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Stammzellenspender: Eine magische Begegnung

Stammzellenspender: Eine magische Begegnung
© Elena Berd / Shutterstock
Vor drei Jahren spendete die Deutsche Ina Hüffer, 29, Stammzellen. Im letzten Oktober bekam sie Post von einem Amerikaner, Joshua Barber, 35. Er schrieb, sie habe ihm das Leben gerettet, sie gehe ihm nicht aus dem Kopf. Ina brach auf, um Joshua kennen zu lernen. Wir haben sie begleitet - die Geschichte einer magischen Reise.

Das Erste, was Ina denkt, als Joshua vor ihr steht: Wie kräftig er ist. 1,92 Meter, 108 Kilo, ein riesiger, athletischer Mann mit breitem Kreuz, ganz kurz geschorenen Haaren und muskelbepackten Unterschenkeln. Keiner, der aussieht, als sei er vor nicht allzu langer Zeit dem Tod näher gewesen als dem Leben. Komisch, denkt Ina: So sieht also der Mann aus, der jetzt mit meinem Blut lebt.

Es ist eine seltsame Geschichte, die Ina Hüffer, 29, hierhergebracht hat, vor das Museum of Art in Indianapolis, ihrem Treffpunkt mit Joshua Barber, 35 - dem Mann, dem sie mit ihren Stammzellen das Leben gerettet hat. Sie beginnt für Ina im Frühsommer 2009, in einer Vorlesungspause. Weil sie nichts Besseres zu tun hat und gerade ein Blutspendewagen vor der Dortmunder Mensa steht, entscheidet sie sich spontan, sich als Stammzellspenderin typisieren zu lassen. Man nimmt ihr ein Röllchen Blut ab, sie bekommt dafür einen Mensa-Gutschein, mehr nicht. Dann vergisst sie das Ganze. Als sie einige Monate danach tatsächlich den Anruf erhält, dass sie einem Patienten helfen könne, ist sie sofort dazu bereit. Sie spritzt sich eine Woche lang ein Wachstumshormon, von dem sie Rückenschmerzen und Schwindelgefühle bekommt. Sie fährt nach Hameln und verbringt einen Tag in der Entnahmeklinik, wo innerhalb von fünf Stunden ihr gesamtes Blut gefiltert wird. Sie schaut auf einem DVD-Player "Rocky", bis genug Stammzellen in einem durchsichtigen Beutel gelandet sind. Als sie an jenem Abend auf wackligen Knien das Krankenhaus verlässt, sieht sie einen Mann mit einem Koffer, der mit Handschellen an seinem Handgelenk befestigt ist, in einen Rettungswagen mit Blaulicht springen. Sie denkt: Jetzt bringen sie jemandem meine Stammzellen. "Ich wusste, dass sie innerhalb von 48 Stunden transplantiert werden müssen", sagt Ina. "Aber ich hatte keine Ahnung, für wen sie waren und was für eine weite Reise sie vor sich hatten."

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Zwei Jahre vergehen. Dann bekommt sie drei lange E-Mails von einem jungen Mann aus den USA, prall gefüllt mit der Dankbarkeit eines Menschen, der weiß, wie kostbar das Leben ist, weil er es beinahe verloren hätte. Erst jetzt versteht sie ansatzweise, was sie getan hat. Sie schreibt ihm zurück, sie erzählen sich von ihrem Alltag, es geht hin und her, mindestens einmal in der Woche. Ina ist es gewöhnt, anderen zu helfen. Sie ist mit einer behinderten Zwillingsschwester aufgewachsen, sie arbeitet in einem Integrationsfachdienst für behinderte Menschen. Was Ina nicht gewöhnt ist: Dass jemand so dankbar ist. Dass er ein so ernsthaftes Interesse an ihr hat, immer wieder schreibt, immer mehr von ihr wissen will - egal, wie knapp sie manchmal antwortet. An Heiligabend 2011 schreibt Joshua: "Nur deinetwegen kann ich dieses Jahr ein weiteres Weihnachten feiern." Das ist der Moment, der in Ina den Wunsch weckt, ihn kennen zu lernen. Weil sie eine Verbindung spürt, von der sie glaubt, dass sie etwas Besonderes ist. Weil Joshua Gefühle übers Internet schicken kann, die in ihrer Familie niemand aussprechen würde. Weil sie neugierig ist auf diesen Mann, der ihr so viel Aufmerksamkeit schenkt.

