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Flüchtlingskinder in Jordanien: Damit sie nicht vergessen werden

Flüchtlingskinder in Jordanien: Damit sie nicht vergessen werden
© Marcel Mettelsiefen
Rund 630 000 syrische Flüchtlinge leben in Jordanien, mehr als die Hälfte von ihnen sind Kinder. Viele Familien wollen nach Europa gehen, damit die Kinder eine Zukunft haben. Dabei ist es möglich, ihnen auch vor Ort zu helfen - mit unserer Aktion "Ein Schal fürs Leben" könnt ihr diese Projekte unterstützen.

Sie könnten in zwei Tagen zu Hause sein. Zwei Tage zu Fuß, Richtung Nordwesten. 40, 50 Kilometer Luftlinie, höchstens. Die Sachen wären schnell gepackt, man besitzt nicht viel, wenn man in einem 15 Quadratmeter großen Container lebt. Anam, 29, Mutter von vier Kindern, Witwe, zeigt uns ein Video auf ihrem Handy: ein weißes gemauertes Haus, von Feldern umgeben, ein Motorrad davor, ein Wassertank. Kein Reichtum, aber ein Leben. Ihr Leben. Mehr wünscht sich Anam nicht. Nur das alte Leben zurück. Jetzt warten da, wo das Haus stand, in der Baraa-Region im Südwesten Syriens, die Truppen von Präsident Baschar al- Assad. Würde Anams Familie zurückkehren, würden sie verhaftet, womöglich exekutiert. Für Assad sind sie Verräter. Keine Bürger mehr, keine Syrer. Dabei bestimmt Syrer zu sein ihr Leben, es ist der einzige Grund, warum sie hier, im Zaatari-Camp in Jordanien, 15 Kilometer vor der syrischen Grenze, ausharren.

Zurückzugehen ist unmöglich. Anam redet nicht mehr häufig über Syrien. So wie die meisten der 83.000 Menschen hier. Syrien, wie es jetzt ist, ist für sie verloren. Die Menschen in Zaatari, dem zweitgrößten Flüchtlingscamp der Welt, warten ab, manche schon seit fast vier Jahren. Die, die wie Anams Familie im ältesten Teil des Camps leben, gehörten zu den ersten, die geflohen sind; in der Baraa-Region begann im März 2011 der Aufstand gegen Assad, und als sie nach Jordanien kamen, Handwerker, Bauern, Arbeiter, dachten sie, es wäre für einen Monat, vielleicht ein halbes Jahr, nur, bis die Lage sich wieder beruhigt.

Unterricht im "Child Family Center": Ein Lehrer klärt Mädchen über ihre Rechte auf.
Unterricht im "Child Family Center": Ein Lehrer klärt Mädchen über ihre Rechte auf.
© Marcel Mettelsiefen

Es ist Mitte September, Tausende Flüchtlinge brechen jeden Tag nach Europa auf, es ist das Wochenende, an dem Deutschland wieder Grenzkontrollen einführt. Das ganze Land redet über die Menschen, die zu uns wollen; über die, die in den Siedlungen in den Nachbarländern Syriens ausharren, redet kaum jemand. Dabei verschlechtert sich ihre Lage fortwährend. Die Essenszuteilungen sind rationiert, nur noch sieben Dollar kann das Welternährungsprogramm der UN im Monat für einen Flüchtling ausgeben, vor einem Jahr waren es noch 24 Dollar; Ebola, das Erdbeben in Nepal - all das hat die Kassen der NGOs geleert, und viele Geberländer bleiben ihre zugesagten Beträge schuldig. Deutschland hat zwar für die Syrienkrise in diesem Jahr bisher 225 Millionen Dollar bezahlt und Ende September weitere 112 Millionen Dollar zugesagt. Doch von den geschätzten 4,5 Milliarden Dollar, die die Nachbarländer Syriens zur Bewältigung der Krise brauchen, fehlt weiterhin ein Großteil. Die Folge: Die Familien verheiraten ihre Töchter mit 13, 14 Jahren, sie schicken ihre Kinder auf die Felder - oder sie versuchen, es auch nach Europa zu schaffen.

Vier Millionen Syrer sind seit Kriegsbeginn in die Nachbarländer geflohen, 630 000 davon nach Jordanien, ein Land mit 6,5 Millionen Einwohnern. Die meisten schlagen sich auf eigene Faust durch, kommen bei Verwandten unter oder in überteuerten Wohnungen. Sie arbeiten schwarz, weil sie keinen Job annehmen dürfen, und zu Hungerlöhnen.

