über eine solche Tat (unabhängig von all den anderen Gründen, die hinterher dafür gesucht werden, wie so etwas geschehen konnte): Erst der Zugang zu einer Waffe macht aus Gewaltphantasien, Minderwertigkeitskomplexen oder Rachegelüsten tödliche Tatsachen.

Andrea Benda, Kulturredakteurin

Computer und Gewalt

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Wenn plötzlich Szenen aus einem virtuellen Ego-Shooter-Game ganz real werden - dann suchen wir nach einer Antwort auf die Frage: Warum? Die Ursachen sind wohl in der verborgenen psychischen Entwicklung des 17-jährigen Schülers zu finden. Und nicht bei "Counter Strike". Wenn wir uns jetzt trotzdem fragen, welchen Stellenwert Computerspiele haben, dann lohnt der Band "Killerspiele im Kinderzimmer. Was wir über Computer und Gewalt wissen müssen". Autor Thomas Feibel steht seit vielen Jahren für einen reflektierten Umgang mit den neuen Medien. Und nicht für unsinnige Verbote. Thomas Feibel: Killerspiele im Kinderzimmer. Was wir über Computer und Gewalt wissen müssen. (240 S., 9,90 Euro, mvg Verlag)

Lisa Schönemann, Redakteurin

Gemeinsam zur Lösung

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Warum machen es nicht alle so? In der Schule meiner 15-jährigen wird einmal pro Woche ein Klassenrat abgehalten, um Konflikte zwischen Schülern, Frust oder Wünsche zu besprechen. Dann wird gemeinsam nach einer Lösung gesucht. Jeder Lehrer ist verpflichtet, dafür eine Stunde Mathe, Deutsch, Erdkunde oder Physik herzugeben, so ernst wird der Rat genommen. Eine Übung für die Zukunft.

Birgit Wulff-Leukel, Grafikerin

Lehrstück für Mitgefühl

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Manchmal sucht Literatur Antworten auf Fragen, an denen wir eigentlich verzweifeln müssten. Das dachte ich, als ich vor gut einem Jahr diesen Roman las. Und jetzt, nach Winnenden, scheint er mir wichtiger denn je: "19 Minuten" braucht der 17-jährige Peter, um in seiner Highschool die Welt untergehen zu lassen. Er erschießt zehn Menschen und zerstört viele Leben mehr in seiner kleinen Heimatstadt. Die amerikanische Bestseller-Autorin Jodi Picoult erzählt die Tragödie aus verschiedenen Perspektiven. Aus der Peters, der sein ganzes Leben gemobbt wurde. Aus der seiner Mutter, die das mit all ihrer Liebe nicht verhindern konnte. Oder aus der Sicht von Josie, die Peters einzige Freundin war, bis sie keine Außenseiterin mehr sein wollte. Und die nun zur zentralen Figur wird in einem Prozess, der klären muss, was keiner verstehen kann. Picoult ist ein Gerichts-Thriller gelungen, ein Mutter-Kind-Drama - und ein Lehrstück für Mitgefühl. Wir können uns den Schmerz in Winnen-den nicht vorstellen. Aber Schriftsteller wie Jodi Picoult können so davon erzählen, dass uns diese Menschen, so weit weg in ihrem Kummer, plötzlich ganz nah sind. Jodi Picoult: 19 Minuten (480 S., 19,90 Euro, Piper. Ab Mai als Piper-Taschenbuch für 9,95 Euro)

Angela Wittmann, Ressortleiterin Kultur

Winnenden-Foto: Getty Images

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