Und so steht Ina im Juli 2012, knapp neun Monate nach Joshuas erster Mail, bei 42 Grad im Schatten in Indianapolis. Was sie erhofft? "Dass ich besser begreife, was das ist, was uns verbindet." Sie haben sich Fotos geschickt, sie haben sich viel erzählt, doch genau genommen sind sie Fremde. Beide sind mit riesigen Erwartungen hierhergekommen, mit wackligen Knien, mit klopfenden Herzen. Acht gemeinsame Tage haben sie vor sich, vier im Haus von Joshuas Vater am Lake Waynoka in Ohio, zwei an den Niagarafällen, zwei in New York.

Schon auf der Autofahrt Richtung Ohio merkt Ina, dass sie mehr werden überwinden müssen als den Atlantik, um sich zu begegnen. Sie wollten über so viel sprechen, doch jetzt, wo die Chance endlich da ist, erscheinen alle Worte als zu banal. Joshuas Heimat, die hinter den Autoscheiben vorbeirauscht, ist ländlich und dünn besiedelt, die Arbeitslosigkeit ist hoch, kaum ein europäischer Tourist setzt einen Fuß hierher. Ina gefällt es trotzdem, sie mag die Einsamkeit. Nach der Schule hat sie ein halbes Jahr auf einem Bauernhof in Norwegen verbracht, umgeben nur von Kühen. Sie ist begeistert davon, dass man hier so viel Himmel sieht. Im nordrhein-westfälischen Siegen, wo sie seit Ende ihres Studiums lebt, ist dem Blick zum Horizont immer etwas im Weg.

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Joshua ist 2005 aus der Einöde Ohios geflohen. Nach seinem Wirtschaftsstudium hat er sich vom Justizministerium in den Irak entsenden lassen, um nach dem Krieg das dortige Polizeisystem mit aufzubauen. Joshua spricht nur positiv von diesem Jahr, in dem er unter anderem im berüchtigten Gefängnis Abu Ghraib als Sicherheitsberater eingesetzt war. Was er damals nicht wusste: dass es ihn schwer krank machen würde. Zur Reinigung, Desinfektion und gegen Insekten wurden große Mengen Chemikalien eingesetzt. Jeden Tag konnte Joshua die riesigen Fässer vorm Fenster seines Containers sehen. Heute ist er sich sicher, dass die Gifte darin 18 Monate nach seiner Rückkehr Krebs ausgelöst haben. Er glaubt das, weil viele ehemalige Kollegen ebenfalls krank wurden. Die meisten von ihnen leben nicht mehr.

Als sie bei Joshuas Familie am Lake Waynoka ankommen, merkt Ina, wie schwierig es ist, eine Heldin zu sein. Joshuas Vater und zwei seiner Tanten begrüßen sie überschwänglich, schließen sie mit Tränen in den Augen in die Arme. "Du gehörst jetzt zur Familie, wir haben das gleiche Blut", sagen sie. In ihrem langen Blümchenkleid fühlt sie sich neben dem großen, starken Joshua plötzlich wie ein verunsicherter Teenager. Sie hat gewusst, dass man ihr hier mit großer Dankbarkeit begegnen würde. Und die Dankbarkeit, die Joshua in seinen Mails so wunderbar ausgedrückt hat, ist ein Grund, warum sie hier ist. Aber nur, weil man sich etwas wünscht, heißt es noch nicht, dass man es auch annehmen kann.

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Später sitzt sie mit Joshuas Vater auf dem Tennisplatz in der Nähe. Es ist mittlerweile dunkel, aber noch immer über 35 Grad. Joshuas Vater überreicht Ina ein Geschenk: ein silbernes Armband, sie lässt es beschämt zwischen ihren Fingern hin und her gleiten. "Danke, dass du meinem Sohn das Leben gerettet hast", sagt Carl Barber, ein älterer Mann mit weichem Gesicht und schwieligen Händen. "Wieso hast du das getan?" Ina sucht nach den richtigen Worten. Sie will ihn nicht enttäuschen, aber sie will sich auch nicht besser machen, als sie ist. "Wer hätte das nicht?", sagt sie schließlich. "Es war keine große Sache für mich." Joshuas Vater atmet geräuschvoll. "Für uns war es eine sehr große Sache", sagt er.

