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Kindstötung: Die Geschichte eines Verbrechens

Irgendwo in Deutschland wird ein totes Baby gefunden. In einer Kühltruhe. In einem Schrank. In Eimern und Kübeln, wie die neun Kinder in Brieskow-Finkenheerd vor drei Jahren. Man liest über die Eltern, die Ermittlungen, den Prozess. Was passiert mit den Babys? Die Geschichte eines Verbrechens - und seiner Bürokratie.

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Am Ende steht man auf einem kleinen Stück Rasen, auf dem nichts ist, nur eine Hecke aus dürren Sträuchern, die Äste sehen aus wie Struwwelpeter- Hände, die nach dem Himmel fassen. Der Boden ist moosig, das Gras liegt in Büscheln darauf und drückt die Tropfen, die an diesem kühlen Morgen an ihm hängen, in die Erde. An einer Stelle steht eine niedrige Tanne, ein Gesteck liegt dabei. Vielleicht dort. Oder an der Stirnseite der Wiese, wo es aussieht, als könnte dort gegraben worden sein.

Neunmal müssen sie in den Boden gestochen haben, für neun kleine Särge. Niemand von der Familie war dabei, am 4. Dezember 2007, morgens um acht Uhr, fast noch im Dunkeln. Nur ein Angestellter vom Bestattungshaus Ulrich Möse. Irgendwo hier. Auf diesem Feld. Auf dem Abschnitt des Hauptfriedhofs von Frankfurt/Oder, der "Kindergarten-Reihengräber" heißt, weil hier die Kinder unter fünf beerdigt werden. Drüben, in Sichtweite, liegen Gräber mit Maikäfern und Baby-Spielzeug darauf, mit Stoff-Fröschen und Engeln und Plüschhasen, Gräber, die aussehen wie erkaltete Spielzimmer, mit Kreuzen, auf denen "In Liebe unvergessen" steht. Und Namen. Chanice, Cassandra, Jessica.

Die neun Geschwister auf der kleinen Wiese gegenüber in ihren verborgenen Gräbern, sieben Mädchen und zwei Jungen, bleiben anonym. "Der Mutter wäre es zynisch vorgekommen", sagt ihr Anwalt Matthias Schöneburg, "ihnen nun noch Namen zu geben."

Auch einen Nachnamen haben sie nicht, nur ein H., das ist die Chiffre, unter der die Öffentlichkeit die Kinder kennt: die Kinder von Sabine H., 42, und ihrem Ehemann Oliver H., 45. Die neun toten Babys von Brieskow-Finkenheerd. Geboren zwischen 1988 und 1998. Verscharrt in Eimern und Kübeln auf dem elterlichen Balkon. Totschlag durch Unterlassen. Der spektakulärste Fall der deutschen Kriminalgeschichte.

Am Anfang steht eine Meldung, dass irgendwo in Deutschland ein totes Baby gefunden wurde, in einer Tiefkühltruhe wie Anfang Mai in Möllmicke im Sauerland. In einer Plastiktüte im Schrank, wie im Februar in Nauen. In einem Koffer im Keller, wie im sächsischen Plauen im November. Oder in Gefäßen und Eimern in einem Schuppen, wie im Sommer 2005 in Brieskow-Finkenheerd in der Nähe von Frankfurt/Oder. Und dann ist die Geschichte meistens schon zu Ende. Von den Babys hört man nie wieder etwas. Man denkt, sie werden bald bestattet.

Aber so ist es nicht. Wenn ein totes Baby gefunden wird, dann ist es erst eine Meldung, dann ein Beweismittel. Schließlich ein behördliches Problem, denn tote Babys haben keine Papiere. Es gibt kein Standardverfahren, dessen Ziel es wäre, so ein Kind möglichst bald unter die Erde zu bringen, um ihm zum Ende hin ein klein wenig Würde zu geben. Es kann Jahre dauern. Bei den neun Babys von Brieskow-Finkenheerd waren es fast zweieinhalb. Neun Kinder, die nicht auf und dann nicht unter die Erde konnten.

