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Missbrauchsbeauftragte Kerstin Claus "So manipulativ gehen Täter vor"

Missbrauchsbeauftragte Kerstin Claus
Die Missbrauchsbeauftragte Kerstin Claus mit dem X-Pin. Das weiße X symbolisiert das Engagement gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen.
© UBSKM, Barbara Dietl / PR
Kinder haben kein klares Bild von Sexualität und erkennen Übergriffe schwer. Die Missbrauchsbeauftragte Kerstin Claus spricht über die manipulativen Strategien von Tätern und Täterinnen im Familienkreis – und über Wege, Kinder frühzeitig vor Machtmissbrauch zu schützen.

Inhaltsverzeichnis

Kerstin Claus ist die unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. Sie ist selbst Betroffene. Bei ihrem Amtsantritt 2022 betonte sie, wie dringend es die Perspektive Betroffener brauche, um das Thema begreifbarer zu machen. Mit BRIGITTE sprach sie im Zuge der Sensibilisierungskampagne der Bundesregierung "Schieb deine Verantwortung nicht weg!" über die manipulativen Strategien der Täter – und über Wege, Kinder frühzeitig vor Machtmissbrauch zu schützen.

BRIGITTE: Sie klären mit der Kampagne "Schieb deine Verantwortung nicht weg!" darüber auf, dass sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche hauptsächlich im familiären Umfeld stattfindet. Es heißt, in jeder Schulklasse seien 1 bis 2 Betroffene. Wie kann man betroffene Kinder erkennen, gibt es Merkmale, die stutzig machen sollten?

Kerstin Claus: Kinder, die von sexueller Gewalt betroffen sind, verändern oft ihr Verhalten. Wenn ein Kind sich zurückzieht oder aggressiver wird, wenn es plötzlich auffällig abnimmt oder zunimmt, können das Anzeichen sein. Missbrauch sollte dann als mögliche Ursache mitgedacht werden, wenn Sie im Kontakt mit dem Kind oder Jugendlichen sind. Es ist wichtig, zu zeigen, dass Sie sich Sorgen machen. "Du kommst mir verändert vor, belastet Dich etwas?", "Du bist so still und siehst manchmal traurig aus. Wenn du reden möchtest oder eine Pause brauchst, melde dich gerne." Es hilft, konkret nachzufragen. "Sag mal, deine Chats – ist das alles okay für dich oder oder passieren da Sachen, die du so nicht willst oder die dich anstrengen?" 

Das klappt sicher nicht auf Anhieb, aber es braucht solche Einladungen zum Gespräch immer wieder, damit junge Menschen merken: Mit diesem Menschen könnte ich sprechen, wenn es darauf ankommt. Ein Kind, das sexuelle Gewalt erlebt, erlebt diese meist über einen längeren Zeitraum. Das heißt, es kann immer wieder Zeitfenster geben, in denen der Druck zu groß wird und der junge Mensch tatsächlich sprechen will. 

Kindern beibringen, Übergriffe zu erkennen

Es geht also ums Hinschauen und Dasein. Die Kampagne ist 2022 mit dem Claim gestartet "Schieb den Gedanken nicht weg!" Der Fokus in diesem Jahr lautet: Verantwortung. Was können Erwachsene konkret tun, um Kinder zu schützen?

Der Schutz vor sexuellem Missbrauch beginnt idealerweise damit, dass das Thema bereits in der Erziehung der Eltern präsent ist. Das heißt nicht, dass man zum Beispiel mit kleinen Kindern über Missbrauch sprechen soll, sondern einfach, dass bestimmte Dinge altersangemessen überhaupt eine Sprache bekommen. Dazu gehört es, Geschlechtsorgane und Körperteile klar zu benennen. Und mit Kindern darüber zu sprechen, was normal ist und was übergriffig. Kinder sollten lernen, dass sie über ihren Körper entscheiden und Grenzen setzen dürfen. "Du musst dich vor niemandem nackig ausziehen. Und niemand hat ein Recht, Dich anzufassen, wenn Du es nicht willst, auch kein Erwachsener." 

Nur so werden sie befähigt, sowohl Grenzen wie auch Elemente von sexuellem Missbrauch zu erkennen. Wenn ich mit meinem Kind nie über Körperlichkeit und Grenzverletzungen gesprochen habe, wenn es dafür keine gemeinsame Sprache gibt, ist es für ein Kind fast unmöglich, über sexuelle Übergriffe reden. Das funktioniert nicht. 

