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Margot Käßmann: So war mein Jahr

Was können wir von Ihnen lernen, Frau Pastorin? Ein Besuch bei Margot Käßmann in ihrem neuen Leben in Atlanta, USA. Und ein Gespräch über alles, was sie aufgeben musste - und was sie gewonnen hat.

Rücktritte gab es viele dieses Jahr. Aber was heißt das eigentlich - zurücktreten? Man gibt ein Amt auf. Verliert eine Funktion, vielleicht an Bedeutung. Und wenn man eine Dienstwohnung hat, verliert man auch die. "An meinem 52. Geburtstag bin ich morgens aufgewacht und wusste, ich würde meine Dienstwohnung verlassen müssen und das erste Mal seit fast 30 Jahren ohne Familie umziehen", erzählt Margot Käßmann.

Sie sitzt auf einem gemütlichen Sofa im Gesprächszimmer der Privatuniversität Emory in Atlanta, wo sie zur Zeit Gastprofessorin ist. "Dass mein Leben so eine Wendung nehmen würde, hatte ich nicht erwartet", sagt sie heute. Als das Vakuum, in dem sie seit ihrer Alkoholfahrt am 20. Februar dieses Jahres gelebt hatte, an jenem Morgen endete, fühlte sie keine Angst, nur Überraschung. Margot Käßmann musste sich ein ganz neues Leben aufbauen.

Sie ging nach Berlin. Ende Juli zog sie aus ihrer Wohnung in Hannover aus. Hier hatte sie elf Jahre lang gelebt, hatte gegen den Brustkrebs gekämpft und eine Scheidung durchgestanden. Später den Auszug ihrer erwachsenen Töchter. Vor dem Umzug in ihr neues Leben stand der Abschied vom alten, das große Aufräumen und Ausmisten. Playmobil, Barbiepuppen, Teddys, Bilderbücher. Der Abschied vom Familienleben. "Ein emotionaler Kraftakt", sagt sie heute. Ihre vier Töchter haben sie dabei unterstützt, und sie genossen es auch, dass die Mutter endlich einmal mehr Zeit für sie hatte.

Als Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche hatte Margot Käßmann nur wenig davon. "Der Druck war unfassbar", sagt sie. Manchmal sei sie mit ihrem Hund morgens um halb sieben durch den Maschpark gegangen und habe schon auf dem iPhone E-Mails gelesen. "Immer musste alles schnell gehen, tack, tack, tack", sagt sie.

"Es gab Momente, in denen ich mich fragte, wie lange ich das machen, den Stress aushalten kann." Andererseits: Sie wollte etwas bewegen, "eine modernere Kirche vertreten, die auch fröhlich und unterhaltsam sein kann. Und ich wollte zeigen, dass Frauen in der evangelischen Kirche alle Leitungspositionen einnehmen können". Sie hat es gezeigt. Und sich dann selbst ein Bein gestellt. An dem Abend im Februar, an dem sie mit Freunden verabredet war, hat sie ihren Dienstwagen genommen - ihr eigenes Auto hatte eine ihrer Töchter ausgeliehen. Lieber wäre sie Fahrrad gefahren, aber die Straßen waren vereist. Nach dem Restaurantbesuch wollte sie den Dienstwagen nicht stehen lassen und dachte: Es sind ja nur zwei Kilometer. Die Polizeikontrolle, in die sie dann geriet, war die erste ihres Lebens. "Ich bin ein Kontrollfreak, jemand, der aufpasst, dass nichts schiefgeht. Im Nachhinein glaube ich, mir ist das am 20. Februar nur passiert, weil ich so angespannt war."

1,54 Promille. "Ich habe sofort sehr klar gespürt, dass ich zurücktreten muss. Eine Bischöfin, die eine moralische Autorität sein will, kann nicht eine so große Angriffsfläche bieten", sagt sie. Der schnelle Rücktritt hat ihr eine Menge Respekt eingetragen. Dass die Alkoholfahrt in den Medien dennoch so breitgetreten wurde, hat sie gequält. Und zornig gemacht. "Das war ja, als hätte ich einen Politik-Skandal, ein Drama für die ganze Republik ausgelöst. Dabei habe ich mir doch alle Vorwürfe, die man mir machen kann, selbst gemacht."

Welche Wucht die öffentliche Meinung haben kann, hatte Käßmann schon zu Beginn des Jahres 2010 zu spüren bekommen. "Nichts ist gut in Afghanistan", dieser Satz aus ihrer Neujahrspredigt war es, aus dem Kontext gerissen, der ihr in den Medien immer wieder vorgehalten wurde. "Es hat mich sehr verletzt, dass ich so angegriffen wurde. Im Nachhinein denke ich, ich hätte viel cooler sein sollen." Dabei wirkt Margot Käßmann so, als könne sie eine Menge an sich abprallen lassen. "Ich bin nicht so taff, wie die Leute glauben. Ich bin sogar ziemlich dünnhäutig", sagt sie und knetet ihre Hände.

