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Kindesmisshandlung: "Kein Tier kann so grausam sein wie der Mensch"

Kindesmisshandlung: Mädchen von hinten
© Shutterstock/altanaka
Die Rechtsmedizinerin Dragana Seifert setzt sich täglich mit Kindesmisshandlung auseinander - um Kinder vor noch schlimmerer Gewalt zu retten.

Die meisten Kinder sind im Baby- bis Grundschulalter

Zum Schluss, wenn sie die Kinder von der Untersuchungsliege gehoben und dafür gelobt hat, dass sie geduldig mitgemacht haben, zieht Dragana Seifert jedes Mal den Schrank unter der Wickelkommode auf. "Das ist ein Zauberschrank", sagt sie den Kindern: Pixi-Bücher liegen da, Lollis, Müsliriegel-Packungen, Kuscheltiere, Bilderbücher mit Ferdinand, dem Elefanten. Die Kinder, deren Körper sie gerade nach Hinweisen auf Schläge, Verbrennungen, Bissen abgesucht hat, dürfen sich dann etwas aussuchen; die meisten nehmen Buntstifte und ein Malbuch, manche auch einen Müsliriegel, aus Hunger, weil sich in ihrer Familie niemand darum kümmert, dass sie regelmäßig zu essen bekommen.

Sie nehmen die Stifte, den Riegel und das Buch und verlassen die Welt, in die sie eigentlich nicht gehören, weil sie nicht für Menschen gemacht ist, die ganz am Anfang ihres Lebens stehen: die Rechtsmedizin des Hamburger Universitätskrankenhauses Eppendorf, UKE.

Dragana Seifert ist Rechtsmedizinerin, sie untersucht misshandelte, vernachlässigte Kinder; Kinder, die ihr das Jugendamt bringt. Eigentlich sind die Untersuchungen nicht ihre Aufgabe, sondern die eines Kinderarztes. Aber weil es rechtsmedizinisches Fachwissen braucht, um zu erkennen, dass ein Hämatom nicht von einem Sturz von der Wickelkommode herrührt, sondern von Faustschlägen, und dass Verletzungen am Lippenbändchen bei einem Kleinkind nahelegen, dass es brutal gefüttert wurde, hat sie vor acht Jahren am UKE das Kinderkompetenzzentrum ins Leben gerufen. "Kein Tier kann so grausam sein wie der Mensch, das habe ich gelernt", sagt sie.

Seifert hat die Resolutheit einer Frau, die daran gewöhnt ist, sich Gehör zu verschaffen. Das muss sie vor Gericht, wo sie ihre Gutachten zu den Verletzungen von Missbrauchs- und Gewaltopfern vorstellt, Erwachsener wie Kinder. Sie spricht laut und ohne Umschweife, in einem harten, ratternden Stakkato. In ihrem Ton liegt eine Dringlichkeit. Kinder, die in Not sind, brauchen schnell Hilfe, und Seifert hat in ihrer Ambulanz nur diesen kurzen Moment nach einer Untersuchung, um den Eltern oder den Jugendamtsmitarbeitern klarzumachen, dass sie unbedingt sofort handeln müssen.

800 Kinder hat sie 2016 untersucht, 100 mehr als noch im Jahr davor, die meisten zwischen Baby- und Grundschulalter. In rund 15 Fällen hat sie danach gemeinsam mit dem Direktor des Institutes Klaus Püschel Anzeige erstattet - besonders kritische Fälle, für die sie ihre ärztliche Schweigepflicht brechen darf, weil das Leben eines Kindes in Gefahr ist.

Wenn ein Leben in Gefahr ist, bricht sie ihre Schweigepflicht

Man darf sie bei dieser Arbeit nicht begleiten, sie schützt ihre kleinen Patienten. Es ist schon für sie allein schwer genug, deren Vertrauen zu gewinnen. Also trifft man sich zum Gespräch in einem ihrer beiden Untersuchungsräume, mehrmals, weil sie ihre Arbeit immer nur für eine knappe Stunde unterbrechen kann.

Mal hockt sie während der gesamten Unterhaltung auf dem Rand der Untersuchungsliege, weil sie beim Erzählen vergisst, es sich bequem zu machen. Ein anderes Mal sitzt sie an ihrem Schreibtisch, ein schmaler, schlichter Tisch mit einem Hängeregister für Akten darauf, davor zwei orangefarbene Stühle, aus Spenden finanziert, wie auch die Wickelkommode, auf der ein riesiger Plüschteddy sitzt.

Das Gespräch unterbricht sie nur für eine WhatsApp ihres erwachsenen Sohnes, die sie lächelnd beantwortet. Immer ist sie vollkommen bei der Sache, weil es ihre Sache ist. "Das Kompetenzzentrum", sagt sie, "das ist, neben unserem Sohn natürlich, das, wofür ich brenne."