Alle wollen die Frau kennen lernen, die Joshuas Leben gerettet hat, deswegen sind mehr als 30 Leute zum Barbecue ins Haus am See gekommen. Gleich zu Beginn trommelt Tante Ellen alle im Wohnzimmer zusammen. Der Ton am Fernseher wird ausgeschaltet, alle falten die Hände. "Herr, wir danken dir für Ina", sagt Ellen. "Dafür, dass sie so großherzig war, unserem Joshua ein zweites Leben zu schenken." Nach dem Gebet werden Unmengen Kartoffelsalat und Blaubeer-Streusel-Dessert auf Pappteller geladen.

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Ina flüchtet in den Keller. Vor ihrer eigenen Rührung, der geballten Aufmerksamkeit. Sie fühlt sich so ausgeliefert und überfordert, dass sie kurz mit ihrer Entscheidung hadert, sich dieser Situation freiwillig ausgesetzt zu haben. Sie denkt, dass sie das alles nicht verdient. Es ist ihr unangenehm, im Mittelpunkt zu stehen für etwas, was für sie nie zur Diskussion stand.

Sie beobachten sich die Tage hindurch wie zwei scheue Rehe, immer kurz davor, den entscheidenden Schritt aufeinander zuzugehen, um sich dann doch mit gesenktem Blick abzuwenden. Joshua scheint genauso zerrissen wie sie: Er wünscht sich, mit ihr allein zu sein. Aber er möchte auch seine Familie nicht kränken. Sie hat zu ihm gehalten, als seine Nieren versagten, sein Körper nicht mehr auf die Chemotherapie reagierte, die Ärzte ihm rieten, ein Testament zu verfassen. "Ich habe damals viel gebetet", sagt er. "Ich wollte einfach nicht glauben, dass es vorbei ist. Ich hatte das Gefühl, einen Sinn im Leben zu haben, den ich noch erfüllen muss."

Knapp 48 Stunden nach ihrer Spende war Inas Blut bei Joshua eingetroffen. Seit dem frühen Nachmittag hatte man es angekündigt, seine ganze Familie wartete bis zwei Uhr nachts, als endlich jemand mit dem Koffer ins Krankenzimmer rannte und einen durchsichtigen Beutel an seinen Tropf hängte. Joshua sagt, dass er spüren konnte, wie die fremden Stammzellen in seine Blutbahn wanderten. Dass er genau wusste, wann sie sein Herz erreicht hatten. "All meine Angst war mit einem Mal fort", sagt er. "Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals zuvor glücklicher gewesen zu sein." Sein Körper hat fast anderthalb Jahre lang heftig gegen die fremden Stammzellen gekämpft, bis sie endlich gesunde Blutzellen bildeten. Heute kann er wieder mit Freunden Football spielen, gerade schließt er seine Umschulung zum Krankenpfleger ab. Er sagt: "Ohne Ina hätte ich das alles nie mehr gehabt. Sie war meine letzte Chance." Manchmal muss Joshua sich kneifen, um zu begreifen, dass sie nun tatsächlich bei ihm in Ohio ist. Er möchte ihr beweisen, wie viel sie ihm bedeutet. Aber er hat auch Angst, sie mit seiner Zuneigung zu erdrücken. Ina schlägt vor, sich gemeinsam tätowieren zu lassen - zwei Fragmente eines DNA-Strangs, die an den Enden ineinanderpassen. "Das, was uns verbindet, ist sowieso fürs Leben", sagt sie. "Dann kann es ruhig sichtbar sein." Während der Tätowierer in einem Studio in Ohios Hauptstadt Columbus blaue Farbe in die empfindliche Haut an Joshuas linkem Handgelenk sticht, stehen ihm vor Schmerz Tränen in den Augen.