Die Geschichte beginnt 1988, mit dem ersten Baby, das die Mutter sterben lässt. Es fällt in die Toilette, eine Sturzgeburt, sie zieht es heraus, wickelt es in eine Decke, dann in einen Müllsack, vergräbt es in einem mit Sand gefüllten Aquarium auf dem Balkon, sitzt noch am nächsten Morgen daneben.

Natürlich beginnt die Geschichte früher, in Sabine H.s Kindheit, es muss Gründe geben, aber sie kennt sie nicht.

Ein paar Kilometer südlich von Frankfurt liegt Brieskow-Finkenheerd, Sabine H.s Heimatdorf, 2700 Einwohner. Ihr Elternhaus ist ein graues Anwesen hinter einem braunen Zaun, vier Tannen davor, eine Jalousie ist heruntergelassen. Wenn man eine Weile beim Haus steht, vor dem nichts geschieht, weil die einzige Bewegung in diesen Ort die Bundesstraße 112 nach Eisenhüttenstadt bringt, kommt den Leuten die Wut wieder hoch, auf die Neugierigen, die im Sommer 2005 tagelang das Dorf belagerten, und einer ruft "Was wollt ihr hier" über die Straße, "was kann denn die Familie dafür?"

Die Mutter, Mitte 80, wohnt noch dort, auch eine der beiden älteren Schwestern von Sabine H. Sie war die jüngste Tochter, "das Nesthäkchen", so sagt sie selbst vor Gericht, sie benutzt das Wort häufig, es liegt Unschuld darin. Sie nennt ihre Kindheit "recht glücklich", unpersönlich vielleicht, sie sagt: "Es gab wenig Liebevolles." Der Vater war bei der Bahn, die Mutter Hausfrau. Sabine H. will Abitur machen, Fotografin werden oder Dekorateurin, aber sie packt es nicht an, "es gab zu Hause nie Gespräche, dass man sich mal an einen Tisch gesetzt hätte, bis heute nicht".

Sie geht von der Schule ab, wird Zahnarzthelferin und mag den Beruf nicht. Sie lässt ihr Leben geschehen. Lernt mit 17 Oliver H. kennen, ist gleich schwanger, heiratet ihn, merkt lange nicht, dass er bei der Stasi ist. Er erzählt ihr, er sei in der Bauwirtschaft. Sie wird Mutter mit 18 und mit 19, dann will er nicht mehr, keine Kinder mehr, zwei Jahre später kommt noch eines, da beschimpft er sie schon oder schweigt nur noch. In ihrem Leben ist es jetzt wieder so sprachlos wie bei den Eltern. Dann geht es los.

Der Plattenbau, in dem die H.s wohnten, liegt in Frankfurt/Oder am Platz der Demokratie 1, zu DDR-Zeiten die Otto-Grotewohl- Straße. Die Straßenbahn hält direkt davor, Haltestelle Hauptfriedhof. In die Bäume vor dem Wohnblock, elf Stockwerke, hat der Wind Müll geweht, leere Tüten hängen in den Ästen, die an den Balkon mit der blauen Front tippen, da, wo die Babys lagen.

Sie konnte vom Balkon aus hinübersehen zum Friedhof, der groß und eingewachsen daliegt. Das Eingangstor öffnet sich in der Mitte zu zwei geschwungenen Flügeln wie die von Engeln, schwere, metallene Flügel. Vielleicht gab die Nähe zu den Gräbern Sabine H. das Gefühl, die Kinder auf ihrem Balkon wären wie beigesetzt, aus ihrer Welt genommen und in die Erde gegeben. Nur eben anders.

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1988 ziehen die H.s mit ihren drei Kindern ein, Stasi-Block nennen die Leute den Bau, weil nur Stasi-Mitarbeiter dort wohnen. Leute wie Oliver H., wachsame Menschen, von Berufs wegen. Man duzt sich, bleibt aber für sich. Von den Geburten Wand an Wand will niemand etwas wissen.

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Sabine H. sagt vor Gericht, dass mit dem Umzug in dieses Haus das Unglück begann. Sie fühlt sich eingesperrt, isoliert, beginnt mit dem Trinken, erst abends in der Küche, Bier aus seinem Kasten. Dann mehr, auch tagsüber, morgens, vertuscht die Fahne, versteckt ihren Bauch. Alles wird Fassade, sie versorgt die Kinder, geht zur Arbeit, verkauft Versicherungen im Außendienst, die Familie macht Urlaub mit dem Wohnwagen, fährt ins Riesengebirge und an die polnische Ostseeküste. Es ist ein Doppelleben.

