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Zivilcourage Wie du Menschen hilfst, die auf der Straße belästigt werden

Zivilcourage: Wie du Menschen hilfst, die auf der Straße belästigt werden
© Ольга / Adobe Stock
Was ist schlimmer, als in aller Öffentlichkeit belästigt oder angegriffen zu werden? Antwort: Wenn dir niemand zu Hilfe kommt. Für mehr Zivilcourage gibt es die 5D-Methode – genau wie Erste Hilfe sollte die jede:r draufhaben.

Als Teenager saß ich einmal spät abends in einer unterirdischen S-Bahn-Station in Stuttgart, um nach Hause zu fahren. Weit und breit war kein Mensch zu sehen (bis heute hasse ich es, im öffentlichen Raum alleine zu sein). Plötzlich hörte ich eine Frau schreien und dann sah ich sie auch schon auf der anderen Seite der Gleise die Rolltreppe hinunterrennen, verfolgt von einem Mann. Offenbar in Panik lief sie den gegenüberliegenden Bahnsteig entlang, er hinterher, und auf der anderen Seite die Rolltreppe wieder hoch. Was ich tat? Nichts. Außer vor Angst fast zu sterben und darauf zu hoffen, dass die Frau jemandem in die Arme läuft, der sie vor diesem Mann rettet. Das hoffe ich heute noch.

Mein Zivilcourage-Score ist beschämend niedrig

Anfassen, Beschimpfungen, Catcalling: So ungefähr lautet das ABC der sexuellen Belästigung, das die meisten von uns kennen dürften – nach repräsentativen Umfragen zwei von drei Frauen. Wie diese war ich in meinem Leben mehr als einmal Opfer beziehungsweise Zeugin von Übergriffen durch Männer auf der Straße. Doch leider bin ich nicht die Mutigste, wenn es darauf ankommt, Menschen beizustehen, die verbal oder körperlich angegriffen werden. Mein Zivilcourage-Score ist erbärmlich niedrig, zumindest dann, wenn ich alleine bin: Zu groß ist die Angst, selbst in den Fokus des meist männlichen Aggressors zu geraten. Doch wer nichts tut, lässt die Betroffenen im Stich und trägt dazu bei, dass die Kultur der Belästigung, in der wir leben, fortdauert.

Die 5D-Regel hilft, zu helfen

Was hilft, mutiger zu werden und anderen Menschen in bedrohlichen Situationen beizustehen, ist die 5D-Regel, welche die US-amerikanische NGO "Right To Be" (früher "Hollaback!") entwickelt hat. Sie bietet fünf verschiedene Strategien, um mit Übergriffen auf Mitmenschen umzugehen: Distract (Ablenken), Delegate (Delegieren), Document (Dokumentieren), Direct (direkt Eingreifen) und Delay (Nachhaken).

So funktioniert die 5D-Methode

1) Ablenken (Distract)

Beim "Ablenken" wendest du dich nicht an den Aggressor, sondern an die Person, die belästigt wird. Thematisiere dabei etwas, das nichts mit dem Vorfall zu tun hat, etwa so: "Entschuldige bitte, weißt du, ob das der Bus nach XY ist?" Du kannst die Person auch nach der Uhrzeit fragen oder so tun, als würdest du sie von früher kennen und dich freuen, sie wiederzusehen. Eine andere Möglichkeit wäre, etwas fallenzulassen, Münzen oder deinen Kaffeebecher. Ziel ist es, die Aggression zu unterbrechen, ohne den Aggressor direkt zu konfrontieren und selbst in die "Schusslinie" zu geraten. 

2) Delegieren (Delegate)

Beim "Delegieren" bittest du Dritte um Hilfe. Eine gute Wahl ist häufig die Person neben dir. Frage sie, ob ihr gemeinsam helfen könnt, vielleicht ist sie auch bereit, allein zu intervenieren. Falls anwesend, ist es immer sinnvoll, Autoritätspersonen anzusprechen, beispielsweise die Busfahrerin, den Filialleiter oder Security-Leute.

3) Dokumentieren (Document)

Mit "Dokumentieren" ist das Anfertigen von Aufzeichnungen oder Notizen gemeint, die später hilfreich sein könnten. Zunächst solltest du jedoch sicherstellen, dass der belästigten Person bereits geholfen wird – wenn nicht, nutze ein anderes der fünf Ds. Frage hinterher die geschädigte Person, was mit deinen Aufzeichnungen geschehen soll. 

4) Direktes Eingreifen (Direct)

Manche Menschen haben den Impuls, direkt auf einen Übergriff zu reagieren: "Lass sie in Ruhe!" Dabei solltest du besondere Vorsicht walten lassen, denn die belästigende Person könnte ihre Aggression nun auf dich richten. Daher solltest du dich vorher fragen: Bin ich sicher? Wie wahrscheinlich ist es, dass die Situation eskaliert? In jedem Fall solltest du dich kurzfassen: Lass dich auf keine Debatte und keinen Streit ein – das könnte die Aggressionen nur weiter anfachen. 

5) Nachhaken (Delay)

Manche Vorfälle passieren so schnell, dass es unmöglich ist, einzugreifen. Trotzdem können wir dem Opfer helfen, indem wir nicht ignorieren, was passiert ist. Wir können nach dem Vorfall zum Beispiel fragen: "Ich habe gesehen, was passiert ist, bist du okay?" Oder "Kann ich mich kurz zu dir setzen oder sonst irgendwas für dich tun?" Vielleicht tauscht ihr auch Nummern aus, für den Fall, dass du als Zeug:in gebraucht wirst.

Was hätte ich damals in der S-Bahn-Station tun können?

Zugegeben, die 5D-Methode hätte mir damals in der S-Bahn-Station wenig geholfen. Ich war allein und alles ging sehr schnell. Ich hätte es vermutlich nicht geschafft, der Frau hinterherzulaufen, um ihr zu helfen, weil sie zu weit weg war, und ich hatte auch kein Smartphone, um den Vorfall festzuhalten.

Hätte ich also überhaupt etwas tun können? 40 Jahre später rufe ich Heike Mais an, sie ist Trainerin beim Verein "Zivilcourage für alle" in München. Ihre erste Empfehlung für bedrohliche Situationen lautet: "Wenn dir etwas komisch vorkommt, rufe die Polizei." Damit greife man zwar nicht unmittelbar ins Geschehen ein, könne aber trotzdem etwas ausrichten: Die Polizei holen (und das eventuell auch laut äußern), ihr den Vorfall schildern und dann als Zeug:in zur Verfügung stehen. Deshalb sollte man versuchen, sich Merkmale des Täters zu merken oder den Vorfall zu dokumentieren. Da ich damals kein Handy besaß, wäre für mich beides nicht infrage gekommen. Mais weist aber darauf hin, dass es vermutlich schon Notrufsäulen in den Bahnhöfen gegeben hat.

Dann stellt die Trainerin eine Frage, die ich mir selbst nie gestellt hätte: "Wer war der Täter, wer das Opfer? Vielleicht hat die Frau ja den Mann beklaut?" Auf diese Idee wäre ich nie gekommen, aber es stimmt, ich weiß es nicht. Dies sei jedenfalls eine Frage, die man sich stellen sollte, bevor man eingreift. Die allerwichtigste sei aber diese: "Wie kann ich das Opfer unterstützen, ohne mich selbst in Gefahr zu bringen?"

Tipp: Du möchtest mehr über Zivilcourage lernen? Der Verein "Zivilcourage für alle" bietet mehrstündige Trainings an (vor Ort in München oder virtuell, 10 Euro).

Brigitte

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