Wohin wende ich mich mit einem Verdacht? Die meisten Menschen kennen nur das Jugendamt und scheuen davor zurück, jemanden zu melden – aus Unsicherheit aber auch Angst sich einzumischen oder gar eine Familie zu zerstören.

Hierfür gibt es unser Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch. Dort kann ich mich von erfahrenen Fachkräften beraten lassen, wenn ich ein komisches Gefühl oder einen Verdacht habe. Über unser Hilfe-Portal Sexueller Missbrauch findet man Fachberatungsstellen in Wohnortnähe. Niemand muss selbst Kinderschutzexpert:in sein, aber wir alle sollten wissen, wo wir uns beraten lassen können und wo wir konkrete Hilfe- und Beratungsangebote vor Ort finden.

So manipulativ nutzen Familienmitglieder ihre Macht

Ein Kind kann seine Familie nicht verlassen wie einen Sportverein, wenn es sexuelle Gewalt erlebt. Wie manipulieren Täter und Täterinnen ihre Opfer, damit diese schweigen? 

Der Begriff sexuelle Gewalt impliziert, dass eine Gegenwehr möglich wäre. Täterstrategien funktionieren aber so, dass diese Gewalt meist als solche erstmal für das Kind gar nicht erkennbar ist. Das Perfide ist, dass die Täter und Täterinnen sexuellen Missbrauch anbahnen und dabei sehr manipulativ vorgehen. Eben strategisch und nicht spontan und impulsiv, wie das bei vielen anderen Gewaltformen der Fall ist. Sie vermitteln: Das ist alles ganz normal und in Ordnung so. Die Täter und Täterinnen erklären oft ganz klar, warum sie tun dürfen, was sie tun. 

Auch deswegen erkennen betroffene Kinder und Jugendliche das, was da passiert, zunächst nicht als etwas Monströses, Verbotenes, selbst wenn die Taten mit Schmerzen verbunden sind. Für sie ist es schlicht eine Normalität – und das, obwohl ihnen gleichzeitig auch mit Drohungen klar gemacht wird, dass sie keinesfalls darüber sprechen dürfen. Es ist ein sehr vielfältiges Netz aus Manipulation und Machtmissbrauch, dass solche Missbrauchssysteme über Jahre möglich macht.

Gezielte Überforderung ist Teil des Machtmissbrauchs

Welche Strategien der Täter und Täterinnen sollte man kennen?

Täter und Täterinnen wecken das Gefühl des Auserwähltseins, sagen dem Kind oder jungem Menschen, "Du bist etwas ganz Besonderes für mich und das will ich dir zeigen". Junge Menschen möchten verstanden werden, angenommen sein und sich besonders fühlen. Wenn dann der Onkel der Einzige ist, der zuhört und zum Reden da ist, er seine Zuwendung aber mit Körperlichkeit verknüpft, wird das mitunter eben mit ausgehalten. Weil dieser Mensch für das Kind wichtig ist. 

Vor allem Kinder können sexuelle Gewalt gar nicht erkennen, da sie kein klares Bild von Sexualität haben. Wenn ein Mann sagt: "Fass mal hier an!" und das Kind plötzlich ein erigiertes Glied in der Hand hat, dann weiß es nicht, was das ist. Vielleicht fasst sich das für das Kind nur "irgendwie komisch" an, aber nicht bedrohlich. Das ist die Macht der Täter. Wenn das Kind schon das Glied angefasst hat, geht der Täter beim nächsten Mal einen Schritt weiter. Dann beobachtet as Kind vielleicht erstaunt, dass da Flüssigkeit rauskommt. Wann in dieser Kette soll das "Stopp!" des Kindes kommen? Wie soll es das merken und äußern? Das ist pure Überforderung, konfrontiert zu sein mit Erlebnissen, die es nicht einsortieren kann. Diese gezielte Überforderung ist Teil des Machtmissbrauchs.

Sicher spielt auch die Angst vor dem Verlust der Liebe der Bezugsperson eine Rolle. Was ist das Spezifische am Machtmissbrauch innerhalb der Familie?