Nur ein Kind, das zweite der neun, bekam sie nicht in diesem Wohnblock. Ein Junge, er kam im Mai 1992 auf die Welt bei einer Fortbildung in Goslar. Sie ließ ihn zwischen ihren Beinen liegen, noch an der Nabelschnur, und als die Kollegin, mit der sie das Zimmer in der Pension teilte, hereinkam, zog sie die Decke darüber. Später legte sie ihn in ihren grünen Sommermantel, packte ihn mit dem Bettzeug in die Reisetasche und nahm ihn mit nach Hause. Sie vergrub ihn neben dem Aquarium auf dem Balkon in einer Plastikwanne.

Die Umstände der ersten beiden Geburten gibt sie preis. Die anderen sind ihr in einem Nebel aus Alkohol, Verdrängung, Angst, Selbstbestrafung oder Gleichgültigkeit abhandengekommen. Es ist nicht zu klären, warum sie sich nicht erinnert, nicht, ob sie wirklich alles vergessen hat oder ob sie schweigt, um ihren Mann zu schützen. Oliver H. sagt, er habe von den Schwangerschaften nichts gemerkt. Seine Mitschuld ist unbewiesen. Sie sagt vor Gericht, dass sie immer hoffte, er würde etwas merken, etwas sagen, aber er schwieg und schlief mit ihr, ein-, zweimal die Woche, ihrem an- und abschwellenden Körper zum Trotz. Sieben Jahre, 1992 bis 1998, ist sie fast durchgehend schwanger. Sie verhütet nicht, sie weiß nicht, wieso. Sie treibt nicht ab, sie hat Angst, ein Arzt würde dann die Spuren der vielen Entbindungen erkennen.

Das letzte der neun Geschwister kommt im Spätherbst 1998 auf die Welt. 2001 zieht Oliver H. aus, und Sabine H., nun haltlos, trinkt immer mehr. Sie kommt bei Bekannten unter, wird noch mal schwanger, eine Tochter, sie ist jetzt vier und lebt bei Pflegeeltern.

Als ihre Wohnung am Platz der Demokratie am 22. August 2003 zwangsgeräumt wird, lässt Sabine H. die Behälter vom Balkon mit einer Spedition auf den Hof ihrer Mutter bringen. Niemand solle sie anrühren, sagt sie, es seien wertvolle Knollen darin. Sie lässt sie im Schuppen abstellen, Eimer, Töpfe, ein Korb, eine Plastikwanne, ein Aquarium.

Am 31. Juli 2005, nachmittags, kippt ihr Neffe das Aquarium aus.

"Mensch oder Tier", sagt Harald Voß, "das ist immer die erste Frage." Aber hier wusste er gleich: Mensch. Woran man das erkennt? Voß lächelt. "Das sehen wir."

Harald Voß, 46, ist ein freundlicher, robuster Mann, blond, ein wenig blass, seit 24 Jahren Pathologe. Er ist einer von drei Gerichtsmedizinern am Brandenburgischen Landesinstitut für Rechtsmedizin, Außenstelle Frankfurt. Am 31. Juli 2005 hatte er Bereitschaft, und dass das Telefon sonntags klingelte, überraschte ihn nicht. Sonntags räumen die Leute ihre Gärten auf und finden in den Beeten Knochen, die sie nicht zuordnen können. Von Vögeln oder Ratten. Dann rufen sie die Polizei, und die ruft die Rechtsmedizin, um sicherzugehen, und dann kommt Harald Voß.

Er sieht sich noch da hocken, vor einem Erdhaufen, das Aquarium daneben, ein niedriger Glasbottich, grün eingewachsen an den Seiten. Darin ein blauer Müllsack, den er öffnet. Das Bild hat sich ihm eingeprägt, "aber trotzdem", sagt er, "werden Sie nicht erleben, dass ich Ihnen hier etwas über meine privaten Empfindungen mitteile". Harald Voß ist kein Zyniker, nur routiniert.

