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Der Fall Peggy: Schuldig oder unschuldig?

Vor acht Jahren verurteilte ein Schwurgericht den geistig behinderten Ulvi K. zu lebenslanger Haft wegen Mordes an dem Mädchen Peggy. Nun wird der "Fall Peggy" wieder untersucht. Das freut auch Gudrun Rösel - sie kämpft seit Jahren darum, die Unschuld des Verurteilten zu beweisen.

Der Fall Peggy Knobloch: Ist Ulvi K. wirklich der Täter?

Am 7. Mai 2001 verschwand Peggy Knobloch, 9 Jahre alt, aus Lichtenberg. Ihre Leiche wurde nie gefunden. Ein Jahr später gestand Ulvi K., ein junger geistig behinderter Mann, das Mädchen umgebracht zu haben. Später widerrief er sein Geständnis, blieb jedoch in Haft. Schon vorher gab es bei den Ermittlungen viele Ungereimtheiten: Sieben Zeugen sagten aus, Peggy nach ihrem Verschwinden noch gesehen zu haben. Die Ermittler aber glaubten einer Zeugin, die sich erst ein Jahr später erinnerte, Ulvi K. genau um 13.15 Uhr auf der Bank neben dem Friedhof gesehen zu haben, was 65 Personen, die in der Zeit den Platz überquert hatten, nicht bestätigen konnten. Gemäß Urteil soll Peggy letztmals lebend um 13.15 Uhr am Friedhof gesehen worden sein. Aber der Fahrtenschreiber des Busses, in dem jene Zeugin saß, durch die diese Uhrzeit festgehalten wurde, wurde falsch ausgelesen. Demnach müsste es, die korrekte Uhrzeit vorausgesetzt, Ulvi K. gelungen sein, in 45 Minuten den perfekten, spurlosen Mord zu begehen.

Jetzt, im April 2013, hat Ulvi K.s Verteidiger Michael Euler Antrag auf Wiederaufnahme des Falls gestellt. Es gebe viele neue Tatsachen und Beweismittel, so der Anwalt. Die Oberstaatsanwaltschaft am Bayreuther Landesgericht kündigte an, den über 2000 Seiten langen Antrag "akribisch" zu prüfen.

Nicht nur sein Anwalt glaubt an die Unschuld von Ulvi K. Auch Gudrun Rödel, eine pensionierte Sekretärin, setzt sich seit Jahren für seine Freilassung ein. BRIGITTE-Redakteur Georg Cadeggianini hat die Frau im Herbst 2012 getroffen. Lesen Sie hier seine Reportage:

"Ohne Ulvi geht in meinem Leben gar nichts mehr."

Sie hält zu ihm: Betreuerin Gudrun Rödel kann nicht glauben, dass Ulvi K. der Mörder ist
Sie hält zu ihm: Betreuerin Gudrun Rödel kann nicht glauben, dass Ulvi K. der Mörder ist
© Jens Schwarz

Eine Dose Tabak, Filterhülsen, ein Glas Auflöskaffee und einen Döner. Gudrun Rödel sitzt im Besucherraum der forensischen Psychiatrie Bayreuth, Hochsicherheitstrakt. "Das Wichtigste für ihn ist, was ich mitbringe." Ulvi K., 34, trottet auf sie zu, zwei Betreuer vor ihm, der Sicherheitschef hinter ihm. Gudrun Rödel, 64, steht auf, sie ist einen Kopf kleiner als er, umarmt ihn. Er scheint nicht so recht zu wissen, wohin mit seinen Armen, wohin mit seinen großen Händen. Den Händen, mit denen er ein neunjähriges Mädchen erstickt haben soll. Er grinst: gutmütig, ein wenig entrückt. Gudrun Rödel leuchtet.

Vor acht Jahren hat sie den behinderten Ulvi K. das erste Mal besucht. Da war er bereits der verurteilte Mörder von Peggy Knobloch, dem blonden Mädchen mit den strahlend blauen Augen aus dem oberfränkischen Lichtenberg. Gudrun Rödel kennt Peggy nur von Fahndungsfotos. Die pensionierte Sekretärin wohnt 35 Kilometer entfernt in Münchberg. Sie hat auch den Verurteilten und seine Familie zuvor nie getroffen. Heute sagt sie: "Ohne Ulvi geht in meinem Leben gar nichts mehr."

Am 7. Mai 2001 verschwindet Peggy am helllichten Tag irgendwo zwischen Schule und Elternhaus. Eine der größten Suchaktionen in der deutschen Geschichte stellt die 1100-Einwohner- Stadt Lichtenberg auf den Kopf. Ohne Ergebnis. Bis heute ist weder Peggys Leiche noch ihr Schulranzen noch irgendeine DNA-Spur von ihr gefunden. Nach über einem Jahr und mehr als 40 Vernehmungen legt der Gastwirtssohn Ulvi K., der wegen einer Hirnhautentzündung im Kindesalter zu 80 Prozent behindert und mit einem IQ von 67 auf dem geistigen Stand eines Zehnjährigen ist, ein Geständnis ab, das er aber später widerruft.