Kann eine Person aus Fleisch und Blut die Erwartungen erfüllen, die Joshua sich von seiner Lebensretterin gemacht hat? Er behauptet: ja. "Ina ist noch wundervoller, als ich gedacht habe." Als sie gemeinsam an den berühmten Niagarafällen stehen - Ina hatte sich den Ausflug gewünscht -, merken sie: Etwas ist geschehen zwischen all den Barbecues und Smalltalks und Autofahrten. Sie haben Gemeinsamkeiten festgestellt, von denen sie glauben, dass sie kein Zufall sein können. Dass sie beide Scheidungskinder mit schwierigen Familiengeschichten sind. Beide zurückhaltend und verschlossen. Dass sie beide im Job anderen helfen. Beide am liebsten auf dem Bauch schlafen. Beide Single sind, aber davon träumen, ihr Leben mit jemandem zu teilen. Joshua sagt: "Wir waren bestimmt, uns über den Weg zu laufen."

Auf der Autofahrt nach New York, von wo aus Ina wieder nach Deutschland fliegen will, nimmt Joshua dann seinen ganzen Mut zusammen. Er sagt Ina, dass er sie liebt. Nicht nur, weil sie ihm ihre Stammzellen gespendet hat, sondern sie, als Mensch. Nicht wie eine Frau, nicht wie eine Freundin - wie ein Familienmitglied, eine Schwester, einen Zwilling. Ina kann nichts darauf erwidern. Sie ist beeindruckt, dass er so etwas Gefühlvolles in Worte fassen kann. "Ich habe ja jetzt auch weibliche DNA", sagt er und lacht ein paar Tränen weg.

Viel später, nach mehreren Bier in einer Musikkneipe im Theater District, sagt Ina, dass sie weiß, wovon Joshua gesprochen hat. "Es gibt da eine Verbindung, die nichts mit Verliebtsein zu tun hat. Er ist wie ein großer Bruder, der mich beschützen will." Aber es macht ihr auch Angst, dass jemand, den sie kaum kennt, so für sie fühlt.

Joshua sagt, er möchte ihr ein Auto kaufen, weil sie ihn zu einem Menschen mit einer Zukunft gemacht hat und weil ihres schon 16 Jahre alt ist. "Auf keinen Fall", sagt Ina. "Mir bedeutet es viel, an deinem Leben teilzuhaben, mehr erwarte ich nicht." Sie hat ihn nach Deutschland eingeladen, damit er sieht, wie sie lebt. Sie werden sich, da sind beide sicher, bald wiedersehen.

Wie läuft eine Stammzellenspende?

Sehr häufig ist eine Transplantation fremder Stammzellen mit gleichen Gewebemerkmalen die einzige Überlebenschance für einen Leukämiekranken. Dem Spender können die Zellen durch einen kleinen Eingriff direkt aus dem Knochenmark entnommen werden (dann spricht man von einer Knochenmarkspende) oder durch die mittlerweile üblichere Periphale Blutstammzellspende, eine Filterung aus dem Blut. In beiden Fällen wird zunächst das eigene blutbildende System des Patienten durch Bestrahlung oder Chemotherapie zerstört, bevor die fremden Stammzellen in seine Blutbahn geleitet werden. Dort sollen sie die Bildung gesunder Zellen übernehmen und ein neues Immunsystem aufbauen. Ein komplizierter Vorgang, der je nach Schwere der Krankheit in 30 bis 80 Prozent der Fälle erfolgreich verläuft.

Als potenzieller Spender typisieren lassen kann sich jeder gesunde Mensch zwischen 18 und 55 Jahren bei gezielten Suchaktionen oder seinem Hausarzt. Anders als bei Organspenden ist ein illegaler Handel mit Stammzellen praktisch unmöglich. Erst nach zwei Jahren gibt die Spenderdatei die Daten von Spender und Empfänger frei - wenn beide einverstanden sind. Man will sichergehen, dass der Körper des Patienten die Spende angenommen hat. Weitere Informationen: www.dkms.de

Text: Meike Werkmeister Fotos: Katja Heinemann BRIGITTE 20/2012

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