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Das Demenz-Dorf: Ein Ort, der Hoffnung macht

Eine Gruppe beherzter Helfer in Holland baute ein Dorf für Demenz-Kranke. Denn manchmal muss sich das Leben den Umständen anpassen.

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Bei Ingrid im "Kapsalon" riecht es nach Koffie und Haarspray wie bei jedem normalen niederländischen Friseur. Aber die Damen, die hier ein Tässchen unter der Trockenhaube schlürfen, leben in einer anderen Welt. Wie Ingrids Lieblingskundin, die eine Dauerwelle will - und davon nichts mehr weiß, sobald sie unter der Haube ist. Dann schimpft sie wie ein Rohrspatz. Eine treue Stammkundin wird sie trotzdem bleiben. Auch der Ärger ist schnell vergessen. Am Ende bezahlt sie mit einem Knopf. Ingrid Scheermeijer hat einen verrückten Job. Sie ist Friseurmeisterin und "Schoonheidsspecialiste", so steht es auf ihrem Namensschild. Aber wie alle, die im Demenzdorf "De Hogeweyk" arbeiten, ist sie auch Schauspielerin. Das Stück, das hier täglich gegeben wird, ist das normale Leben. Die Bühne ist das ganze Dorf. Mit Friseursalon, Supermarkt, Praxis für Krankengymnastik, Kneipe und Restaurant. Mit 250 festangestellten und 130 freiwilligen Helfern.

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Und 152 Menschen, die schwer dement sind. Fast alle haben sie Alzheimer - und trotzdem ein gutes Leben. In einer Umgebung, die ihnen erlaubt, einkaufen zu gehen, zum Bingo, auf einen Eierlikör mit Sahnehäubchen ins Restaurant oder eben zum Friseur, wann immer ihnen danach ist. Und wenn sie Ingrid dann ein Trinkgeld geben oder unbedingt zahlen wollen, dann freut sie sich und spielt mit, obwohl im Dorf alle Leistungen für Bewohner längst abgegolten sind. 5400 Euro im Monat kostet ein Platz - für den komplett die staatliche Pflegeversicherung aufkommt.

Ingrid Scheermeijer sagt Danke, nimmt den Schein, den Knopf oder was auch immer ihr in die Hand gedrückt wird, und bringt ihren Lohn später - "backstage", wie sie es nennt - einfach dahin zurück, wo die Kundin daheim ist: in eine der 23 Wohnungen, in denen bis zu acht Bewohner und zwei Betreuerinnen gemeinsam ihren Haushalt führen.

Früher stand hier ein normales Pflegeheim. Der Verbrauch an Psychopharmaka hat sich halbiert

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Ohne Großküche, ohne Wäscherei, ohne Eile. Mit viel Gelassenheit und Liebe. Jeder tut, was er kann. Kartoffeln schälen, Wäsche falten, Unkraut zupfen, das Puddingpulver für den Nachtisch im Einkaufswagen zur Wohnung bugsieren. Und wenn zusätzlich ein Krankenpfleger gebraucht wird oder ein Arzt, dann kommt er aus der Dorfpraxis zum Hausbesuch. Wie viele ihrer Kolleginnen war Ingrid schon "im Hochhaus" dabei, jenem Pflegekomplex, der früher genau da stand, wo jetzt das Dorf ist. Damals, als die Welt ihrer Kundinnen nicht größer war als das Einzelzimmer und der einzige Ausblick die Glotze im Gemeinschaftsraum. Als ein Gang aussah wie der andere, mit Helfern in weißen Kitteln, die durch die Zimmerfluchten huschten. Hinter den Türen wussten die Verwirrten selten, wo sie waren, wer da schon wieder was wollte und von wem überhaupt - bis sie auch diese Fragen an die Angst verloren. Es wurde viel geschrien damals und geweint. Demenz, sagt man, setzt Gefühle frei. Glücklich war keiner. "Es ist jetzt 20 Jahre her", erzählt Isabel van Zuthem, gelernte Altenpflegerin und nun im Dorf für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig, "dass zwei von uns plötzlich ihre Mütter verloren. Die Kolleginnen trösteten sich mit dem Satz: Wenigstens ging's schnell - da ist ihnen das hier erspart geblieben." Ein schrecklicher Gedanke, der in den Köpfen rumorte. Bis da ganz neue Fragen waren: Wo sollen wir hin mit unseren geliebten Menschen? Was wird aus uns selbst, wenn wir nicht mehr können? Und: Ist es nicht höchste Zeit, einen Ort zu errichten, wo keiner mehr Angst haben muss? Erst bröckelten die Mauern in den Köpfen, dann nahmen die Ideen Form an: Ein Dorf sollte es werden, in dem sich jeder wiederfinden kann, weil er früher in ähnlicher Umgebung gelebt hat.