Das Schwurgericht Hof befindet, er sei voll schuldfähig und das Geständnis glaubwürdig. Es verurteilt ihn zu lebenslanger Haft.

Am Tag nach diesem Urteil steigt Gudrun Rödel in ihren roten Honda Civic. Sie lässt ihre Einmachgläser mit Gurken hinter sich, ihre Katze Mauzi, den Fernseher, auf dem sie den Prozess verfolgt hat. Ihr Leben bekommt eine neue Richtung. Es war das seltsame Gefühl, dass etwas getan werden muss und sonst niemand da ist, der es tun würde. Gudrun Rödel hat selbst eine schwer behinderte Tochter, die bei ihr im Haus lebt. Sie kennt das Gefühl der Hilflosigkeit. "Das sind oft die Letzten in der Gesellschaft." Aber da ist nicht nur Mitleid: Es war auch das Anstürmen gegen die eigene Ohnmacht. "Es lag doch nichts gegen ihn vor. Außer, dass er gesagt hat, er war's. Keine Spuren, keine Leiche."

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Sie fährt nach Lichtenberg. Sie geht den Weg ab, an dem alles passiert sein soll - immer wieder wird sie das in den folgenden Jahren tun. Die ganzen 600 Meter von der Bank am Henri-Marteau-Platz, wo Ulvi K. auf Peggy gewartet haben soll, vorbei an Friedhof und Schrebergärten, auf dem Schlossbergweg durch den Wald, um halb Lichtenberg rum - so, wie es im Geständnis steht. Am liebsten möchte sie rennen, weil man rennen muss, um ein neunjähriges Mädchen einzuholen, das um sein Leben läuft. Der Weg ist steinig und geht bergauf. Gudrun Rödel schafft nur das erste Viertel. Dann wechselt sie schnaufend ins Schritttempo. Sie hält an der Stelle an, wo das Mädchen hingefallen ist. Wo Ulvi es geschubst, ihm Mund und Nase zugehalten hat, "bis sie ruhig war", wie es in seinem Geständnis heißt. Wo er ihren toten Körper samt Schulranzen unter Zweigen versteckt haben soll. Gudrun Rödel senkt den Kopf, ihre Sandalen sind nass. Als ob der Weg seine Geschichte preisgeben würde, wenn man ihn nur lange genug anstarrt.

Sie hat Ungereimtheiten im Geständnis entdeckt. Etwa, wie Peggy "in Bauchlage zum Liegen" kommen konnte, wenn Ulvi sie doch gegen die Brust gestoßen haben soll. Wie er, ein behinderter, schwerer Mann, ihr den ganzen Weg hinterhergelaufen sein soll. Wie er nach dem ersten Sturz an Peggys Knie Blut habe sehen können, obwohl sie eine Jeans trug. Gudrun Rödel schaut auf, streckt ihre Arme nach vorn: "Was soll der ganze Krampf?" Sie lässt die Arme sinken. Von oben gellen Rufe, Theaterprobe für das Burgfest am Wochenende. Sie nickt. "Das passt", sagt sie. "Es ist alles inszeniert. Hier hat nichts stattgefunden."

Am Anfang dachten viele: Die will sich wichtig machen.

Acht Jahre lang hat sie recherchiert. Peggys Mutter hat bislang jedes Gespräch mit ihr verweigert. Gudrun Rödel ist inzwischen die gerichtliche Betreuerin von Ulvi. Wenn sie ihn in der Psychiatrie besucht, essen sie Döner, er kocht Früchtetee, oft bringt sie Fotos mit: von der Welt draußen. Dieses Jahr will sie die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragen, sie will einen neuen Prozess.Deswegen ist sie immer wieder nach Lichtenberg gefahren. Auf dem Beifahrersitz ein Stapel Aktenordner: Zeugenaussagen, Notizzettel mit offenen Fragen, später dann die Verfahrensakten, an die sie über einen Anwalt kam. Sie hat Zeugen angeschrieben; nachts Flugblätter in die Briefkästen gesteckt; die Bürgerinitiative "Gerechtigkeit für Ulvi" gegründet; die Tachoscheibe des Schulbusses, in dem eine Zeugin saß, unter die Lupe genommen, weitere Ungereimtheiten entdeckt. Am Anfang, erzählt sie, ging gar nichts. Wie zugesperrt seien die Leute gewesen. "Die dachten: Die will sich wichtig machen, da ist nichts dahinter."