Etwa ein Sechstel der Flüchtlinge lebt in einem der Flüchtlingscamps, etwa in Zaatari oder in Azraq, 50 Kilometer weiter im Südosten. Azraq ist auf rund 20 000 Bewohner angewachsen, seit Zaatari, das bisweilen über 150 000 Bewohner hatte, im Dezember einen Aufnahmestopp verfügte. Im Camp ist das Leben einfacher als draußen, dafür sorgen die rund 30 Hilfsorganisationen, die gleich am Eingang ihre Containerbüros haben, gesichert durch Mauern und Stacheldraht. Es gibt Lebensmittel-Gutscheine, morgens kostenlose Brot-Rationen, es gibt Wasser, an dem es im Land sonst mangelt, Toiletten, drei Schulen und zwei Krankenstationen. Aber das Leben hier ist auch unfrei: Die Menschen dürfen das Lager nur mit Erlaubnis verlassen, dadurch ist es schwierig, Arbeit auf dem Schwarzmarkt zu finden. Die Camps, so will es die jordanische Regierung, sollen Provisorien bleiben, keine syrischen Städte, in denen sich die Menschen auf Dauer einrichten. Acht Checkpoints umgeben das neun Quadratkilometer große Areal, die beiden Zufahrtsstraßen werden ständig kontrolliert.

Aya und Malak sticken im "Child Family Center".
Aya und Malak sticken im "Child Family Center".
© Marcel Mettelsiefen

Im Camp zu leben heißt, in Sicherheit zu sein. Für die Kinder, die Krieg und Flucht erlebt und alles Vertraute verloren haben, ist das der größte Wert.

Ein Schutzzaun umgibt die drei Holzhütten mit Zeltdach im Zentrum des Camps, mehrmals am Tag öffnet sich das Tor für die Kinder, die dann aufgekratzt hereinströmen. "Child Family Center" nennt die Hilfsorganisation Save the Children diesen Ort, drei Zelte, in denen die Kinder für ein paar Stunden unbehelligt sind von den Problemen ihrer Familien und herausgelöst aus dem täglichen Trott aus Warten, Beten, Essen und Schlafen. In einem der Zelte gibt es Lese- und Schreib-Unterricht für die, die seit Jahren nicht mehr zur Schule gegangen sind. Im Zelt daneben blättern Kinder durch ein Bilderbuch, das ihnen erklärt, was Kinderrechte sind und was Erwachsene dürfen und was nicht: nicht schlagen, sie nicht missbrauchen, die Mädchen nicht als Bräute weggeben. "Heart" steht am Eingang des größten Zeltes. Eine Gruppe Mädchen sitzt im Kreis, eine Lehrerin verteilt weißen Baumwollstoff, Nadel und Faden. Die Mädchen hocken nah beieinander, lachen und flüstern. Malak, 11, stickt ein großes M mit rotem Faden auf ihr Tuch, Aya, das Mädchen neben ihr, stickt gleich ihren ganzen Namen, weil er so kurz ist. Die beiden sind Freundinnen, seit Malak vor sieben Monaten ins Camp kam. Sie ist Anams Tochter, ein hochgewachsenes Mädchen mit Strass-Steinchen auf der Jeans und scheuen Augen.

Vor dreieinhalb Jahren floh Malaks Familie nach Jordanien, anfangs lebten sie in der eine Autostunde entfernten Hauptstadt Amman in einem Zelt, aber dann konnten sie sich das Leben dort nicht mehr leisten. Sie zogen nach Zaatari, zu Anams Schwager Bassam, und stellten ihren Container so zu seinen dazu, dass sie nun einen großen Innenhof umschließen.

Das Zaatari-Camp im Sandsturm. Hier leben 83.000 Menschen, es ist das zweitgrößte Camp der Welt.
Das Zaatari-Camp im Sandsturm. Hier leben 83.000 Menschen, es ist das zweitgrößte Camp der Welt.
© Marcel Mettelsiefen

