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Kriegsreporterin Kavita Sharma "Es ist schockierend, dass in unserer Zeit sowas nochmal passiert"

Kavita Sharma im Dorf Ploske, das von ukrainischen Truppen befreit wurde 
Kavita Sharma im Dorf Ploske, das von ukrainischen Truppen befreit wurde
© David Nolte
Kavita Sharma, 42, ist derzeit die einzige deutsche Kriegsreporterin in Kiew. Seit Mitte Januar berichtet sie nonstop für RTL aus der Ukraine.

Hinweis: Das Interview haben wir im April geführt.

BRIGITTE: Wie geht es Ihnen nach zehn Wochen in der Ukraine?
Kavita Sharma
: Soweit gut. Aber es berührt und bewegt einen natürlich sehr, so einen Krieg mitzuerleben und zu sehen, was das mit den Menschen und ihrer Heimat macht.

Was erleben Sie als das Schlimmste an diesem Krieg?
Das Dramatischste ist, wenn eine Stadt heftig bombardiert wird und die Menschen nur noch in Kellern leben und das Essen ausgeht. Was ich auch immer wieder sehe, ist diese Ausweglosigkeit, die Menschen überfällt, wenn ihnen so viel wegbricht – auch bei denjenigen, die losfahren und flüchten und am Ende nur noch das besitzen, was sie im Auto haben. Gerade für ältere Menschen ist es auch gar nicht so leicht, zu gehen. Sie haben vielleicht einen bettlägerigen Partner und den möchten sie natürlich nicht zurücklassen. Vor so eine Wahl gestellt zu werden, ist grausam.

Ist es nicht auch traumatisch für Sie, das alles mitzuerleben?
Traumatisch ist es für die Menschen, die hier leben. Auch bei den Leuten in meinem Team wird ganz deutlich, welcher Belastung sie ausgesetzt sind. Unsere Übersetzerin Anna musste ihre Familien aus Kiew evakuieren, und unser Fahrer Volodymyr sagt, die Kleidung, die er trägt, sei das Einzige, was er noch besitzt. Früher sei er ein reicher Mann gewesen, jetzt habe er nichts mehr. Wir, die hierher entsandt worden sind, haben immer die Wahl. Wir können jederzeit abreisen und müssen keine anderen Menschen zurücklassen, kein Haus, keine Haustiere. Natürlich sind wir auch mal müde oder angespannt, wir schlafen mal schlecht und natürlich berührt uns das alles hier, aber das ist kein Vergleich zu dem, was die Menschen hier mitmachen.

Wie leben Sie in Kiew?
Das ganze Team wohnt gemeinsam im Hotel. So können wir jederzeit reagieren und losfahren, wenn etwas Dramatisches passiert, auch nachts. Am Morgen treffen wir uns und besprechen unseren Plan für den Tag. Wenn eine:r von uns Bedenken hat, etwas zu machen, lassen wir es. Die Frontverläufe sind oft sehr dynamisch, die Dinge ändern sich schnell. Wenn etwas zurückerobert wurde, heißt das nicht, dass das am Abend immer noch so ist.

Kavita Sharma auf dem Balkon ihres Hotels in Kiew
Kavita Sharma auf dem Balkon ihres Hotels in Kiew
© David Nolte

"Hier in Kiew ist niemand sicher," sagen Sie in einem Ihrer Beiträge. Haben Sie keine Angst, verletzt oder sogar getötet zu werden?
Natürlich ist man angespannt, aber wir versuchen, so gut es geht für unsere Sicherheit zu sorgen. Man muss über alle möglichen Risiken nachdenken, um sie zu reduzieren, und man muss seine Umwelt und seine Gefühle wahr- und ernstnehmen. Wenn du denkst, irgendwas kommt mir gerade komisch vor, kann das die Rettung für das Team bedeuten. Wenn wir aus der Stadt rausfahren, fragen wir an jedem Checkpoint, ob die Straße weiterhin sicher ist, wir tasten uns vor, manchmal haben wir auch Telefonkontakt mit einem Kommandanten. Es ist auch sehr wichtig, schnell zu arbeiten. Wenn du irgendwo hingehst, wo es Artilleriebeschuss gab, kann das schnell wieder losgehen.

Die Autofahrten in der Ukraine fühlen sich für Kavita Sharma manchmal endlos an
Die Autofahrten in der Ukraine fühlen sich für Kavita Sharma manchmal endlos an
© David Nolte

Haben Sie Strategien, um von den schrecklichen Erlebnissen abzuschalten?
Eine Stunde, bevor ich ins Bett gehe, versuche ich, auf andere Gedanken zu kommen. Mal lese ich ein Buch oder ich gehe zum Quatschen zum Kameramann aufs Zimmer oder telefoniere mit Freunden. Dann will ich hören, was bei denen gerade so los ist. Sie sagen dann immer, hey, das ist doch gar nicht wichtig, was ist bei dir los!? Aber ich will zuhören und in Kontakt bleiben mit dem Rest der Welt. Das ist nicht nur erholsam, das ist auch wichtig, damit man das Maß nicht verliert und weiterhin wahrnehmen kann, wie schlimm das alles ist, was den Menschen hier passiert. Dafür muss man immer wieder den Blick schärfen.

Heißt das, man stumpft ab?
Nein, ich glaube, das wird mir nie gelingen. Aber wenn man nur noch in dieser Realität lebt und diese Realität alles bestimmt, dann verschiebt sich die Wahrnehmung. Das sehe ich auch bei den Ukrainer:innen, die nicht mehr bei jedem Fliegeralarm in den Keller rennen.

Man passt sich der Realität an, und dann empfindet man einen Tag in Kiew als entspannt, wenn man keinen Fliegeralarm hört.

Da sitzen die Leute dann draußen in der Sonne und man muss sich immer wieder sagen, wie krass ist das: Man hört den Artilleriebeschuss im Hintergrund und für die Menschen ist das ein entspannter Tag. Deshalb ist es wichtig, immer wieder einen Schritt zurückzutreten.

Hat sich Ihre Weltsicht durch diesen Krieg verändert?
Es ist schockierend, dass in unserer Zeit sowas nochmal passiert und dass Menschen so ein Leid erfahren müssen. Ich hatte erwartet, dass es eine kleinere Offensive im Osten des Landes geben wird, aber keinen großen Angriffskrieg. So oder so: Es gibt keine kleinen und großen Kriege, denn das Leid des Einzelnen lässt sich daran nicht messen – für das Einzelschicksal gibt es da keine Skala.

Worauf freuen Sie sich am meisten, wenn Sie an Ihr Zuhause in Istanbul denken?
Ich freue mich auf meine Freunde und darauf, mal wieder schön essen zu gehen. Und ich freue mich darauf, eine unbeschwerte Zeit zu haben.

Zur Person: Kavita Sharma, 42, ist derzeit die einzige deutsche Kriegsreporterin in Kiew. Sie ist in Berlin aufgewachsen und hat in London Journalismus studiert. Bevor sie zu RTL wechselte, war sie Produzentin bei Al Jazeera English. Sie hat unter anderem aus den Kriegsgebieten in der Ostukraine, in Afghanistan und Bergkarabach berichtet. Kavita Sharma lebt in Istanbul.

Brigitte

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