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Die ganze bunte Welt in klein. In einem geschützten Raum, der größtmögliche Freiheit schenkt. 2001 wurde das Demenzdorf als Modell auf der Expo in Hannover gezeigt, fünf Jahre später kam in Weesp vor den Toren von Amsterdam die Abrissbirne. An Weihnachten vor drei Jahren waren endlich alle Bewohner eingezogen. Mehr als 19 Millionen Euro hat der Bau des Dorfes auf den gleichen 15 310 Quadratmetern Grund gekostet, den Löwenanteil trug der Staat, fast 1,5 Millionen Euro kamen über Spenden und Fundraising dazu. Das Projekt der beherzten Visionäre aus dem Vorstädtchen Weesp hat Aufsehen erregt in der ganzen Welt. Die Besucher kommen aus Australien, Japan - und Deutschland, wo es in 50 Jahren mehr Menschen mit Demenz geben wird, als heute in der Hauptstadt Berlin leben. Das Dorf in den Niederlanden, klein wie ein Factory Outlet, ist großes Vorbild. Aber noch immer das einzige seiner Art weltweit. Und auch in "De Hogeweyk" ist die Warteliste lang.

"Wenn du deine Eltern hergeben musst", sagt Helen d'Ouden, Tochter einer Bewohnerin, "gibt's keinen besseren Ort." Sie sitzt mit Mutter Frieda in einem windgeschützten Winkel in der Wintersonne, in einem der vielen Innenhöfe, die Freiräume schaffen. Helen hat sich gequält mit dem Hergeben. "Schätzchen, meine Gedanken sind Fetzen", hat Frieda immer wieder gesagt. Die Tochter wollte nicht hören. "Ich war eine Bitch", sagt sie über die viel zu lange Zeit, in der sie bei jedem "Das hab ich dir doch gesagt" schneller aus der Haut fuhr. Sie wütete gegen die Mutter, wollte ihr jede verlorene Erinnerung ins Gedächtnis zurückschimpfen, ihr Zorn galt der Krankheit. Die Mutter wurde immer mehr zum verstörten Kind, der Tochter wuchs die Verantwortung über den Kopf. "It takes a village to raise a child", sagt Helen und streicht ihrer 89-jährigen Mutter übers flusige Haar. "Und es braucht dieses Dorf, damit ich meiner Mama am Ende ihres Lebens die Würde lassen kann."

Im Dorf haben beide das Lachen wieder gelernt. Die Wut war sofort weg, und wenn die Angst wiederkommt, ist immer jemand da, der sie in den Arm nimmt. Die Mutter und die Tochter. Helen hat sich eine Wohnung ganz in der Nähe genommen. Auf der anderen Seite der "Schale", wie alle in "De Hogeweyk" den äußeren Ring des Dorfes nennen, den die Hauswände bilden. Wie alle Angehörigen durfte Helen für ihre Mutter einen von sieben Lebensstilen wählen. Wer auch früher schon gern ins Theater ging, ist in der kulturellen Wohngruppe richtig, außerdem gibt es urbane, bürgerliche, handwerkliche, christliche sowie "gehobene" Gruppen, für Menschen aus wohlhabenden Verhältnissen. Und weil die Niederlande früher eine Kolonialmacht waren, gibt es im Dorf auch zwei indonesische Varianten.

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"Das war das Richtige für meine Mutter", sagt Helen, die 1962 in Indonesien geboren wurde, bevor die Familie nach Neuguinea und später wieder zurück in die Niederlande zog. Nach der ersten Nacht im neuen Domizil mit Stein-Buddha im Vorgärtchen und Sari-bunten Seidenkissen auf dem Sofa rief die Mutter an und beschwerte sich bei der Tochter: "Das ist ja ganz hübsch hier, aber die Leute sind alle verrückt, was für ein Heim soll das denn sein?" - "Mama, das ist ein Haus für vergessliche alte Leute aus den Tropen", hat die Tochter gesagt. Im "Tropenhaus" bollern im Winter die Heizungen, bis es zwei Grad wärmer ist als in den anderen Wohnungen, die Bewohner laufen gern barfuß und bleiben morgens schon mal länger im Bett. Auch das gehört zum Lebensstil, der mehr ist als preisgekrönte Innenarchitektur, Gartengestaltung und stimmiges Design.