Das ist ja nicht die grauenvolle Person, die immer böse oder grauenvoll ist. Das ist auch der Mensch, der mit mir spielt. Das ist der Mensch, der mit mir Eis essen geht. Das ist der Mensch, dem ich mich anvertrauen kann. Aber auch der Mensch, den meine Mutter oder mein Vater liebt und braucht. Das macht die Abhängigkeit und die Machtdynamik in Familien so wahnsinnig groß. 

Dazu kommt die Angst, "Wenn ich diesen einen Menschen ausschließe, der mir Schlechtes tut, verliere ich auch alle Anderen?" Die Angst vor einem Zusammenbruch der Stabilität des Umfelds nutzen die Täter und Täterinnen, um das Schweigen zu erpressen. "Du weißt, wie sehr deine Mutter unter Stress steht. Willst du sie noch mehr belasten? Ich meine es nur gut."

Die meisten Täter sind Väter

Wie ist die Täter-Struktur in Familien, gibt es Erhebungen dazu, ob am häufigsten Väter, Mütter, Geschwister oder andere Verwandte zu Tätern oder Täterinnen werden?

Es gibt tatsächlich so etwas wie eine Rangfolge. Zum einen wissen wir, dass über 50 Prozent der Taten im familiären Umfeld passieren. Die Haupttätergruppe sind Männer und zwar durch alle Generationen. Die mit Abstand größte Untergruppe sind Väter und Stiefväter. Dann geht es mit dem nahen Verwandtschaftskreis weiter, Onkel, Opas aber auch ältere (Stief-)Brüder. Ältere männliche Geschwister werden als Täter immer wieder unterschätzt. Sie haben mitunter schon ein Sexualleben und sind mit Pornografie und Machtdynamiken in Kontakt gekommen. Jüngere Geschwister sind hier wehrlos, wenn es zu Übergriffen bis hin zum Missbrauch kommt – physisch, aber auch, weil das Familiensystem oft gerade nicht nach innen schützt. Erst nach diesen generationsübergreifend männlichen Tätergruppen kommen Frauen als Täterinnen, hier an erster Stelle Mütter. 

Auf Unrecht reagieren

Wie weit reicht der Auftrag "Schieb deine Verantwortung nicht weg"? Was tun wir, wenn wir von erwachsenen Menschen erfahren, dass sie als Kinder oder Jugendliche sexuelle Gewalt erleben mussten? 

Es gibt zwei Perspektiven. Die eine beinhaltet die Frage nach Strafverfolgung. Hier können wir unterstützen, indem wir Betroffene informieren, wann Taten verjähren, was sie tun können, falls sie diese zur Anzeige bringen wollen. Oder einfach, wo es Beratungsstellen gibt. Das Erkennen von Unrecht ist extrem wichtig für die weitere Biografie. Das ist die Erkenntnis, "Hier ist mir etwas widerfahren, was nicht hätte sein dürfen. Ich hätte geschützt werden müssen." 

Das führt zu der zweiten Perspektive, der persönlichen. Hier geht es darum, Räume zu eröffnen, damit Betroffene möglichst früh in ihrer Biografie sprechen und das Geschehene integrieren können. Die Auseinandersetzung ist ein Befreiungsschlag für jede aktuelle und künftige Beziehung, die sie in ihrem Leben haben werden. Je länger Betroffene keinen Weg finden, um zu sprechen, weil die Akzeptanz fehlt oder sie sich vor Opferstigmatisierung fürchten, desto eher führt das zu Belastungen in zwischenmenschlichen Beziehungen. Weil eine gravierende Verwundung und großes Unrecht, das erlebt wurde, weiter unsichtbar bleibt. 

Es ist also im Sinne eines jeden Menschen, betroffen oder nicht, die Aufarbeitung zu unterstützen?

Genau, es ist unser gesellschaftlicher Auftrag, das Thema überall fest zu verankern. An Kitas, Schulen, Berufsschulen, Universitäten, in Ausbildungen und im Berufsleben. Es braucht überall mögliche Sprechräume. Betroffene, die so weit sind, zu benennen, dass sie sexuelle Gewalt erlebt haben, berichten immer wieder, dass plötzlich Menschen in ihrer Umgebung sagen: "Ich habe so etwas auch erlebt." Je mehr wir über Macht und Missbrauch sprechen, desto mehr wird es Türen öffnen, damit andere auch sprechen. 

Vielen Dank für das Gespräch.

Brigitte

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