Anzeige

Machtmissbrauch in der Wissenschaft "Das ist kein individuelles Fehlverhalten, sondern ein strukturelles Problem"

Machtmissbrauch in der Wissenschaft: Menschen an der Universität
© Vahid / Adobe Stock
Wer Machtmissbrauch erlebt hat, wird von den Mitgliedern des MaWi beraten. Doch Sophia Hohmann vom Netzwerk gegen Machtmissbrauch in der Wissenschaft ist sich sicher: Die Betroffenen sind es nicht, die Machtgefälle aufbrechen müssen.

Als ich das erste Mal mit Sophia Hohmann telefoniere, sind wir uns schnell einig: Machtgefälle sind kein reines Wissenschafts-, vielmehr ein Gesellschaftsphänomen. Sophia engagiert sich ehrenamtlich im Netzwerk gegen Machtmissbrauch in der Wissenschaft (MaWi), das unabhängige Beratung für Betroffene bietet – und dafür sorgen will, dass es zukünftig weniger für sie zu tun gibt. 

Weniger einig sind wir uns bei dem, was dieser 'Machtmissbrauch in der Wissenschaft' eigentlich bedeutet. Denn ich komme mit klaren Vorstellungen zu ihr. Schon damals in der Uni hatten wir diesen einen Professor, der diesen bestimmten Ruf hatte. Lieber nicht allein mit ihm in den Fahrstuhl steigen. Damals war die Erzählung nicht mehr als eine Schauergeschichte. Im Zuge unseres Projektes frage ich mich heute: War das ein Mann, der seine Macht missbrauchte, um Studentinnen zu belästigen? Hätte man diese Gerüchte ernstnehmen müssen? Sophia sagt: ja, natürlich, solche "Whispernetworks" sollten – vertrauensvoll behandelt– ernst genommen werden. Aber sie lenkt auch ein: "Zunächst sehen wir an diesem Beispiel sehr deutlich, dass es bestimmte Vorstellungen darüber gibt, was Machtmissbrauch in der Wissenschaft ausmacht" – und was nicht.

Sie hat recht. Professor betatscht Studentin, das ist ein Klassiker in der Geschichte der sexuellen Belästigung. Der sicherlich nicht von ungefähr kommt. Trotzdem: Machtmissbrauch ist eben so viel mehr als die Hand auf dem Knie. Er zeigt sich subtil, in Überstunden, Schichtplänen, falschen Namen auf veröffentlichten Papern, Lorbeeren, gebettet in Sätze wie "Das haben wir hier schon immer so gemacht". Im Interview mit Brigitte.de spricht Sophia über die vielen Gesichter der Macht in der Wissenschaft, die letztlich exemplarisch für viele Zweige unserer Gesellschaft ist.

Die Wissenschaft mit ihren extremen Abhängigkeiten ermöglicht es gerade auch Opportunist:innen, Potenziale für Machtmissbrauch zu nutzen. 

BRIGITTE: Was stellt man sich unter Machtmissbrauch in der Wissenschaft vor? 

Sophia Hohmann: Machtmissbrauch in der Wissenschaft ist sehr vielfältig, deshalb ist es unmöglich, alle Erscheinungsformen zu benennen. Als Mitglied des machtkritischen Netzwerks gegen Machtmissbrauch in der Wissenschaft betrachte ich das Verständnis von Machtmissbrauch nicht als endgültig. Denn auch daraus kann Potenzial für Machtmissbrauch erwachsen. Ich lerne u. a. durch die Mitglieder und mein Engagement im Netzwerk immer wieder Neues dazu und besitze keine Deutungshoheit über Machtmissbrauch in der Wissenschaft.
Alle Erscheinungsformen haben gemeinsam, dass Personen gegenüber anderen Personen in einer machtvolleren Position sind. Diese Position nutzen sie dann missbräuchlich, wenn sie sich zum Beispiel selbst einen Vorteil verschaffen und/oder einer anderen Person schaden. Das klingt jetzt erst einmal nach einem kalkulierten Handeln, das muss es aber nicht zwingend sein. Die Wissenschaft mit ihren extremen Abhängigkeiten ermöglicht es gerade auch Opportunist:innen, Potenziale für Machtmissbrauch zu nutzen.