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Sie leeren die Gefäße nach und nach, 40 Ermittlungsbeamte sind schließlich bei den Schuppen und die Staatsanwältin Anette Bargenda, sie leeren eine Plastikwanne, einen Kochtopf, einen Korb, mehrere Eimer, die Kübel stehen übereinander, in manchen ist nur Sand, Atem holen, dann wieder ein Eimer mit Knochen, kleine Schädel, verformt, weil die Schädelplatten noch nicht zusammengewachsen waren, als die Erde auf sie fiel.

Seltsame Gegenstände liegen dabei, Puppenteller, Klopapier, Handtücher, eine leere Packung für WC-Einhänge, Damenbinden, eine Schraube, acht Kronkorken, wahllose Grabbeigaben, der Müll hat mit den Leichen überdauert. Bis zum Abend sind es neun Babyleichen, und Harald Voß denkt: "Da sezieren wir morgen durch."

Die Kinder waren wieder da. Zurück in der Welt. Geborgen als seifige Masse, die Konturen erkennbar. Bei einem finden sich noch Nabelschnur und Nachgeburt, konserviert durch das Fettwachs. Harald Voß sagt, dass das von den Folientüten kommt, "da verwandelt sich Körperfett in eine laugenähnliche Substanz, die den Leichnam umgibt".

Die Polizisten füllen die Überreste zurück in die Gefäße. Ein Leichenwagen kommt, die Fenster abgedunkelt. Der Bestatter lädt die Kübel ein, so muss es sein, nach dem Brandenburgischen Bestattungsgesetz müssen "Leichen in Fahrzeugen befördert werden, die ausschließlich für den Transport von Särgen und Urnen bestimmt sind". Das Gesetz macht keinen Unterschied, es macht aus rostigen Eimern Särge und aus neun verscharrten, vergangenen Körpern menschliche Wesen. Es hat den Anschein, als wäre dieser Moment der einzige zutiefst humane in der Biografie der neun Kinder: weil sie nun behandelt werden wie Verstorbene, mit Pietät, Respekt, mit einer Fahrt in einem Leichenwagen, wie Tote, um die man trauert.

Über Nacht stehen die Behälter aufgereiht in der Pathologie, am 1. August morgens um halb acht schütten Voß und seine Kollegin Ragna Drescher den ersten auf den metallenen Seziertisch. "Wir haben uns die Behälter vorgenommen, wie sie kamen. So haben wir sie auch durchnummeriert, nicht nach Alter, das war nicht mehr zu bestimmen", sagt Voß.

Babyleichen eins bis neun. Voß diktierte, Ragna Drescher untersuchte. Schaute nach Frakturen, entnahm DNA-Proben zur Geschlechtsbestimmung und für den Vaterschaftstest, zwei Jungen, sieben Mädchen, Vater in allen Fällen Oliver H. Sie maßen aus, was sie fanden, die Knochenlänge lässt Rückschlüsse auf den Monat der Entbindung zu. Alle Kinder waren voll ausgetragen worden.

Harald Voß sitzt im Pausenraum der Rechtsmedizin, die in den Baracken eines ehemaligen Polizeigeländes an der Nuhnenstraße im Süden der Stadt untergebracht ist, ein Tor davor, kein öffentlicher Zutritt. Der Pausenraum ist eng, mehr trist als schlicht, eine Spüle, eine Mikrowelle, auf dem Tisch liegt ein geblümtes Wachstuch, kein Raum für Soziales, nebenan liegen die Toten in ihren Kühlfächern. Einen Jungen hatte er heute morgen auf dem Tisch, ein halbes Jahr alt, verhungert, 200 Meter Luftlinie vom Platz der Demokratie entfernt, die Leipziger Straße hoch Richtung Zentrum, Florian. Eigentlich müsste an einerder sieben Zellen im Kühlraum ein Leichenlagerungsschein angeheftet sein. Aber Voß und seine beiden Kollegen wissen immer genau, welche Zellen in Betrieb sind.

