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Mein Kind kifft. Was tun?

Wie sollen Eltern darauf reagieren? Alarmiert oder gelassen? Mit Gesprächen oder Verboten?

Unsere Nachbarn hatten den Cannabis-Urwald auf dem Dach sicher längst bemerkt. Wir Eltern aber fielen aus allen Wolken, als wir zufällig auf unsere hauseigene "Gras-Plantage" stießen. Wir fragten unseren Sohn Malte, er war damals 17, ob er uns in den Knast bringen wolle. Verlegen schüttelte er den Kopf. Er war selbst überrascht, wie üppig die Pflanzen gediehen. Mit seinen Freunden schleppte er dann die Töpfe außer Haus, vor sich hin protestierend: Schließlich seien Zigaretten und Alkohol viel schädlicher und auch nicht illegal, im Gegenteil, der Staat würde sogar an der Sucht seiner Bürger noch gut mitverdienen.

Stimmt. So haben wir früher selbst argumentiert. Und heute wissen wir: Alkohol im Übermaß führt zur Sucht, und auch Haschisch schadet, wenn es exzessiv konsumiert wird. Trotzdem ist nur Cannabis illegal, obwohl es inzwischen längst zur Alltagsdroge geworden ist. Und zwar in allen Industrienationen. Deutschland liegt dabei laut WHO im Mittelfeld.

Die Hanfpflanzen vom Dach waren wir also los. Doch Maltes jugendliche Welt begann sich jetzt erst recht ums Kiffen zu drehen - statt um das anstehende Abitur. Ein "Legalize it"-Plakat zierte seine Zimmertür; er trug ein Kettchen mit einem feingliedrigen Hanf-Blatt als Anhänger; Hiphop- und Reggae-Klänge schallten lautstark durchs Haus. Am Wochenende ließen er und seine Freunde einen Joint kreisen und philosophierten über Gott und die Welt. Anfangs nahmen wir es leicht, denn wir fühlten uns an unsere eigene sorglose Flower-Power-Zeit erinnert. Doch als der süßliche Geruch auch werktags immer häufiger durchs Haus wehte, wurde es mir zu bunt, und ich verbot das Joint-Rauchen zu Hause. Daraufhin zog die Karawane der Abiturienten in den naheliegenden Park, gewappnet mit Decken, einem Ghettoblaster und vermutlich etlichen Gramm Haschisch in den Taschen. "Kiffen ist Kult, auch gegen Konsumterror und Leistungsdruck", klärte uns der Sohn auf, der ansonsten Tabakrauchen verabscheut. Die Wirkung der Droge beschrieb er uns so: "Alles wird einfach relaxter und gleichzeitig intensiver."

Nach so einem Lebensgefühl scheinen sich heute viele Jugendliche zu sehnen. Rund ein Drittel der 12- bis 25-Jährigen, so das Ergebnis des aktuellen Drogenberichts der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA), haben Erfahrungen mit der illegalen Droge Cannabis; der erste Joint wird durchschnittlich mit 16,4 Jahren geraucht. Besonders unter Gymnasiasten zwischen 16 und 19, gefolgt von Berufsschülern und Studenten, ist das Kiffen beliebt, wobei sich Mädchen viel weniger dafür interessieren als Jungs. "Diese Zahlen sagen aber noch nichts darüber aus, wie viel und wie oft die Jugendlichen kiffen", gibt der Bremer Drogenforscher Heino Stöver zu bedenken: "Die allermeisten hören nach einiger Zeit wieder auf."

Auf diese Entwicklung hofften wir auch bei Malte. Denn er war damals, mit 17, in seiner Persönlichkeit schon einigermaßen gefestigt und sozial gut integriert. Und er hatte bereits vergleichbare Phasen intensiven "Abtauchens" durchgemacht und schließlich aus eigenem Antrieb beendet, zum Beispiel sein tage- und nächtelanges Computerspielen. Und so kam es dann auch: Nach dem Abitur wurde anderes in seinem Leben wichtiger als der Joint mit seinen Freunden.