In welchen Konstellationen kann Machtmissbrauch in der Wissenschaft auftreten?

Dementsprechend tritt Machtmissbrauch in der Wissenschaft in sehr unterschiedlichen Konstellationen auf – zum Beispiel in der Konstellation Betreuer:innen von Abschlussarbeiten und Studierende. Es kann aber auch Machtmissbrauch zwischen Kolleg:innen geben, die formal eigentlich gleich viel Macht besitzen müssten. Bei Doktorarbeiten ist es oft so, dass Betreuer:innen gleichzeitig auch Vorgesetzte sind. Wenn eine Person mehrere Rollen in sich vereint, ist das Potenzial für Machtmissbrauch besonders gegeben. Und solche Rollen gibt es in der Wissenschaft vermehrt.

Das macht deutlich, dass es sich bei Machtmissbrauch nicht um individuelles Fehlverhalten handelt, sondern um ein strukturelles Problem. Oft sind Fälle von Machtmissbrauch mit verschiedenen Querschnittsthemen verbunden, wie zum Beispiel rassistischer und/oder sexualisierter Diskriminierung, sozialer Herkunft, guter wissenschaftlicher Praxis, den genannten vielfältigen Abhängigkeiten und den prekären Beschäftigungsbedingungen in der Wissenschaft.

Deshalb sollten Personen, die Unbehagen empfinden, dieses Gefühl ernst nehmen. Es kann der erste Indikator dafür sein, dass Macht gegenüber der eigenen Person missbraucht wird.

Was sind frühe Warnzeichen, an denen ich merken kann: Hier läuft etwas in die falsche Richtung, ich fühle mich unwohl und in einer abhängigen Situation?

Es ist oft schwer, frühe Warnzeichen zu erkennen. Der Begriff deutet an, dass es Möglichkeiten gibt, anhand solcher Warnzeichen zu handeln. Diese Möglichkeit steht in der Wissenschaft jedoch oft nur eingeschränkt zur Verfügung. Deshalb ist es wichtig, solche Warnzeichen nicht absolut zu setzen und Betroffene dadurch nicht direkt oder indirekt in die Verantwortung zu nehmen, sich bei Anzeichen von Machtmissbrauch zu schützen. Dass es Warnzeichen gibt, heißt aus meiner Sicht nicht, dass man Betroffenen vorhalten darf, dass sie diese ignoriert haben oder bestimmte Schritte nicht unternommen haben. Deshalb sollten Personen, die Unbehagen empfinden, dieses Gefühl ernst nehmen. Es kann der erste Indikator dafür sein, dass Macht gegenüber der eigenen Person missbraucht wird oder das Potenzial dafür gegeben ist.

Wie kann Machtmissbrauch denn so aussehen, gibt es alltägliche Beispiele?

Viele Dinge werden in der Wissenschaft als selbstverständlich wahrgenommen, wie zum Beispiel die Erfüllung von Überstunden, die nicht bezahlt werden. Wenn dann auch noch alle Kolleg:innen unbezahlte Mehrarbeit leisten und man mit diesen Kolleg:innen um Jobs konkurriert, ist es nicht einfach zu erkennen, dass die Forderung, unbezahlt zu arbeiten, nicht in Ordnung ist und Vorgesetzte mit einer solchen Forderung ihre Machtposition missbrauchen.

Vielleicht erzählt der:die Vorgesetzt:e auch, dass er:sie seinerzeit auch Überstunden geleistet hat und dass man es in der Wissenschaft nur zu etwas bringen kann, wenn man sich auf solche Bedingungen einlässt. Ohne die Rückversicherung durch Kolleg:innen, Freund:innen oder Familienmitglieder kann es sehr schwer sein, zu der Einschätzung zu kommen, dass es sich um Machtmissbrauch handelt.

Es gibt aber auch konkretere Erscheinungsformen, wie zum Beispiel die Forderung danach, dass Aufgaben übernommen werden, die gar nicht zum eigentlichen Aufgabenfeld gehören. Die Aneignung von Leistungen, die nicht die eigenen sind. In der Wissenschaft sind das oft Autor:innenschaften oder Forschungsdaten.

Es ist natürlich einfacher, sich mit einem Einzelfall zu beschäftigen, als damit, welche Strukturen dieses Handeln ermöglicht haben.