Wir fragten uns damals: "Wer kümmert sich eigentlich um die Kinder?"

Wie dringend die Kinder ihre Hilfe brauchen, wurde ihr klar, als sie 1999 gemeinsam mit Klaus Püschel am UKE eine Anlaufstelle für erwachsene Gewaltopfer gründete, in dem beide während der ersten beiden Jahre ehrenamtlich arbeiteten. "Viele der Frauen, die wir untersuchten, erzählten, dass ihr Mann auch ihre Kinder schlägt. Wir fragten uns: Und wo sind all diese Kinder? Wer kümmert sich um sie?"

Unterstützt von einer Stiftung gründeten sie 2008 das Kinderkompetenzzentrum. Auch die Hamburger Sozialbehörde fördert inzwischen das Projekt. "Die Behörden sind sensibilisiert, das merkt man", sagt sie. Allein zwischen 2013 und 2015 hat sich die Zahl der untersuchten Kinder im Kompetenzzentrum verdoppelt. Allerdings reichen die Zuschüsse der Behörde nicht, um die Untersuchungsstelle zu finanzieren, Seifert und ihre Kollegen sind weiterhin auf Spenden angewiesen.

Das Zentrum ist eine Besonderheit in Deutschland. Lange gab es für Jugendamtsmitarbeiter, die an einem Kind verdächtige Wunden entdeckten, keine spezielle Beratungsstelle und schon gar keine Stelle, die ein vor Gericht verwertbares Gutachten erstellte. Besonders ist auch, dass das Zentrum ganz offiziell Partner der Stadt ist: Ein 2014 mit der Sozialbehörde geschlossener Kooperationsvertrag sieht verbindlich vor, dass Jugendamtsmitarbeiter Kinder und Jugendliche in Fällen körperlicher Verletzung oder Vernachlässigung den Zentrumsmitarbeitern vorstellen.

Zwar können auch Kinderärzte Misshandlungen erkennen. "Aber ihnen fehlt im Praxisbetrieb oftmals die Zeit, um sich genau mit den Hintergründen der Verletzungen zu beschäftigen", sagt Seifert. Und es fehlt zuweilen die Distanz zu den Eltern. "Als Rechtsmedizinerin gehe ich neutral an die Sache heran, ohne den Gedanken: Das kann doch gar nicht angehen." Es kann angehen, das weiß sie. "Misshandlungen gehen querbeet, durch alle Schichten."

Der Tod der dreijährigen Yagmur war für sie wie ein eigenes Versagen

Dragana Seifert ist gebürtige Kroatin, mit 23 ging sie in die Schweiz, ihre "Wahlheimat", wie sie betont. Sie machte ihren Facharzt und lernte das Prinzip der klinischen Rechtsmedizin kennen, das sie dann nach Deutschland gebracht hat. Denn bei uns wurden Gewaltopfer damals nur dann von der Rechtsmedizin untersucht, wenn eine Strafanzeige vorlag. Nicht die Betroffenen, sondern Polizei oder Staatsanwaltschaft veranlassten die Begutachtung. "Aber viele Opfer erstatten aus Angst keine Anzeige, weil es ein Verwandter war", sagt Seifert. "Wenn sie später doch vor Gericht klagen wollen, fehlt ihnen das rechtsmedizinische Gutachten." Die Verletzungen sind dann vor Gericht nicht mehr beweisbar.

Seifert und ihr Kollege Püschel waren es, die im Fall Yagmur - das dreijährige Mädchen, das Ende 2013 in Hamburg von seiner Mutter getötet wurde, nachdem das Jugendamt es von seiner Pflegestelle zurück zu den Eltern gegeben hatte - die Strafanzeige wegen Misshandlung stellten, nachdem das Kind bei ihr vorgestellt worden war. Lange hat es gedauert, bis sie akzeptieren konnte, dass sie Yagmurs Tod nicht verhindern konnte, dass ihre Strafanzeige folgenlos blieb. "Plötzlich lag das Kind bei uns im Keller. Das klingt pathetisch, ich weiß, aber das war für mich wie ein eigenes Versagen. Ich habe mich immer wieder gefragt: Was hättest du mehr machen können?"

Das ist für sie das Schlimmste: etwas als unvermeidbar zu akzeptieren, sich abzufinden. Dragana Seifert schrieb ihre Doktorarbeit im Fach Radiologie und arbeitete in der Schweiz mehrere Jahre als Radiologin; viele der Patienten, mit denen sie zu tun hatte, waren krebskrank. "Es fiel mir extrem schwer, mich von Patienten, die ich über Monate betreut hatte, zu verabschieden. Dieses Gefühl zu hören, jemand ist gestorben – da war es leichter, Menschen in der Rechtsmedizin erst als Tote kennenzulernen."