Nur eine harmlose Hippie-Droge? Unter besorgten Eltern kursieren andere Gerüchte

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Medienberichte über cannabisabhängige Kinder und Jugendliche, die sich schon vor der Schule zukiffen, hielt ich deshalb auch für eher überzogen. Bis mir meine 17-jährige Patentochter Marlen über ihre "Kiff-Karriere" erzählte. Ich fiel aus allen Wolken. Und auch ihre Mutter, meine gute Freundin Lisbeth, war lange Zeit ahnungslos gewesen. Denn anders als Malte hatte Marlen heimlich gekifft. Und sie war erst 14, als sie es zum ersten Mal ausprobierte. Niemand merkte es ihr an, auch dann nicht, als sie mehrmals wöchentlich kiffte. Allerdings war Lisbeth besorgt, weil ihre Tochter plötzlich so fragil und verschlossen wirkte. Schule, Sport und sogar "Party machen" interessierten sie immer weniger. Meistens hing sie nur noch passsiv mit einem Mitschüler zu Hause herum. Auch Marlen erinnert sich nur noch ungern an diese Zeit. "Ich wurde weggespült. Ich war einfach noch zu jung."

Befragungen an Schulen zeigen, dass immer jüngere Teenager Cannabis ausprobieren. "Oft aus innerer Leere und Langeweile" greifen 14-Jährige zur Droge, sagt die Bremer Psychoanalytikerin und Jugendtherapeutin Antje Niebuhr: "Wenn sich das mit Schwierigkeiten im Elternhaus oder in der Schule paart oder sie sozial isoliert sind, kann es zum Problem werden." Pubertierende sind in ihrer Entwicklung noch sehr verletzlich und fahren oft emotional Achterbahn. Ein Joint hilft ihnen, für einige Stunden gelassener und damit auch "cooler" zu werden. Doch diese Wirkung kann je nach Stimmung und Persönlichkeit auch umkippen. Wer sowieso schon seelische Probleme hat, kann dann in eine Depression abrutschen oder Angst und Panikgefühle, Herzrasen, Gedächtnisstörungen und Filmrisse erleben. Auch Marlen hat das erfahren: "Ich war einige Male so vollgedröhnt, dass ich selbst gute Freunde nicht wiedererkannte." Diese Zustände vergingen allerdings nach einigen Stunden wieder.

Bei Jugendlichen, die früh anfangen und zu Dauerkonsumenten von Cannabis werden, muss noch mit anderen Folgen gerechnet werden. Das zeigen Studien: Die Konzentrations- und Lernfähigkeit kann beeinträchtigt, die pubertäre Entwicklung verzögert werden. Auch nach Beendigung ihrer Kifferphase haben manche noch monatelang mit einem so genannten "amotivationalen Syndrom" zu kämpfen: Sie fühlen sich antriebslos, gleichgültig und kaum belastbar. Eine neue Untersuchung der Universität Maastricht kommt außerdem zu dem Ergebnis: Junge Menschen, die aufgrund persönlicher oder familiärer Belastungen ein erhöhtes Risiko haben, eine schizophrene Psychose zu entwickeln, sind durch regelmäßigen Cannabis-konsum zusätzlich gefährdet.

Belege für bleibende organische Schäden durch Cannabis im Gehirn oder anderen Organen fanden Wissenschaftler bisher aber nicht. Das Rauchen von Cannabis, mit oder ohne Tabak gemischt, ist für die Lunge allerdings etwa genauso schädlich wie das Rauchen von Nikotinzigaretten, wie eine britische Studie zeigt.