Was müsste sich verändern, damit Machtstrukturen sichtbarer und sicherer werden?

Die Sichtbarkeit von Machtstrukturen zu fördern, ist aus meiner Perspektive ein wesentlicher Faktor, die Potenziale von Machtmissbrauch einzuhegen. Es geht gerade nicht darum, über (formale) Machtgefälle hinwegzutäuschen, sondern sie aktiv zu benennen.

Allein durch eine verstärkte Sichtbarkeit wird das Wissenschaftssystem aber nicht sicherer werden. Deshalb müssen sich Personen in Machtpositionen zwingend aktiv und fortlaufend mit ihrer Rolle auseinandersetzen. An Stellen, an denen das Potenzial für Machtmissbrauch besonders gegeben ist, sollte vonseiten der Institution überlegt werden, wie dieses Potenzial möglichst verringert werden kann. So sollte zum Beispiel die Rolle von Betreuer:innen von Qualifikationsarbeiten und Vorgesetzten immer getrennt werden.

Auch die interne Aufarbeitung von Machtmissbrauch braucht meiner Meinung nach mehr Sichtbarkeit. Die Schritte dafür müssen klar benannt werden, sodass Betroffene sich informiert entscheiden können, ob sie sich an Anlaufstellen wenden oder nicht. Eine transparente Benennung von Anlaufstellen und deren Entscheidungs- und Handlungskompetenzen ist nicht die Regel. Dabei ist das eine sehr einfach umzusetzende Maßnahme. So entsteht schnell der Eindruck, dass es Machtmissbrauch an der Institution nicht gibt und wenn es ihn dann doch gibt, wird schnell die Erzählung vom Einzelfall bemüht, was sowohl Täter:innen als auch die Institution schützt. Denn es ist natürlich einfacher, sich mit einem Einzelfall zu beschäftigen, als damit, welche Strukturen dieses Handeln ermöglicht haben und wie die Strukturen verändert werden müssen, um Machtmissbrauch in Zukunft zu verhindern.

Was würden Sie einem Menschen raten, der gerade dort draußen sitzt und das Gefühl hat, von Machtmissbrauch betroffen zu sein – der eigenen Einschätzung aber nicht traut, kein Aufsehen erregen will, Angst vor den Konsequenzen hat und vor allem verunsichert ist? 

Sophia Hohmann, Netzwerk gegen Machtmissbrauch in der Wissenschaft (MaWi)
Sophia Hohmann engagiert sich ehrenamtlich im Netzwerk gegen Machtmissbrauch in der Wissenschaft (MaWi). Sie ist Projektmitarbeiterin am Zentrum für Lehren und Lernen an der Universität Bielefeld.
© Patrick Pollmeier / Pressestelle

Zunächst möchte ich die Person ermutigen, ihrer eigenen Einschätzung zu trauen. Zur Unterstützung kann es hilfreich sein, dass man seine Erfahrungen mit Ort, Datum, Zeit und beteiligten Personen dokumentiert. Ebenso ist es hilfreich, sich mit Vertrauenspersonen über die eigenen Erfahrungen auszutauschen. Wenn gewünscht, können auch die entsprechenden Anlaufstellen aufgesucht werden oder aber externe Anlaufstellen. Leider mahlen die Mühlen der internen Anlaufstellen oft sehr langsam, ich glaube, auch das ist etwas, dass Betroffenen proaktiv vermittelt werden müsste, um sie vor zu hohen Erwartungen zu bewahren.

Ein wichtiger Punkt scheint mir aber auch noch zu sein, dass es nicht in der Hand von Betroffenen liegt, Maßnahmen zu ergreifen. Betroffene sind nicht in der Verantwortung, den Machtmissbrauch, der in der Wissenschaft zweifelsohne tagtäglich stattfindet und immer wieder normalisiert wird, zu verhindern oder aufzuklären. Sie können selbstverständlich dazu beitragen, aber es ist nicht ihre Aufgabe, die Institutionen, die sie zum Teil nicht angemessen vor Machtmissbrauch schützen, zum Positiven zu verändern. Maßgeblich müssen immer die eigene Sicherheit und Kapazitäten sein.

Brigitte

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel