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Body Positivity Natürlichkeit statt Selbstoptimierung

Body-Positivity: Natürlichkeit statt Selbstoptimierung: Marteline Nystad
© Marteline Nystad
Einmal jährlich wird der renommierte Nannen-Preis für besondere publizistische Leistungen verliehen. Unter den Preisträger:innen war im Jahr 2020 auch die Fotografin Marteline Nystad, die für ihre Bilder in dem BRIGITTE-Dossier "Die Körperrevolution" ausgezeichnet wurde. In diesem Dossier-Auszug fragt sich BRIGITTE-Redakteurin Alexandra Zykunov: Verändert Body Positivity wirklich den Umgang mit uns selbst?

Ich habe ein Problem. Ich bin 1,72 Meter groß und wiege 74 Kilogramm. Damit habe ich kein Problem, aber damit, dass ich mich immer schlanker einschätze, als ich bin. Wenn ich im Laden nach einer Hose greife, denke ich: Da passe ich doch locker rein. Um sie in der Umkleide nicht mal über meine zusammengepressten Oberschenkel zu kriegen. Meine Freundinnen sagen: "Freu dich doch, du hast eben ein positives Bild von dir." Joa, man könnte es auch realitätsfremd nennen. Zumindest weiß ich genau, woher diese Fremdwahrnehmung kommt. Von überall da, wo ich schlanke Menschen sehe. Sie stöckeln durch meine Serien und durch die Werbepausen dazwischen, sie kämpfen gegen Zombies in den Daddelspielen meines Mannes, tragen Hipsterkleidung in meinen Lieblingsshops und grinsen mich aus meinem Instagram-Feed fröhlich an. Sie sind 24/7 in meiner Realität, folglich sind sie meine Realität – und die Realität von uns allen. Das ist ein Problem.

Kurvige, dellige und hängende Frauenkörperteile

Doch nun ändert sich etwas. Denn in eben dieser Realität macht sich eine Gegenbewegung breit, die vor wenigen Jahren nur in einschlägigen Blogs in den hintersten Ecken des Internets ihre Gefolgschaft fand. Eine Bewegung, die auffällt, aufstößt und, ganz ehrlich, fürs Auge kaum zu ertragen ist. Weil sie uns zwingt, kurvige, dellige, hängende – ja, fette Frauenkörperteile zu sehen. Körper, die nicht als schön gelten, deshalb seit Generationen unsichtbar gemacht und für unnormal erklärt werden – obwohl, und das ist das Perfide daran, sie der ganz normale Durchschnitt unserer Gesellschaft sind.

"Es ist längst belegt, dass das in den Medien vorgelebte Körperbild großen Einfluss auf unsere Körperwahrnehmung hat", sagt Ada Borkenhagen von der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, die den Zusammenhang zwischen Essstörungen und Medienkonsum erforscht. Bisher konnte man die Studien vereinfacht so zusammenfassen: Junge, dünne, weiße Frauen der Social-Media- und Popkultur treiben ihre Fans zu Hunderttausenden dazu, sich dellig, fett und hässlich zu fühlen. Die neue Entwicklung aber ist: Im Jahr 2019 erreichen plötzlich auch die Dicken eine Gefolgschaft von Hunderttausenden. Was die These nahelegt, dass füllige Frauen denselben Einfluss auf unsere Körperwahrnehmung haben könnten, aber umgekehrt, sagt Borkenhagen. Das wurde bisher nur noch nicht erforscht – weil der Trend so jung ist. In einer aktuellen Umfrage von BRIGITTE und YouGov sagt aber schon jede zweite Frau, dass sie sich wohler in ihrem Körper fühlt, je mehr kurvige Frauen sie in den Medien sieht. 

107.000, 411.000, 1,8 Millionen – die Follower von Fat-Aktivistinnen wie der deutschen Visagistin Charlotte Kuhrt, der US-amerikanischen Yogalehrerin Jessamyn Stanley oder dem britischen Plus-Size-Model Tess Holliday sprechen auch so Bände. Sie nennen sich selbstverständlich "dick" und kämpfen dafür, die Bezeichnung wieder zu dem zu machen, was es mal war: einfach einem Wort, das eine von vielen Körperformen beschreibt. Wertfrei und ohne vorgehaltene Hand.

