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Sexueller Missbrauch: Warum so wenige Frauen zur Polizei gehen

Leider kein Witz: Von 100 Vergewaltigern kommen in Deutschland circa 100 davon. Trotzdem warnen viele als erstes davor, Beschuldigte vorschnell zu verurteilen. Das ist absurd, findet SAT.1-Moderatorin Marlene Lufen. Und fordert endlich mehr Vertrauen für die Frauen.

Vera ist 19, als sie auf dem Weg zum Supermarkt von drei Männern ins Gebüsch gezerrt wird. Jeweils zwei von ihnen vergewaltigen sie gleichzeitig – einer oral, der andere vaginal. Die drei tauschen die Positionen, bis "jeder mal überall dran war". Einer dringt anschließend anal in die junge Frau ein. Am Ende bespucken sie Vera, schlagen auf sie ein – und verlangen von ihr, zu sagen, dass sie es schön fand mit ihnen.

Jedes siebte Kind sexuell missbraucht

Was sich liest wie ein perverser Krimi oder das Skript zum düstersten Tatort der TV-Geschichte, geschah wirklich, und zwar 2011. Die Geschichte von Vera ist genauso wahr wie all die anderen schrecklichen Vergewaltigungsfälle, von denen Marlene Lufen in ihrem Buch "Die im Dunkeln sieht man nicht" erzählt. 

"Wenn man das Glück hatte, selbst nie sexuelle Gewalt zu erleben, kann man sich schwer vorstellen, dass Menschen so etwas tun", so die Moderatorin. Aber genau das ist ein Problem: Denn was wir uns nicht vorstellen können, fällt uns oft schwer zu glauben. Und doch ist es Realität, dass jedes siebte Kind in Deutschland schon einmal sexuell missbraucht wurde

"Ich habe mich geschämt"

Auch Lufen, die viele nur gut gelaunt aus dem SAT.1 Frühstücksfernsehen kennen, hat selbst erfahren, wie schnell jede von uns zum Opfer werden kann. Als sie 19 war, fiel ein Fotograf während eines Fotoshootings plötzlich über sie her. Er drückte sie – leicht bekleidet – aufs Bett, um sich an ihr zu vergehen. Nur mit Glück konnte sie sich befreien und flüchten. 

Damals erzählte sie zwar ihrer Mutter und ihren engsten Vertrauten davon. Doch zur Polizei ging sie nicht. Erst 2016, 27 Jahre nach dem Vorfall, äußerte sie sich dazu öffentlich in einem Facebook-Post. "Ich wollte die Sache am liebsten einfach vergessen", erklärt Lufen, "ich habe mich geschämt, mir selbst die Schuld gegeben und mir Vorwürfe gemacht, dass ich nichts gemerkt habe." 

Heute weiß die Moderatorin zwar, dass sie sich natürlich nicht hätte schämen müssen und dass sie absolut keine Schuld dafür trifft, was ihr passiert ist. Doch noch immer reagieren die meisten Frauen, die vergewaltigt wurden, wie Marlene Lufen Ende der 80er. Auch Vera erstattete lediglich Anzeige wegen Körperverletzung – dass sie grausam missbraucht wurde, gestand sie ihrer Mutter erst vier Jahre nach der Tat.

Auf Scham folgt Angst

Aber auch später, wenn das spontane Schamgefühl von der Einsicht besiegt wird, dass der Täter allein die Schuld trägt und zur Rechenschaft gezogen werden sollte, fällt es vielen Frauen schwer, die Tat anzuzeigen oder darüber zu reden – und das kann man ihnen genau so wenig vorwerfen wie ihre Scham.

"Immer wenn in der Öffentlichkeit über sexuelle Missbrauchsvorwürfe gesprochen wird, tun die meisten Leute so, als sei die Chance, dass es sich um falsche Anschuldigungen handle, fifty-fifty", sagt Lufen, "da ist doch klar, dass Frauen Angst bekommen, man würde ihnen nicht glauben." Schließlich gebe es bei einer Vergewaltigung im Normalfall keine Zeugen. Und wenn sich die Betroffene erst Wochen, Monate oder Jahre später überwinden kann, zur Polizei zu gehen, sieht's auch mit Spuren und Beweisen in der Regel schlecht aus.

Die Folge: In Deutschland werden im Schnitt nur fünf von 100 Vergewaltigungen angezeigt. Und von 100 angezeigten Vergewaltigungen führt nur eine zu einer Verurteilung. Die meisten Fälle kommen nicht einmal vor Gericht, weil die Chance einer Verurteilung als zu gering eingestuft wird.

Für Täter gibt's Beistand

"Bei der Recherche für mein Buch wollte ich mich darüber informieren, wie so ein Prozess genau abläuft", erzählt die Moderatorin, "aber als ich 'Vergewaltigung' und 'Gerichtsverfahren' gegoogelt habe, bekam ich auf den ersten Seiten erstmal nur Anwaltskanzleien, die dafür werben, die Verteidigung des Beschuldigten zu übernehmen." Kaum einem Kriminaltäter kommt unser ehrenwerter Rechtsgrundsatz "in dubio pro reo" ("im Zweifel für den Angeklagten") offenbar mehr zugute als Vergewaltigern. Nur heißt das im Umkehrschluss eben auch, dass kaum eine Opfergruppe stärker benachteiligt wird als missbrauchte Frauen.

Trotzdem: Wer aus Versehen das "mutmaßlich" vor dem "Vergewaltiger" vergisst, kassiert schneller einen Shitstorm, als eine Kugel Erdbeereis bei 32 Grad geschmolzen ist. Einer Frau, die einen Mann beschuldigt, glaubt man erst, wenn 20 weitere ihn ebenfalls beschuldigen. Und wenn wir sagen, dass wir sexuell bedrängt wurden, werden wir als erstes gefragt, was wir anhatten.

"Natürlich sind falsche Anschuldigungen schlimm und können das Leben eines Unschuldigen zerstören", sagt Lufen, "aber momentan ist das nunmal die absolute Ausnahme und nicht das Hauptproblem. Wenn ausgedachte Missbrauchsvorwürfe irgendwann mal häufiger werden, setze ich mich gerne für die Männer ein, doch aktuell möchte ich diejenigen unterstützen, die zu kurz kommen. Und das sind in der Regel die Frauen." 

So frustrierend und beängstigend es ist: Gerade bei Vergewaltigungen gibt es viele Umstände, die den Täter schützen. Daher sollte wenigstens UNSERE Solidarität bedingungslos bei den Betroffenen sein! 💜

Sexueller Missbrauch: Warum so wenige Frauen zur Polizei gehen
© Tomas Rodriguez, Köln. / PR

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