Fast zweieinhalb Jahre war Fach Nummer zwei in Betrieb. Mitte links, sagen die Pathologen, die Nummern benutzen sie nicht, wenn sie untereinander reden. Mitte links bei vier Grad Celsius in neun Metallschalen, jede 58 Zentimeter lang, 40 breit und sechs Zentimeter tief, über Kreuz gestapelt wie ein Jenga-Turm. Pro Baby eine Schale. Bei zweien, die skelettiert waren, versuchten sie, die Knochen zu einem menschlichen Ganzen auszulegen.

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Voß holt seinen Atlas des Menschen. Die Beschriftung der Körperteile ist auf Kyrillisch, er hat in der Ukraine studiert. Er schlägt die Seite mit dem Skelett eines Neugeborenen auf, die Knochen braun, der Knorpel blau, viel mehr Knorpel ist an einem Menschen, als man denkt. Knorpel vergeht. Gewogen haben sie nichts, sagt Harald Voß, "es nützt nichts, eine faule Leiche zu wiegen".

Später sagt er dann doch, dass ihm tote Kinder auf seinem Seziertisch nahegehen, gerade wenn sie das Alter seines Sohnes haben. Je älter der Junge wird, je mehr kommt sein Mitleid in die Jahre. Jetzt ist er elf. Fast zweieinhalb Jahre liegen die neun Babys Mitte links, bei vier Grad. Künstlich auf der Erde gehalten. Sie sind nun Asservate, Beweismittel in einem laufenden Verfahren.

Sabine H. wird der Prozess gemacht. Sie schweigt während des Verfahrens, ihr Anwalt rät es ihr. Das Urteil ergeht im Juni 2006, 15 Jahre Haft. Die Staatsanwaltschaft will die Leichen freigeben, der Richter hält sie zurück, denn Sabine H. geht in Revision, und man weiß nicht sicher, ob man die Beweismittel noch braucht. Nur noch wenige Male öffnen die Rechtsmediziner die Kühlfächer, für weitere DNA-Proben, aber die bringen nichts Neues; und um die Knochen nochmals auf Brüche hin zu untersuchen, aber man kann nicht eindeutig sagen, ob sie vor oder nach Eintritt des Todes entstanden sind.

Der Bundesgerichtshof bestätigt das Urteil im April 2007, verlangt aber, dass die Schuldfähigkeit der Mutter neu geprüft wird, weil das erste Urteil ihre Alkoholsucht und Persönlichkeitsstörungen nicht ausreichend berücksichtigt habe. Ein neues Gutachten muss erstellt werden, es wird Herbst. Sabine H. wartet in der JVA Luckau-Duben auf ihren Prozess. Anfang Oktober schließlich gibt das Landgericht Frankfurt die Leichen frei.

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"Keine Stadt ist froh, wenn sie so was hat", sagt Sven-Henrik Häseker in seinem saalgroßen Büro im Rathaus, die Decken mehrere Meter hoch. Häseker ist Sprecher der Stadt Frankfurt/Oder, fliederfarbenes Hemd, schwarze, zurückgegelte Haare, bemüht zu erklären. Er würde gern mehr erzählen, aber die Maßgabe der Verwaltung lautet Zurückhaltung. "Wir haben sowieso schon ein Image- Problem", sagt er. "Die Leute ziehen weg, von knapp 90 000 Menschen vor der Wende leben hier noch 61 000. Eine sterbende Stadt."

Er zeigt auf den Stadtplan an der Wand. Die Plattenbauten sollen weg, auch der Wohnblock, in dem die H.s am Platz der Demokratie wohnten, wird abgerissen, Parks und Grünflächen sollen entstehen. Frankfurt/ Oder hat Platz, aber keine Kinder, für nächstes Jahr rechnet man mit nur noch 200 Geburten. Schulen machen zu. "Da sind neun tote Babys, die jahrelang unbemerkt bleiben, nicht gerade eine positive Reklame."

Die Stadt möchte ins Reine kommen. Sie bietet an, für die Beisetzung zu sorgen.