Rund um die Uhr trägt sie ihr Diensthandy bei sich, sie ist immer zu erreichen. Zu den rund 800 Untersuchungen im Jahr kommen noch 300 bis 400 Beratungsgespräche, oft melden sich besorgte Großeltern oder Lehrer, denen etwas an einem Kind aufgefallen ist, etwa, weil es mit blauen Flecken zum Unterricht gekommen ist. Sie geht auch an Feiertagen oder einem Adventswochenende für Untersuchungen in die Klinik. Der Freundeskreis hat sich daran gewöhnt, dass sie mitten im Abendessen aufsteht, wenn das Telefon klingelt, und sagt: Esst weiter ohne mich. "Nicht alle verstehen das", sagt sie. "Aber meine Arbeit kann man nur machen, wenn man wirklich dahintersteht. Aber ich will keine heroischen Taten vortäuschen, nachts werde ich selten wachgeklingelt. Die Hauptzeit ist zwischen sieben Uhr morgens und 23 Uhr, wenn Jugendamtsmitarbeiter oder besorgte Lehrer oder Kindergartenmitarbeiter anrufen."

Laufen die Anrufe nachts im Institut auf, ist das Telefon mit einem Medizinstudenten besetzt, der entscheidet, ob er Seifert oder einen anderen Arzt verständigt. Eine Mailbox kommt für sie nicht infrage. "Wer Sorge um ein Kind hat und den Mut fasst, anzurufen, der braucht auch nachts jemanden, der mit ihm spricht", sagt sie.

Sie fragt das Kind nicht, sie hört zu und schaut hin

Mehr als 80 Prozent der Kinder werden von einem Jugendamtsmitarbeiter gebracht. Meistens nimmt Seifert die Untersuchung selbst vor, zudem gibt es einige Kollegen in der Rechtsmedizin, die ihre Arbeit unterstützen. In mindestens zwei Drittel der Fälle bestätigt sich der Anfangsverdacht. Willigen die Eltern nicht in die Untersuchung ein, nimmt das Amt das Kind vorübergehend in Obhut.

Seifert holt Kind und Jugendamtsmitarbeiter am Eingang des Instituts ab, den Wartebereich hat sie selbst eingerichtet, Möbel im 70er-Jahre-Stil, die Stühle in Weiß und Apfelgrün, ein moderner Bruch zum Zweck-Grau des Gebäudes. Sie redet kurz allein mit dem Behördenmitarbeiter, um zu erfahren, warum er gekommen ist. Dann bringt sie das Kind in den Untersuchungsraum, malt erst einmal mit ihm oder spielt Ball oder setzt den Teddy auf die Liege und zeigt ihm, wie man sie hoch- und wieder herunterfahren lassen kann.

Sie fragt nicht, was ein Kind erlebt hat, sie nimmt nur entgegen, was es ihr erzählt. Eine Untersuchung ist ein vorsichtiges Herantasten an den Körper. Seifert nimmt sich Zeit, um ein Kind für sich zu gewinnen; manchmal zucken die Kinder schon bei einer Berührung zusammen. Die häufigsten körperlichen Misshandlungen, die sie sieht, sind die Abdrücke einer Hand, eines Schuhs oder die Striemen eines Elektrokabels. "Geformte Verletzungen“ nennt sie das. "Ich folge immer dem Tempo, das das Kind mir vorgibt", sagt sie.

Der heikelste Punkt ist das Ausziehen. "Man guckt sich den Oberkörper an, zieht das Kind wieder an, guckt sich die Beine an. Die Unterhose bleibt immer an, aber ich sehe hinein, weil es oft eine Region ist, wo es geschlagen wird. Wenn es Nein sagt, wird es hier nicht mit einem Lolli überzeugt. Damit täte ich ihm das Gleiche an, das ihm der Täter angetan hat." Etwa eine Stunde dauert die Untersuchung. Oft holt sie sich Rat bei Kollegen - Chirurgen, Radiologen, Psychologen. "Kindesmisshandlung ist Ärzte-Teamwork", sagt sie.

Zwar sieht der Kooperationsvertrag mit der Stadt vor, dass alle Kinder, bei denen es Verdachtsmomente gibt, im Zentrum vorgestellt werden. Doch das Jugendamt kann nur auf Fälle reagieren, von denen es auch erfährt; da Leistungen wie Familienhilfe häufig an freie Träger ausgelagert sind, die wiederum Honorarkräfte beschäftigen, rutschen etliche Fälle durch die Maschen, gerade jene, in denen es um mangelnde gesundheitliche Fürsorge geht. Denn die meisten Kinder bringen ein ganzes Bündel an Problemen mit. Deshalb ist bei drei von vier Untersuchungen eine Kinderärztin dabei, die schaut, wo das Kind in seiner Entwicklung steht. Seit Kurzem ist im Kompetenzzentrum eine eigene Kinderärztin mit ganzer Stelle beschäftigt.