Wenn sie aussteigen wollen, machen den Dauer-Kiffern aber nicht körperliche Entzugserscheinungen zu schaffen, sondern die psychische Leere, die nach dem Absetzen der Droge eintritt und die Rückkehr zu einem geregelten Alltag erschwert. "Bei manchen Jugendlichen sind die Probleme nicht mit dem Aufgeben des Kiffens gelöst", sagt die Berliner Kinder- und Jugendtherapeutin Claudia Kipp, "sondern sie werden erst dann richtig sichtbar."

Wie sollen Eltern also mit ihren kiffenden Sprösslingen umgehen? Es gibt keine Patentlösung, sagen Drogenberater. Das hänge davon ab, wie viel der Junge oder das Mädchen konsumieren, ob sie ihren Alltag geregelt bekommen und ob sich ihr Verhalten auffällig ändert. Therapeutin Antje Niebuhr rät, das Kiffen weder zu ignorieren noch zu verteufeln. "Loyal gegenüber dem Kind bleiben, immer wieder das Gespräch suchen, seine Entwicklung beobachten und Grenzen setzen." Aber das ist leichter gesagt als getan.

Marlens Mutter ahnte nichts. Und handelte dennoch richtig.

Denn die Gesellschaft lässt uns Mütter und Väter mit dem Problem allein. Zumindest solange sie sich so ambivalent verhält: den Cannabis-Konsum toleriert, den Verkauf verbietet und die Qualität der Droge damit jeder Kontrolle entzieht. So machen unter besorgten Eltern Gerüchte die Runde: etwa, dass Cannabis heute viel höher konzentriert sei als in den 70er Jahren und deshalb schneller abhängig mache. Tatsächlich stimmt das nur für die Züchtungen aus europäischen "Indoor"-Plantagen, etwa in den Niederlanden. Doch die spielen auf dem Schwarzmarkt in Deutschland bis jetzt nur eine untergeordnete Rolle, so die europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogenabhängigkeit (EMCDDA). Und auch für die Befürchtung, dass Cannabis den Einstieg in eine Karriere mit harten Drogen bildet, gibt es keine wissenschaftlichen Belege - die meisten Suchtkarrieren von Heroinabhängigen beginnen, wie viele Studien zeigen, mit Alkohol und Nikotin.

Ich erinnere mich an verschiedene Drogenpräventions-Abende in den Schulen unserer Kinder, zum Teil von freundlichen Polizeibeamten durchgeführt. Tenor: Gib Drogen keine Chance. Einmal stand eine besorgte Mutter auf und erzählte zögerlich von ihrem kiffenden Sohn. Sie wagte es auch, in die Runde zu fragen, ob andere Eltern ähnliche Erfahrungen haben. Darauf schlug ihr nur eisiges Schweigen entgegen. Auch ich brachte in diesem kargen Klassenzimmer nicht meinen Mund auf. Wie sollen wir auch über den Umgang mit einer Droge öffentlich sprechen, die eigentlich verboten und gleichzeitig im Alltag unserer Kinder allgegenwärtig ist?

"Wenn die Jugendlichen schon kiffen, dann sollen sie jedenfalls Bescheid wissen, wie sie die Risiken dabei möglichst gering halten können", fordert der Soziologe und Drogenexperte Stefan Quensel. Um sie darüber aber realistisch aufklären zu können, ist eine eindeutigere Haltung der Gesellschaft zum Cannabis-konsum notwendig. Der moralische Zeigefinger hilft weder uns noch unseren kindern. Seit Jahren streiten Experten, ob "null Toleranz" die Erfolg versprechende Strategie ist oder ob Marihuana besser entkriminalisiert werden soll. Ein Blick ins Ausland aber zeigt, wie wenig Einfluss gesetzliche Maßnahmen auf das Konsumverhalten haben. Der Bremer Kriminologe und Psychoanalytiker Lorenz Böllinger: "In den Niederlanden mit ihrer liberalen Drogenpolitik wird nicht mehr als bei uns gekifft, und in den USA liegt der Konsum trotz hoher Strafandrohung höher."