Das Amt in Brieskow-Finkenheerd hat bereits abgewinkt: Es verweist auf die Satzung des kommunalen Friedhofs, nach der dort nur Einwohner des Ortes beerdigt werden können. Die toten Babys aber sind nirgendwo Einwohner. Brieskow-Finkenheerd erklärt sich für nicht zuständig. Keinesfalls will man Pilgerstätte werden, durch ein Grab daran erinnert, das Dorf der toten Babys zu sein.

Häseker sagt: "Wir wollten eine würdige und angemessene Zeremonie. Die Sache ist vielen hier sehr nahegegangen, das sind ja auch Mütter und Väter. Aber es war kompliziert." Zum einen muss man Oliver H. dazu bringen, sich um die Kinder zu kümmern. Er, der nicht einmal von ihnen gewusst haben will, ist nun als Vater in der Pflicht: Eltern sind bestattungspflichtig, nach dem Brandenburgischen Bestattungsgesetz ist der ältere der beiden Elternteile zuständig. Oliver H. muss seine Kinder unter die Erde bringen.

Zum anderen braucht man für das Begräbnis die Sterbeurkunden, aber es gibt keine, da es keine Geburtsurkunden der neun Babys gibt. Es gibt nur die Totenscheine aus der Rechtsmedizin. Die Geburtsurkunden wiederum können nicht einfach ausgestellt werden, weil die Kinder keine Namen haben. Erst müssen die Eltern entscheiden, ob sie die Kinder noch benennen wollen. Nichts passiert. Die Stadt erwägt eine Zwangs-Namensvergabe.

Es dauert noch einmal zwei Monate. Die Babys liegen gestapelt im Kühlfach.

Schließlich wird Oliver H. von der Stadtverwaltung aufgefordert, sich um die Beerdigung zu kümmern. Er kontaktiert ein Bestattungsunternehmen, das vereinbart mit dem Ordnungsamt Stillschweigen über den Vorgang. "Das Standesamt hat sich dann zu einem Provisorium entschlossen", sagt Häseker, "und eine Vorbeurkundung des Sterbevorgangs vorgenommen." Damit kann der Bestatter schließlich seine Arbeit tun.

Am 4. Dezember 2007 ist es soweit. Die Mutter wird über den Termin nicht informiert. Sie erfährt es Tage später aus der Zeitung. Ihr Anwalt Matthias Schöneburg sagt, sie war enttäuscht. Sie wäre nicht hingegangen, aber sie hätte es im Stillen mit sich abgemacht.

Am 14. Februar 2008 beginnt das Revisionsverfahren um das Strafmaß vor dem Landgericht Frankfurt/Oder, Raum 007, ein moderner Saal mit Parkett und schweren Holzbänken, übergroß. Sabine H. kommt durch die Seitentür in Handschellen herein, weiße Bluse, geschminkt, frisiert, der Pony in Strähnchen gezupft, die Fassade intakt; eine kleine, schmale Frau mit harten Zügen, hinter denen man noch das Trinkergesicht ahnt; sie sagt, vorgebeugt, die Schultern hochgezogen, als säße sie auf den Händen: "Meine Gefühlswelt, wenn ich da mehr wüsste."

Sie ringt sich das ab. Sie will reden, aber sie weiß nicht, was. Viele Sätze bleiben halb, keiner erklärt irgendwas. Sie sagt, da sei "weniger als nichts" an Erinnerung, "nicht mal ein schwarzes Loch, nichts. Es ist wie eine Luftblase, in der man hängt". Wie tief, wie echt die Amnesie ist, bleibt so unklar wie die Gründe für die Tat, die Gutachter können es nicht gewiss sagen. Klar bleibt nur die Schuld. Und dass die Rolle ihres Ex-Mannes nicht fassbar wird.

Sie sagt: "Ich habe wohl zugeguckt, es zugelassen und getrunken."

Sie sagt: "Ich habe mich über jedes Kind gefreut, sonst würde ich mich ja gar nicht mehr kennen."

Sie sagt: "Ich würde jedes Strafmaß aushalten, wenn ich nur wüsste. Aber ich kann es selbst nicht erklären." Sie sagt: "Ich habe nie daran gedacht, ein Kind zu töten. Die hätten alle bei mir Platz gehabt." Sie sagt: "Ich habe jedes der Kinder geliebt. Es waren meine."