Achsel-Vaginas – Ein ganz normaler Frauenkörper

"Zwei Mädchen haben mir vergangenen Sommer geschrieben, dass sie zum ersten Mal im Leben einen Bikini getragen haben. Wegen mir", sagt Melanie Jeske, besser bekannt als Melodie Michelberger. Die deutsche "Body-Image-Aktivistin" postet bei Instagram selbstverständlich Fotos von sich in Unterwäsche, im Schneidersitz, auf einem Hocker, in Größe 44. Sie grinst in die Kamera, während sich ihr Bauchfett übers Schlüppibündchen legt und ihre "Armpit Vulvas" zum Vorschein kommen. Achsel-Vaginas – dieser unsägliche Name für die Fettspalte zwischen BH-Träger und Oberarm.

Ein ganz normaler Frauenkörper eben. Nur dass er für unser Auge ganz und gar nicht normal ist. "Wir alle haben exakt dieselben Sehgewohnheiten", sagt Michelberger, "was dazu führt, dass Milliarden Frauen weltweit diese eine Minderheit der weißen, dünnen, jungen Frau anbeten. Das ist doch nicht normal!" Ihre Fotos sind radikal, sie stören und, seien wir ehrlich, sie sind nicht das, was man als schön bezeichnen würde. Zuerst.

Denn sie machen etwas mit mir. Weil ich Melodies Bilder jetzt täglich auf meinem Smartphone sehe, passieren zwei Dinge. Plötzlich schauen die sonst so "normal" dünnen Influencerinnen erschreckend ungesund aus – das überrascht und irritiert zugleich. Und zweitens: Die eigenen Körperbaustellen im heimischen Badezimmerspiegel erscheinen erstmalig irgendwie normaler.

Natürlichkeit statt Selbstoptimierung

Auch Corinna Mühlhausen, Gastprofessorin für Trend- und Zukunftsforschung an der Technischen Hochschule Lübeck, beobachtet dieses Phänomen und spricht von einer in der Moderne noch nie dagewesenen Wende: weg von der Selbstoptimierung hin zur Natürlichkeit. Das Jahr 2019 als Zäsur? Warum gerade jetzt?

"Wenn du überall hörst, das ist das Jahrtausend der Frauen, Frauen können alles, gehen auf die Straße, decken Missstände auf, bringen mächtige, männliche Entscheider zu Fall – dann macht es etwas mit dir", sagt Mühlhausen. "Sie befreien sich von einem Diktat, dem Diktat des unbedingten Fitness-Lifestyles." Das heißt nicht, dass die Leute ungesünder leben, "aber sie gehen weg vom Äußeren hin zu einem Gefühl: Was tut mir gut? Das kann Joggen sein. Oder eben auch sich hinlegen und schlafen."

Kein Wunder also, dass sich an dieser Stelle auch kritische Stimmen melden, die der Bewegung unterstellen, sie würde Dicke in ihrem ungesunden Lebensstil bestärken. Nur basiert eben dieser Gedanke auf einem ebenfalls seit Jahrzehnten tradierten Argument: Dicksein bedeutet ungesund leben.

Schubladendenken der Gesellschaft

"Die Gesundheitsrisiken von Fettleibigkeit werden überschätzt", schrieb erst kürzlich das Magazin "Psychologie Heute" und zitierte die "Düsseldorf Obesity Mortality Study" der Uni Düsseldorf, die mehr als 6.000 adipöse Menschen über drei Jahrzehnte lang beobachtete. Das erstaunliche Ergebnis: Personen, die als offiziell fettleibig gelten, werden überhaupt nicht häufiger krank als schlankere Menschen. Naturgemäß gibt es auch hier Gegenstudien, doch auch die Internistin Dr. Anne Fleck sagt zum Beispiel: Treibt eine 80-Kilo-Frau Sport und eine 60-Kilo-Frau nicht, lebt die Fülligere oft sogar gesünder. Nicht die Kilos sind entscheidend, sondern wie gesund der Stoffwechsel ist und wie viel entzündliches Fett sich im Bauchraum um die Organe speichert. Und das kann man von außen ganz einfach nicht sehen! Punkt.

Doch bevor jetzt einige schreien: "Das ist ja hier voll der Freifahrtschein, sich nur von karamellisierten Burgern zu ernähren!" Natürlich nicht. Und natürlich ist auch Bewegung wichtig. Nur: Allein dass man diesen Gedanken hier überhaupt zu Papier bringen muss, zeigt, in welchen Schubladen wir immer noch denken. Für eine Gesellschaft, die seit einem Jahrhundert auf Schlankheit getrimmt ist, ist eine fitte Fette eben immer noch ein Mindfuck.