Auf dünnen Matratzen sitzt die Familie in ihrem Hof, zwei alte Frauen am Eingang zur Küche, daneben Malak und Anam, verschleiert und im schwarzen Gewand der Beduinen, außerdem die Familie ihres Schwagers. Bassam, ein bärtiger Mann von 34 Jahren, schenkt Kaffee in kleine Tassen ein. Er ist Händler auf der "Shamzelize", ein Wortspiel aus dem Arabischen, das klingt wie "Champs- Élysées", eine kilometerlange Marktstraße im Zentrum des Lagers, Umschlagplatz für Waren aller Art. Es gibt Handys Pizza, Kinderkarren, Gaskocher, Teppiche, Süßigkeiten, Brautkleider, die man für zwölf Euro mieten kann, Fahrradreifen und Softeis. Etwa 60 Prozent der Camp-Bewohner verdienen in irgendeiner Weise Geld mit dem Handel. Bassam gehört eine Bäckerei, er verkauft Pasteten, damit hält er die Familie über Wasser; wer nichts dazu verdienen kann, dem bleibt nur, seine Lebensmittel-Gutscheine aufzusparen und zu verkaufen.

Anams Mann war Bauer, die ganze Familie war auf dem Feld, als die Soldaten kamen. "Sie schossen auf uns", sagt Anam, "wir sind auf dem Bauch zurück zum Haus gekrochen, meine Mutter haben wir auf dem Rücken getragen." Die Soldaten nahmen Malaks Vater mit. Später sahen sie ein Video, das zeigte, wie er zu Tode gefoltert wurde, und dann, wie der Leichnam weiter gefoltert wurde. Das Video lief im Fernsehen, auch Malak hat es gesehen. "Sie schlugen ihm den Kopf ein", sagt sie, und es klingt anders, als wenn ihre Mutter davon erzählt, härter, sie sagt es laut, als würde man sie sonst nicht verstehen. Einen Monat, nachdem das Video lief, ist die Familie geflohen.

Jeden Tag hat Rayya al-Shdeifar, 21, mit Kindern zu tun, die ähnlich Grausames erlebt haben wie Malak. Die Sozialarbeiterin von Save the Children fragt nicht, was sie gesehen haben, sie wartet ab, beobachtet und versucht, ihr Vertrauen zu gewinnen. "Alle Menschen sind anfangs für sie Lügner", sagt sie. "Viele Kinder sind sehr still und verschlossen, andere hyperaktiv. Manche werfen Steine auf die Bagger, die hier die Toilettenhäuer bauen, oder sie rennen davon, wenn sie ein Flugzeug hören. Die meisten sind traumatisiert. Von der Gewalt und von der Erfahrung, dass ihre Eltern auf einmal keine Stütze mehr für sie sind. Sie haben extreme Bedrohung erlebt und erleben jetzt extreme Hilflosigkeit."

Die Mädchen Aya und Malak im Gespräch mit BRIGITTE-Reporterin Meike Dinklage (M.: ein Mitarbeiter von Save the Children).
Die Mädchen Aya und Malak im Gespräch mit BRIGITTE-Reporterin Meike Dinklage (M.: ein Mitarbeiter von Save the Children).
© Marcel Mettelsiefen

Das Camp ist ein Seismograf für die Entwicklung in Syrien, sagt Rayya. "Die Familien, die vor drei, vier Jahren kamen, dachten, sie würden schnell zurückkehren, sie wollten nicht, dass wir ihre Kinder betreuen. Inzwischen bringen sie sie selbst zu uns, sie haben verstanden, dass sie eine Perspektive brauchen." Rayya und ihre Kollegen versuchen, sich mit den Kindern anzufreunden, sie wollen ihnen vermitteln, dass sie jetzt in Sicherheit sind und Spaß haben dürfen. Dafür gibt es das "Heart"- Zelt: Hier klatschen die Kinder zu "We will rock you", machen Hürdenläufe, kreischen, malen, spielen Theater.

Auch Malak geht jeden Tag in das Center. Anfangs habe sie viel geweint, sagt ihre Mutter. "Aber jetzt geht es ihr besser, sie denkt immer weniger an früher." Sie mag die Schule, am liebsten den Englisch-Unterricht, sie mag die Lehrerin.

Bassam sagt: "Sie haben unser Haus zerstört, aber nicht uns. Wir werden hier bleiben und eines Tages heimkehren." Im Camp kursieren Gerüchte: dass Deutschland Schiffe vor der türkischen Küste hat, die die Flüchtlinge direkt nach Deutschland bringen, und dass man dort für jeden Flüchtling ein Haus baut. Bassam glaubt sie nicht. Er sagt: "Ich kenne die Bilder der Toten im Mittelmeer. Zu einer Flucht, bei der Kinder sterben, breche ich nicht auf."