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Eine Kaffeekanne muss aussehen wie eine Kaffeekanne, sonst ist das Ding sinnlos. Und die Klobrille ist schwarz, wie die meisten Bewohner sie von früher in Erinnerung haben, und nicht weiß wie im alten Pflegeheim. In dieser Gruppe brauchen die Menschen eine offene Küche, in der jeder Platz hat, um in einem Topf zu rühren. Geteilte Vorlieben für scharfes Essen, lautes Singen und vor allem beim TV-Programm bedeuten auch halb so viel Streit. Und halb so viele Beruhigungsmittel. So einfach ist das. Am Verbrauch von Psychopharmaka und Schlafmitteln, der früher im Hochhaus doppelt so hoch war, kann man es ablesen. Wenn die Momente kommen, in denen im Kopf das Chaos übernimmt, wissen die Helferinnen, dass der Schrei nach Tarzan einem kleinen Hund gilt. Oder dass sich Helens Mutter mal wieder mit der Frage quält, ob noch Geld da ist für ein schönes Begräbnis. Alle Fragen, die für die Mutter jedes Mal neu sind, hat die Tochter gemeinsam mit vielen Familienfotos zu einem Ringbuch gebunden. Es ist längst abgegriffen, die Mutter liest unablässig darin.

5400 Euro kostet ein Platz pro Monat. Der Staat bezahlt

"Was ist passiert?" - "Warum bin ich hier?" - "Habe ich ein Telefon?" - "Wer sind diese Leute hier?" - "Wann habe ich mein Haus verkauft?" -"Wo ist das Geld hin?" Die Antworten sind kurz. Unter die Frage "Wird Helen mich allein lassen?" hat die Tochter geschrieben: "Never! Nooit! Sie liebt dich viel zu sehr." Auch Bernhard van Buuren kennt das Gefühl, seine Frau zu verlieren, jeden Tag ein bisschen mehr. Wie soll es weitergehen, wenn man der Frau, die man liebt, einen Namenszettel in die Manteltasche stecken muss? Als er sie kennen lernte, war er Witwer und allein mit seinem Kind, Joke hatte fünf Kinder aus erster Ehe. 1970 haben sie geheiratet, erst 20 Jahre später sind sie zusammengezogen. "Patchwork ging nicht gut bei uns", sagt er. Umso schöner wollten sie es sich im Alter machen. Er war für seine Frau da, als die Zeiten schlechter wurden. Dann stürzte der 82-Jährige selbst böse. Er musste in die Reha, sie ins Heim, für das er nur ein Wort hat: "Fabrik". Die Verzweiflung war groß. Bis sie ihren Platz in "De Hogeweyk" bekam, in einer der gehobenen Wohngruppen. Hier hängen Kronleuchter über der Tafel, einen offenen Küchenbereich gibt es nicht. Wer so wohnt, hatte früher Personal, die Betreuerinnen werden gern "Mädchen" genannt.

Kochen gehört nicht zur bevorzugten Beschäftigung, zum Lunch wird Wein serviert. Bernhard van Buuren bleibt heute nicht zum Essen, er führt seine Frau ins Restaurant aus. Sie ist frisch frisiert, streicht sich über den langen roten Wollrock und strahlt, als sie seinen Arm nimmt. Gerade hat sie noch ein bisschen Französisch mit ihrem Mitbewohner Paul parliert, der jetzt enttäuscht ist, dass sie ihn verlässt. "Diese Frau geht mit jedem Mann mit", sagt er und wendet sich der Lady zu seiner Linken zu, die im Sessel neben seinem Rollstuhl sitzt. Paul Strutjens stellt sich höflich vor, sie ist angenehm überrascht. Beide leben seit mehr als zwei Jahren gemeinsam in dieser Wohngruppe. Auch Annick van der Meer ist auf dem Weg ins Restaurant. Die junge Mutter kommt "von draußen" und hat ihren zweijährigen Sohn Luis dabei. "Wir wohnen gleich um die Ecke", sagt sie, "das ist schick hier, und keinen stört's, wenn der Kleine mal kräht." Sie kennt, was auch die Bewohner und ihre Familien fürchten in der Welt, die normal sein will: die Blicke, das Befremden, die Missbilligung. Im Dorf sind Gäste aus der Nachbarschaft immer willkommen. "Koffie met appelgebak 3,50 Euro", steht auf dem Schild, das Annick die Schwellenangst genommen hat.