Sie muss immer dagesessen haben, in Blut und Nachgeburt, auf dem Badezimmerboden, im Bett, neben der Toilette, wo auch immer sie die Kinder bekam, in einer Vier-Zimmer-Wohnung sind die Möglichkeiten begrenzt. Was die heranwachsenden Kinder mitbekommen haben, bleibt unklar, vor Gericht haben sie die Aussage verweigert. Sie entband, ihr Mann schaute fern, sie trank. Dann wartete sie ab. Neugeborene, die nicht versorgt werden, kämpfen nicht. Sie sterben still. Die Mutter holt sie nicht ins Leben, sie gibt sie zurück in die Grauzone zwischen Werden und Sein, lässt sie einfach verlöschen, leichter, ganz anders als bei älteren Kindern ist das, weil es noch keine wahre Bindung gibt. "Man muss berücksichtigen", sagt Gutachter Matthias Lammel im Prozess, "dass Kindestötungen unter der Geburt etwas völlig anderes sind als Tötungen älterer Kinder." Gerade, wenn die Mutter das Kind schon während der Schwangerschaft nicht wahrhaben wollte.

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Irgendwann ist sie jedes Mal wieder zu sich gekommen, muss verstanden haben, dass zu handeln wäre. Sie drehte die Babys mit dem Abfall, der gerade herumlag, in Einkaufstüten, vergrub sie in Eimern und stellte sie auf den Balkon. Keines der letzten Kinder ist ihr eine eigene Erinnerung. Nur die Einkaufstüten sind von unterschiedlichen Kaufhäusern.

Am Schluss steht man auf dieser Wiese, bei den namenlosen Gräbern, deren exakte Lage genauso eine Vermutung bleibt wie das Leben und Sterben der Kinder. Gewiss ist nur, dass es in ihrem Dasein wohl keinen Moment gab, in dem sie auf der Welt willkommen waren. Nicht nach ihrem Tod, schon gar nicht in ihrem Leben. Sie bleiben ohne Abdruck in der realen Welt.

Ihre Liegezeit beträgt 15 Jahre.

Der Fall Brieskow-Finkenheerd vor Gericht - die Fakten

Im Juni 2006 wird Sabine H. vom Landgericht Frankfurt/Oder zu 15 Jahren Haft wegen Totschlags in acht Fällen verurteilt; der Fall von 1988 ist nach DDR-Recht verjährt. Der Bundesgerichtshof bestätigt das Urteil, verlangt aber, dass das Strafmaß überprüft wird. Ein neues Gutachten soll klären, ob Sabine H. voll schuldfähig war - sie war bei den Geburten betrunken und hat keine Erinnerung an die Taten. Im zweiten Prozess in diesem Jahr belastet Sabine H. ihren Ex-Mann. Sie gibt an, er habe um das Jahr 2000 im Streit zu ihr gesagt: "Glaub nicht, dass ich nicht gewusst habe, dass du schwanger warst." Die Staatsanwaltschaft nimmt daraufhin die Ermittlungen gegen Oliver H. auf, stellt sie aber Ende Mai ergebnislos ein. Vor Gericht beruft sich Oliver H., wie die drei großen Kinder des Paares, auf sein Zeugnisverweigerungsrecht. Das zweite Verfahren bestätigt das Strafmaß. Gutachter Horst Krüger bescheinigt Sabine H. volle Schuldfähigkeit, weil sie in der Geburtsphase und nach der Tat "stets sinnvoll und situationsgerecht" handeln konnte. Im Vollrausch wäre das nicht möglich gewesen, jedenfalls nicht allein: "Bei Mithilfe hätten wir eine völlig andere Situation." Anwalt Matthias Schöneburg erklärt, aus seiner Sicht sei "ein richtiges Urteil nur möglich, wenn man die Rolle des Ex-Manns einbezieht". Eine verminderte Schuldfähigkeit sei bei mindestens sieben Taten nicht auszuschließen. Er kündigt neuerliche Revision an. Staatsanwältin Anette Bargenda sagt zum Prozessende: "Was wirklich geschehen ist, werden wir wohl nie erfahren."

Text: Meike Dinklage Fotos: Jens Passoth BRIGITTE Heft 16/08

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