21 ihrer 64 Lebensjahre hat sie als Sekretärin in verschiedenen Kanzleien gearbeitet. 1998 zog sie zu ihrem zweiten Mann nach Münchberg, hat bis zu ihrer Frühpensionierung als Altenpflegerin gearbeitet. Ihr Mann unterstützt ihre Recherchen. Neulich hat ihre ehemalige Chefin, eine Anwältin aus Zwickau, angerufen. Sie hat von ihrem Engagement erfahren, von ihrer Hartnäckigkeit wusste sie ja schon. "Die war begeistert."

Mittlerweile habe sie sich abgewöhnt, ihren Freundinnen ungefragt von den neuesten Entwicklungen zu erzählen. "Immer nur Ulvi", sagen die, "für uns hast du überhaupt keine Zeit mehr." Sie zieht die Schultern hoch: "Ja. Es gibt viel Wichtigeres." Vor zwei Jahren ist ihre eigene behinderte Tochter gestorben. "Die Sache mit Ulvi sehe ich als ihr Vermächtnis: Tu was, Mama." Und wenn er's doch war? Wenn sie einen Mörder verteidigt? "Am Anfang hatte ich auch Zweifel. Bevor ich die Akten gelesen hatte. Bevor mir klar war, dass hier einfach jemand gesucht wurde, mit dem man es machen kann." Manchmal erschrickt Gudrun Rödel über sich selbst. Warum sie eigentlich immer helfen will? Ob sie ein bisschen irre ist?

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Irre? Was ist das schon? Rödel erzählt von vergangenem Weihnachten, da hat sie mit Ulvi und seiner halben Station gefeiert. "Wie diese Menschen sich freuen können." Sie hat Weihnachtslieder auf dem Keyboard gespielt. Immer wieder dieselben, weil sie nur eine Handvoll kann. "Ich lern das, wenn ich mal Zeit habe", sagt Gudrun Rödel. Sie macht eine kleine Pause. "Also nie."

Auf dem Schlossberg werden Buden zusammengeschraubt für das Burgfest. Rödel geht zu den Leuten am Met-Stand, es hat nichts Strategisches, wie sie mit ihnen spricht. Sie wirkt nicht wie eine Anwältin von etwas oder jemandem. Es ist ihr eigenes Anliegen. Später geht sie noch rüber ins "Ritterstübchen", die Kneipe von Ulvis Eltern, Treffpunkt der Bürgerinitiative. Sie nimmt Ulvis Mutter in den Arm, die seit Tagen nicht schlafen kann. Der Pfarrer hatte sie angerufen, jemand sei bei ihm, der etwas Wichtiges zum Fall zu sagen habe. Ob er ihn vorbeischicken könne? Natürlich. Und dann ist niemand gekommen. Was Gudrun Rödel ihr bedeutet? "Ich weiß, dass Ulvi in guten Händen ist, wenn ich mal weg bin", sagt die 74-Jährige.

"Es gibt hier in Lichtenberg ein paar, die einfach Ruhe haben wollen", sagt einer, der beim Finanzamt arbeitet, "und eine schweigende Mehrheit, die froh ist, dass das noch mal aufgerollt wird. Es brauchte wohl jemanden von außen. Wir hätten im Wirtshaus ein paarmal auf den Tisch gehauen. Aber zum Leuchten hat das Ganze Gudrun gebracht."

Im Besucherraum des Hochsicherheitstrakts sind die Geschenke längst übergeben. Gudrun Rödel erzählt Ulvi vom "Ritterstübchen" und von einer Tupperparty. Manchmal fragt sie nach, ob er sich an diesen oder jenen erinnern kann. "Ja", sagt er, dazu nickt er mit dem ganzen Oberkörper. "Und du? Was hast du gearbeitet?" Er erzählt von Anzündern, die er heute Vormittag zusammengesteckt hat. Mühsam stückelt er Worte aneinander, die Betreuer helfen: Erst muss man Klopapierrollen in Ringe schneiden, dann mit Holzsplittern füllen. Wie viele er da gemacht hat? "Wenn man's schnell macht, macht man's verkehrt", sagt er. Neun Stück in knapp zwei Stunden.Sie erzählt vom Burgfest, von den Schlagbäumen am Ortseingang mit den kleinen Kassenhäuschen. "Wie ich noch war, gab's das nicht", sagt Ulvi. Sie erzählt vom Anwalt und einer Anfrage im bayerischen Landtag. "Verstehst du das überhaupt?" - "Ja", sagt er, wieder nickt er mit dem ganzen Körper.

Am Ende ist Ulvi der Einzige im Besucherraum, der seinen Stuhl wieder unter den Tisch zurechtschiebt. Und den von Gudrun Rödel auch.

Text: Georg Cadeggianini Fotos: Jens Schwarz Eine Reportage aus BRIGITTE Heft 23/2012

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