Wenn Eltern sie anlügen, wird sie nicht wütend. Aber sie will, dass sie sich Hilfe holen

Die Ärztinnen fertigen anschließend eine schriftliche Stellungnahme an, empfehlen eine Weiterbehandlung beim Orthopäden oder Augenarzt oder in der Jugendpsychiatrie. "Mir geht es nicht nur um blaue Flecken und Narben, sondern um alles, was ein Kind mitbringt", sagt Seifert. "Dazu gehört auch zu schauen, wo es in seiner Entwicklung steht. Wenn wir diesen Kindern eine Chance im Leben geben wollen, ist es sehr wichtig, dass sie nicht nur rechtsmedizinisch, sondern auch kinderärztlich untersucht werden. Viele Eltern gehen nicht zu den regulären Untersuchungen, die Kinder haben Asthma und Allergien, das stellt sich dann erst hier heraus."

Sie erzählt von einem Mädchen im Grundschulalter, das das Jugendamt wegen des Verdachts auf Körperverletzung brachte. Das Kind war zuckerkrank, und es musste sich ganz allein um seine Insulinkontrolle kümmern, wozu es noch gar nicht in der Lage war. "Das ist lebensgefährlich", sagt Seifert. "Und das Jugendamt hat das nicht mal erwähnt."

Oft versuchen Eltern, sich herauszureden, sagen, ein Knochenbruch stamme von einem Sturz. Ein Kind, das nicht laufen kann, kann sich die Knochen nicht bei einem Sturz brechen, macht sie ihnen dann klar. Wütend ist sie auf diese Eltern nicht; wütend macht sie, wenn ein Kind vom Jugendamt zu spät zu ihr gebracht wird, oder wenn ihren Empfehlungen nicht nachgekommen wird.

Sie will, dass die Eltern sich mit dem, was sie ihren Kindern antun, auseinandersetzen, dass sie sich Hilfe holen. Manchmal sieht sie im Laufe eines Gerichtsverfahrens, in dem sie als Gutachterin auftritt, Reue – zuletzt bei dem Vater, der im April 2015 in Hamburg seinen drei Monate alten Sohn so lange schüttelte, dass er nun schwerstbehindert in der Klinik liegt. Anfangs leugnete der Vater – ein Alkoholiker, der schon bei der Geburt im Krankenhaus durch sein aggressives Verhalten auffiel –, "vielleicht auch vor sich selbst", sagt sie. Der Mann hatte in seiner Aussage nur eingeräumt, das Kind geschlagen zu haben. Sie führte dem Gericht vor Augen, dass der Kopf des Babys minutenlang peitschenartig vor- und zurückgeschnellt sein muss. "Danach hatte ich den Eindruck, dass ihm klar wurde, was er getan hatte."

Manchmal erlebt sie, dass sich ein Kind nach der Untersuchung an sie klammert und weint, weil es nicht zu seinen Eltern zurückwill. Das, sagt sie, seien die schwersten Momente.

Abends, gegen 19, 20 Uhr, fährt sie eine Dreiviertelstunde hinaus an den Stadtrand, wo sie mit ihrem Mann lebt, der auch am UKE ist. Sie hört Klassik oder französische Chansons im Auto, isst mit der Familie, checkt ihre Mails, dazu hat sie im Institut keine Zeit, setzt sich auf ihr Fitness-Fahrrad, radelt eine Dreiviertelstunde und guckt dabei Fernsehen. Wichtig ist ihr, sich mit ihren guten Freunden zu treffen, "das erdet mich. Auch wenn ich nicht über meine Fälle sprechen darf, hilft es mir, das Erlebte zu vergessen." Am Wochenende gehen sie und ihr Mann ins Konzert oder ins Theater. Oder sie schauen einen Liebesfilm, mit Happy End. In einen tragischen Film, sagt sie, bekommt sie keiner.

Kindesmisshandlung: Die traurigen Zahlen

  • 45000 Mal schätzten Jugendämter 2015 das Wohl eines Kindes als akut oder latent gefährdet ein. Bei den akuten Fällen war das ein Anstieg von 11,7 Prozent zum Vorjahr, bei den latenten um 7,9 Prozent.
  • 23,1 Prozent dieser Kinder wiesen Anzeichen körperlicher Misshandlung auf, 63,7 Prozent Anzeichen von Vernachlässigung.
  • 77645 Kinder und Jugendliche haben die Jugendämter 2015 in Obhut genommen. 2014 waren es noch 48059.
  • 130 Kinder wurden in Deutschland getötet. 80 Prozent waren jünger als sechs Jahre.
Meike Dinklage (ein Artikel aus BRIGITTE 06/2017)

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