Zumindest bis jetzt. Denn wenn die sozialen Netzwerke plötzlich Hunderttausende von Frauen positiv in ihrer Körperwahrnehmung beeinflussen und auch die Medizin ihr propagiertes Verständnis von Dicksein = ungesund mehr und mehr differenziert, dürfte doch auch die Modeindustrie, die alles ab Größe 42 als Plus-Size degradiert, keine andere Wahl haben, als mitzuziehen. Das Erstaunlichste: Sie tut es tatsächlich auch.

Der Moderiese H&M lichtete im Sommer 2018 Unterwäschemodels mit sichtbaren Dehnungsstreifen an Schenkeln und Po ab. Ja okay, sie waren immer noch dünn, aber immerhin. Das in den USA bekannte hippe Unterwäsche-Label "Aerie" zeigt seine Models jetzt komplett ohne Photoshop, dafür mit Fettfalten, Haaren und – Achtung – Armpit Vulvas. Ergebnis? 40 Prozent mehr Umsatz. Und der weltweite Onlineshop Asos probierte vergangenes Jahr ein Tool aus, das ein- und dieselbe Klamotte neben dem schlanken Model einen Klick weiter an einer dicken Frau zeigte. So ganz selbstverständlich quasi. Auch hier war das Echo gigantisch, der Shop tüftelt jetzt unter Hochdruck daran, das Tool fertig zu kriegen.

Darf Frau wieder dick sein? – Nein!

Aus purer Nächstenliebe geschieht das sicher nicht. Die Marken haben Angst. Sorge, den Anschluss zu verpassen, so wie "Victoria’s Secret" gerade. Das Unterwäsche-Label, das einst bombastische Erfolge feierte, weil es halb nackte Über-Schönheiten über den Laufsteg glitzern ließ, büßte mit seinem Mutterkonzern in zwei Jahren mehr als die Hälfte des Aktienwertes ein. Das Unternehmen steht da wie ein Fossil, das den Schuss nicht gehört hat. Und die Frau? Straft es ab. Danke, nein, danke. Haben wir es also überwunden, dieses überzüchtete Überschönheitsideal?

Darf Frau wieder dick sein, ganz offen, öffentlich und offensichtlich? Leider nein, sagen Kritiker. Gerade im Job gibt es noch viel Ungerechtigkeit. Und gerade feministische Stimmen fragen, warum sich auch bei dieser Bewegung wieder alles um das weibliche Aussehen drehen muss. Dass sich Menschen irgendwann nicht mehr für ihr Äußeres interessieren, sei aber utopisch, sagt Trendforscherin Mühlhausen. Weil wir so programmiert sind. Weil wir ein anthropologisches Bedürfnis haben, dazuzugehören und anerkannt zu werden.

Dass wir also unsere Körper vergleichen, wird sich nicht ändern. Was sich aber ändern kann, und das tut es, sind die Maßstäbe, anhand derer wir urteilen. Das zu ignorieren, würde die Errungenschaften dieser Bewegung zunichte machen. Auch wenn immer noch schlanke Überschönheiten durch meine Serien stöckeln. Doch die neuen Bilder bringen mir etwas bei.

Sie lehren mich, endlich Ruhe zu finden vor dem Selbstshaming in der Umkleidekabine. Natürlich werde ich meine Armpit Vulvas jetzt nicht mit einem morgendlichen High Five begrüßen. Stattdessen aber kann ich mich fragen, ob ihre Namensgeber eigentlich keine anderen Probleme hatten. Und beobachten, was es mit mir macht, wenn ich die Fettpolster an immer mehr fremden Frauenarmen sehe. Und mir meine irgendwann egal werden. Anstatt sie und darüber ein Stück weit mich selbst zu hassen. Genau darin liegt die Kraft dieser Revolution.

Marteline Nystad fotografiert eigentlich Models. Mit ihren nackten Selbstporträts will sie unsere Sehgewohnheiten stören – und ändern. 

Alexandra Zykunov will sich und ihre "Armpit Vulvas" nicht mehr in ein Schönheitsideal pressen, das sich vor 100 Jahren irgendein Horst ausgedacht hat.

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Dieser Artikel erschien 2020 in einer Ausgabe der BRIGITTE und ist auch im November 2022 noch erschreckend aktuell. 

BRIGITTE 12/2019

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