6000 Euro nehmen die Schlepper zurzeit für den Weg nach Europa, jeder Fünfte, sagen die Hilfsorganisationen, plant zu gehen. Etwa 200 Familien geben jede Woche ihre Container im Camp auf. Aber 80 Prozent der Menschen wollen bleiben, sie wollen noch nicht einmal das Camp verlassen, denn dort, wo es endet, hinter den Wachtürmen, liegt Jordanien. Zaatari aber ist für sie noch Syrien.

Mafraq ist eine viertel Autostunde von Zaatari entfernt, ein Ort, in dem 120 000 Jordanier und 72 000 Syrer leben. Hier sitzt Fadia auf einer Schaumstoffmatte. Putz und Farbe bröckeln von den Wänden, dabei ist das Haus neu gebaut, viele Jordanier machen ein Geschäft mit der Bedürftigkeit der Flüchtlinge. 180 Jordanische Dinar zahlt Fadia im Monat für die Wohnung, 224 Euro. Sie lebt von den Almosen der Koranschule und der Kommunalverwaltung, ob das Geld im nächsten Monat reicht, weiß sie nicht.

Fadia, 33, Mutter dreier Kinder zwischen neun und 14, wirkt fremd in dieser armseligen Wohnung. Sie ist verschleiert, nur ihre Augen sind zu sehen, ihre Augen und ihre Hände, die das, was sie sagt, untermalen könnten, aber sie tun es nicht, sie ruhen, als wäre Fadia in der Mitte ihres Lebens zum Stillstand gekommen. Ihre Tochter Nagham, 9, drückt sich an ihre Schulter; Ahmed, ihr elfjähriger Sohn, sitzt aufrecht neben ihr, die Hand an einer Haarsträhne am Hinterkopf, die er unablässig betastet, und hört mit großen, klaren Augen dem Gespräch zu.

Die Familie kommt aus Homs, Fadias Mann war Beamter, sie hatten ein gutes Leben. Seit drei Jahren wird er vermisst, vielleicht ist er tot, vielleicht in Haft. Zweieinhalb Jahre zogen sie durch Syrien, von einem Dorf zum nächsten, Fadia hatte Angst, dass auch ihre Kinder entführt würden, aber sie konnte Syrien nicht verlassen, solange sie hoffte, ihr Mann käme frei. "Er hat mir alles bedeutet", sagt sie. "Ich war hilflos ohne ihn, er hat sich immer um alles gekümmert, auch um die Schule der Kinder." Dann verkaufte sie alles, was sie noch hatte, und ging über die Grenze. Erst ins Azraq-Camp, aber Ahmed hat Asthma und konnte in der staubigen Wüstenluft kaum atmen.

"Ein Badezimmer hatten wir", sagt Ahmed, "und ich hatte ein Zimmer zusammen mit meiner Schwester." - "Ich bin Vater und Mutter in einem", sagt Fadia. "Ich fühle mich gesund, aber in mir bin ich müde. Der Krieg hat mich härter gemacht. Es ist gut, dass Ahmed bald der Mann im Haus ist." Ahmed betastet sein Haar im Nacken und lächelt.

Noch hat keine Hilfsorganisation die Kinder erreicht, noch gibt es nichts für sie zu tun, keine Schule, keine Betreuung. Die Tage sind endlos, alles, was in Syrien war, ist nah. Hier draußen gibt es nicht die Mechanismen der Camps, hier kommt die Hilfe noch nicht zu ihnen. Wer hier strandet, der läuft Gefahr, doppelt vergessen zu werden: Als Syrer, der zu schwach, zu arm ist, um nach Europa zu kommen, und als Mensch, der alleingelassen ist mit seinen Erinnerungen.

Hilfe vor Ort

Save the Children engagiert sich seit 1985 für die Kinder in Jordanien. Seit März 2011, dem Ausbruch des Bürgerkriegs, unterstützt die Organisation syrische Kinder und ihre Familien. Sie sorgt dafür, dass die Flüchtlingskinder zur Schule gehen können, dass Mädchen und Jungen in kinderfreundlichen Räumen psychosozial betreut werden und auf diese Weise ein Stück Normalität erhalten. Sie verteilt Kleidung, Ge- brauchsgüter und Nahrungsmittel. Zudem bekommen Familien Gutscheine sowie Geldleistungen und, beispielsweise durch Ausbildungsprojekte, eine Existenzgrundlage.

Text: Meike Dinklage Fotos: Marcel Mettelsiefen BRIGITTE 23/2015

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