Mich fröstelt’s noch nachträglich, wenn ich an Marlens Kiffzeit denke. Wie hätten wir Erwachsene ihr diese Erfahrung ersparen können? Hätten sie härtere Strafen beeindruckt? "Nein, eher gereizt", sagt die inzwischen 18-jährige Schülerin. Und doch bereut sie heute, dass sie so früh damit angefangen hat, und glaubt, dass ihr mangelndes Konzentrationsvermögen und ihr schlechtes Zahlengedächtnis auf diese Monate zurückzuführen seien.

Marlen hat die Phase des Kampf-Kiffens nach einigen Monaten beendet. Ihre Eltern ahnten bis zuletzt nichts davon. Und doch, sagt sie heute, hat es ihr geholfen, dass ihre Mutter in dieser schwierigen Phase immer wieder das Gespräch mit ihr suchte. Und schließlich intuitiv das Richtige tat: "Mama hat mich damals dazu ermutigt, allein zu meiner Tante zu fliegen. Das war eine Mutprobe." Erst im fernen Frankreich merkte das Mädchen, wie sehr ihr das "Gras" fehlte. "Andererseits fühlte ich mich schon nach wenigen Tagen einfach besser, aktiver und interessierter - einfach wieder lebenslustiger. Seitdem kiffe ich nur noch sehr selten." Und sie fügt lachend hinzu "Smoke less, enjoy more! Über all das musst du in BRIGITTE schreiben - aber das traust du dich doch bestimmt nicht, oder?"

Information, Beratung, Hilfe

Welche Risiken und Folgewirkungen hat das Kiffen wirklich? Knappe und sachliche Informationen finden sich in der Broschüre „Cannabis“ der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e. V., zu bestellen über die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Fax 022 11/899 22 57 oder order@bzga.de. Im Internet kann die Broschüre unter www.dhs.de heruntergeladen werden. Ein umfangreiches Archiv mit wissenschaftlichen Studien zu Cannabis gibt es unter www.cannabislegal.de. Die Betreiber dieser Seite setzen sich für eine Legalisierung ein.

Besorgte Eltern und Jugendliche, die Beratung brauchen, können sich anonym 24 Stunden täglich an die Drogenhotline wenden: 018 05-31 30 31. Jugendliche Kiffer, die ihren Drogenkonsum in den Griff bekommen wollen, finden bei www.drugcom.de im Internet unter dem Icon "quit the shit" erfahrene Berater und Beraterinnen, bei denen sie anonym Fragen und Sorgen loswerden können.

Drogenberatungsstellen in Ihrem Wohnort finden Sie im Telefonbuch oder unter www.bzga.de.

Für Jugendliche, die als Drogenkonsumenten Ärger mit der Polizei bekommen, wurde das Bundesmodellprojekt "FreD" (Frühintervention bei erstauffälligen Drogenkonsumenten) erprobt: Statt einer Strafe wird ihnen eine Beratungsstunde und ein Kurzkurs über die Risiken und die rechtlichen Folgen des Drogenkonsums angeboten. Da sich solche Kurzprogramme als sehr erfolgreich erwiesen, sollen sie bis Ende 2005 in über 100 deutschen Städten eingeführt werden.

Wenn Jugendliche, die kiffen, Symptome einer psychischen Krankheit zeigen - etwa eine Depression oder Wahnvorstellungen -, sind spezielle Formen der Behandlung notwendig. Solche Angebote gibt es zum Beispiel in der "Drogenambulanz für Jugendliche, junge Erwachsene und deren Familien" der Universitätsklinik Hamburg, Martinistraße 52, 20251 Hamburg, Tel. 040/428 03-42 17. Wo es auf solche Probleme spezialisierte Ansprechpartner in anderen Städten gibt, wissen die örtlichen Drogenberatungsstellen.

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Text: Eva SchindeleBRIGITTE 05/05

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