Es steht vor der Eintrittspforte, die aussieht wie die Lobby eines Hotels. Mit Rezeption, an der rund um die Uhr jemand sitzt. Von innen ist der Bereich kaum als Ausgang zu erkennen, eine Schleuse aus Glas, glatt und langweilig. Nur selten will ein Bewohner durch diese Wand. Und wenn, wird er freundlich zurückgeleitet. Nur eine gute Viertelstunde braucht Annick mit Luis im Buggy, wenn sie einmal ums Dorf schiebt. Immer an der "Schale", den geklinkerten Außenwänden, entlang - 250 Schritte längs, 170 Schritte quer. "Und wenn man dann reinkommt, öffnet sich eine ganze Welt", sagt Annick. Es gibt keine Autos, nur Fahrräder, Kaninchenställe, einen Boulevard, die Piazza, eine Kunstgalerie und ein Theater, das auch die Kinder in der Schule nebenan für ihre Aufführungen nutzen. Es gibt Spazierstraßen mit Spalierobst und Schoßhündchen, die mit ihren Herrchen und Frauchen eingezogen sind. Die Aufzüge kommen von allein, wenn man vor ihnen steht, und schweben so langsam empor, man spürt es kaum, bis man oben weiterwandelt auf Brücken quer übers Gelände. Eine Einladung zum Herumstreunen für Menschen, die ebenso bewegungsfreudig sind wie orientierungslos.

Es ist die Lebensfreude, die dieses Dorf zu einem besonderen Ort macht

Manchmal kauft Annick im Supermarkt ein. Im Gegensatz zu den säumigen Zahlern unter den Bewohnern muss sie zur Kasse. Heute nimmt sie Kekse und eine Glückwunschkarte mit Babyfüßchen. Auch Kondolenzkarten gibt es. Der ganze Lauf des Lebens im Drehständer neben der Ladentür, dazwischen eine Karte, auf der steht: "Uuups, ich habe Deinen Geburtstag vergessen." Sie wird gern genommen in "De Hogeweyk", wo immer wieder Humor aufblitzt, und sei es für einen kurzen Moment.

Es ist die Lebensfreude, die dieses Dorf zu einem besonderen Ort macht. Es ist kein Ghetto und keine absurde Kulissenwelt wie im Film "Die Truman Show", wo der ahnungslose Held einer Nonstop-Reality-Show sich im wahren Leben wähnt. Das wahre Leben - für die "Dörfler" ist es nicht vorbei, es kommt von draußen rein. Im Restaurant sitzt das Ehepaar van Buuren nebeneinander, ihre Hand noch auf seinem Arm. Da soll kein Tisch zwischen ihnen sein, jeder Moment der Verständigung und der Nähe ist kostbar. Viermal die Woche kommt Bernhard zu Besuch. Bevor er wieder geht, legt er seiner Frau eine Wärmflasche ins Bett. Fürs Mittagsschläfchen. "Dann wird sie ruhiger."

Liebevoll umsorgt dürfen hier alle ihre Würde behalten

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Jeder Abschied tut weh, weil Joke immer nach Hause will. In eine Wohnung, die es gar nicht mehr gibt. "Nach Hause" heißt nicht, dass sie raus will aus dem Dorf, sie will raus aus der Krankheit. Die Demenz ist wie ein Dämon, der sie verfolgt und ihr die Welt fremd macht, egal wo sie Schutz sucht. "Ich würde ihren Wunsch so gern erfüllen", sagt ihr Mann mit Tränen in den Augen, "dieses: einmal noch nach Hause. Aber dazu müssten wir die Krankheit besiegen, und das schaffen wir nicht." Es gibt bei Alzheimer keine Heilung, nur einen Weg, der abwärts führt. Er windet sich wie eine Wendeltreppe in die dunkle Nacht. Aber manchmal findet man einen Halt auf dieser Treppe. Vor dem Restaurant steht eine resolute Dame im Mantel, den Schirm fest im Griff. Auch sie will endlich heim. Die Schicht war lang, "aber die Ablösung kommt nicht". Früher hat sie hier als Oberschwester gearbeitet, jetzt ist sie eine Bewohnerin. Wie alle in "De Hogeweyk" es immer tun, spielt Dorf-Sprecherin Isabel van Zuthem auch in dieser Situation mit und lässt sie in dem Glauben. Die Frauen unterhalten sich kurz über den Dienstplan, dann sagt Isabel: "Ich übernehme, du kannst beruhigt sein." - "Danke", sagt die ehemalige Kollegin, "du hast mir sehr geholfen." Demenz ist bitter. Isabel erlebt es jeden Tag: die Verzweiflung der Unbehausten, den Schmerz über ein verlorenes Ich, den man nicht nehmen kann, aber lindern. "Ich denke jeden Tag, hoffentlich werde ich nie dement", sagt sie, "aber wenn, dann will ich hier sein."

Das Demenzdorf "De Hogeweyk"

in Weesp bei Amsterdam (www.hogewey.nl) ist eins der modernsten Pflegezentren der Welt. Es gilt als Vorbild - auch für das erste Pflegedorf in Deutschland, das in Alzey geplant wird: Im "Stadtquartier für Menschen mit Demenz" (www.bengeo.de) sollen bis zum Frühjahr 2014 rund 120 Bewohner einziehen.

Text: Angela Wittmann Fotos: Claudius Schulze BRIGITTE 26/12

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