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Matriarchat Was passiert, wenn Frauen das Sagen haben

Ein Matriarchat in einem Macho-Land? Man kann es kaum glauben, und doch: Im Dorf Noiva do Cordeiro im Südosten Brasiliens haben Frauen das Sagen. Ihre Führung basiert auf Toleranz, Respekt und Empathie. Davon profitieren auch die Männer im Ort. Das Zusammenleben in dieser fröhlichen Gemeinschaft ist eine kleine Sensation.

Ein Elle Dorado

Im Dorf Noiva do Cordeiro im Südosten Brasiliens geben Frauen Tun und Ton vor. Sie halten alle wichtigen Positionen, bestimmen Politik und Finanzen und leben nach ihrem Gesetz des Glücks: Macht, was euch gefällt – solange es niemandem wehtut oder schadet.

An den fruchtbaren Hängen des Tals, das im Bundesstaat Minas Gerais liegt, pflanzen die Dorfbewohner Auberginen, Paprika, die Tropenkartoffel Maniok, Mandarinen, Kaffee und noch viel mehr an – eben alles, was sie für den Eigenbedarf brauchen. Die Ernte wird in der Küche des Gemeindehauses (Foto unten) zubereitet, und mittags wird gemeinsam an langen Tischen gegessen. Eine ideale Gelegenheit, um gemeinsam Entscheidungen zu treffen: Können wir uns eine Krankenstation leisten? Sollen wir neue Wege gehen und Privatzimmer an Touristen vermieten? Verbote sucht man in Noiva do Cordeiro ebenso vergeblich wie Hierarchien oder irgendwelche Privilegien.

Chilischoten sortieren für den Verkauf, eine der Einnahmequellen des Dorfes neben dem Verkauf von Mandarinen und den Auftragsarbeiten einer kleinen Nähfabrik. Den Erlös teilen sie, jede verdient das Gleiche, und investieren es in Gemeinschaftsprojekte. Rund 300 Menschen leben im Dorf – darunter auch Männer. Politik, Finanzen und die Landwirtschaft sind in Frauenhand. Die meisten Männer arbeiten unter der Woche in der rund 85 Kilometer entfernten Stadt Belo Horizonte. Sie leben in Ehen oder Partnerschaften mit den Frauen, beteiligen sich an den häuslichen Pflichten und tragen dabei Schürzen. Sie reden sanft, anders als im Rest Brasiliens – und sind mit ihrer herrenlosen Führung glücklich.

Gemeinsam ist man weniger allein. 

Delina Fernandes, genannt die Matriarchin, ist die Gründerin der Gemeinschaft. Mit 16 heiratete sie den Prediger Anísio Pereira. Er errichtete in dem Dorf ein strenges Regiment aus Beten und Strafen. Gesundheit sei Gottes Sache, erklärte er. Drei der Kinder von Delina starben. 1995 entluden sich die Trauer und Wut Delinas während des Gottesdienstes ihres Mannes. Sie stand auf und rief: "Was Herz und Gewissen erlauben, ist möglich!" Ihrer Rebellion schloss sich das ganze Dorf an. Gemeinsam rissen die Menschen die Kirche nieder und machten Delina zur Dorfchefin. Anísio flüchtete.

Gemeinsam ist man weniger allein. Das ist für alle in Noiva do Cordeiro das Herzenscredo. Um die alten und kranken Menschen kümmern sich nicht Pfleger, sondern Nachbarinnen, Töchter, Enkelinnen. Die Frauen organisieren sich in Gruppen: Einige arbeiten auf dem Feld, andere kochen oder kümmern sich in der Dorf-Kita um die Kinder.

Es gibt keine Privilegien und Hierarchien. Auch Delina fühlt sich nicht als Chefin. "Das gibt es bei uns nicht", sagt die 76-Jährige.

Der Alltag im Dorf heute ist ultrafortschrittlich für das katholische und vom Machismo geprägte Brasilien: Die Dorffrauen können die freie Liebe leben oder sich scheiden lassen, gläubig oder gottlos sein, verhüten oder nicht. Homosexuelle werden nicht ausgegrenzt. Matriarchin Delina erklärte Toleranz, Respekt und Gemeinsinn zu den höchsten Werten. Und damit sie das auch bleiben, erließ sie ein strenges Gebot: Nie wieder soll es in Noiva do Cordeiro eine Kirche geben – oder Priester.

Verstoßen von Eltern und Kirche lebte sie mit ihm in einem abgelegenen Tal.

Die Geschichte des Dorfes begann vor rund 130 Jahren mit Maria, Delinas Großmutter, die zwangsverheiratet werden sollte. Doch sie entschied sich für den Mann ihres Herzens. Verstoßen von Eltern und Kirche lebte sie mit ihm in einem abgelegenen Tal – arm, doch zufrieden. Das Paar bekam neun Kinder, die heiraten durften, wen sie wollten. Die Gemeinschaft wuchs. Enkelin Delina nahm Prediger Anísio Pereira (das Paar im Bild) zum Mann. Mit ihm endete die Freiheit. Er gründete eine Sekte, von da an war der Alltag bestimmt von Arbeit, Gebeten und Verboten – bis Delina rebellierte.

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