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Sie ist auch deshalb so beliebt, weil sie über Brüche in ihrem Leben wie die Scheidung oder den Brustkrebs offen sprach. Leicht konnte man dabei übersehen, wie viel Kraft diese Brüche sie gekostet haben müssen. Manchmal verordnet sie sich Coolness, zumindest nach außen: Als sie öffentlich ihren Rücktritt verkündete, nur ein paar Minuten lang, hatte sie sich vorher fest vorgenommen, dabei nicht zu weinen: "Ich wollte auf keinen Fall irgendein dummes Frauen-Klischee bestätigen. Ich habe vorher geheult und hinterher."

Drei Tage nach ihrem Rücktritt kommt ein Anruf von der Dekanin der Universität Atlanta, mit der Käßmann seit Langem befreundet ist. Eine Einladung in die USA. Käßmann zögert nicht. "Ein tolles Angebot. Und die Möglichkeit, sagen zu können: Ich bin weg." Ein klarer Schnitt, zumindest räumlich. Ein neues Leben, auf Zeit.

Dass sie jetzt mehr als 7000 Kilometer von Deutschland entfernt lebt, macht es ihr leichter, Distanz zu gewinnen. Seit September ist sie hier. Wohnt in einem Studentenwohnheim in der Nähe des Campus, der grün und gepflegt ist. Und fährt mit einem geliehenen Fahrrad zwischen theologischer Fakultät und Studentenwohnheim hin und her. Sie genießt ihre Freiheit. Dass sie durchatmen, nachdenken, schreiben kann. Es sind diese kleinen Dinge, aus denen sich ihr neues Lebensgefühl zusammensetzt. Morgens nicht mit Wecker aufwachen zu müssen. Über den Campus zu radeln, anonym, mit dem Rucksack auf dem Rücken, ohne erkannt oder beobachtet zu werden. Mit dem ehemaligen Präsidenten Jimmy Carter Mittag essen zu dürfen. Mitten am Tag amerikanisches Fernsehen zu sehen und sich dabei ein Sandwich zu machen.

Sporadisch hält sie auch in Atlanta Gottesdienste, Vorträge, gibt Seminare. Und sie besucht selbst Gottesdienste, von denen es in Amerika ein unvorstellbar buntes Angebot gibt. Vom muslimischen Fastenbrechen bis zur Predigt in einer Mega-Church mit Popmusik. Oder die Feier von Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Fest, wo der Rabbi eindrucksvoll über Kontrolle und Kontrollverlust spricht, über Freiheit und Loslassenkönnen - es ist, als habe Margot Käßmann dieses Thema bei ihm bestellt.

Und doch muss sie schon wieder aufpassen, ihr Leben nicht zu überfrachten. Interviews, Vorträge, Predigten - Anfragen kommen ständig. Sie sagt, sie habe keinen Drang, in der Öffentlichkeit zu stehen. Es verletzt sie, wenn sie als "mediengeil" bezeichnet wird. Geltungsdrang? Sie wehrt ab. "Ich bin mit Leib und Seele Pfarrerin." Wer sie erlebt hat, zum Beispiel am 30. Mai in Hannover, ihr erster Gottesdienst nach dem Rücktritt, weiß, wie mitreißend sie als Predigerin ist. Ihre Fans hielten danach ein Käßmann-Konterfei hoch, auf dem die Forderung "Zweite Amtszeit" stand. Die "Käßmania" ist ihr manchmal unheimlich. "Ich bin doch eigentlich nur ich, nicht anders als andere Frauen." Sie weiß selber, dass das nicht stimmt.

Kam ihr auch mal der Gedanke, dass sie, die Kontrollierte, sich am 20. Februar selbst ausgetrickst hat? Und so schließlich ein Maß an Freiheit gewann, das sie seit Langem nicht mehr hatte? Käßmann lacht, ein kurzes Lachen. "Ja. Aber es ist nicht so, dass ich es darauf angelegt hätte. Heute würde ich allerdings sagen: Was auf den ersten Blick wie eine Katastrophe aussieht, muss auf den zweiten keine sein."

Wenn sie bald zurück nach Deutschland kommt, wird sie wieder um ein neues Leben ringen müssen. Im nächsten Jahr ist sie Gastprofessorin in Bochum, darauf freut sie sich. Und dann? Sie weiß es noch nicht. Weihnachten wird sie in Deutschland feiern, es wird ein anderes Fest sein als sonst. Sie wird in Berlin sein und nicht in Hannover. Sie ist froh, dann endlich wieder ihre Töchter um sich zu haben. Sie wird in aller Ruhe einen Gottesdienst besuchen und der Predigt zuhören, die ein anderer hält. Sonst stand sie Weihnachten immer selbst auf der Kanzel. 25 Jahre lang.

Margot Käßmann, 1958 in Marburg geboren, studierte Theologie und wurde 1985 Pfarrerin. Sie machte schnell Karriere, wurde 1999 Landesbischöfin von Hannover und 2009 als erste Frau Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche. Käßmann hat mehrere Bücher veröffentlicht, u. a. den Bestseller "In der Mitte des Lebens". Über ihre Zeit in Amerika schreibt sie einen Blog auf www.evangelisch.de. Die Pfarrerin hat vier erwachsene Töchter und ist geschieden

Text: Franziska Wolffheim Fotos: Christina von Messling

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