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Kinderstrich in Tschechien

Menschenmenge auf Straße in Prag
© Pavels Dunaicevs / Shutterstock
Sie sind 13, 14 Jahre alt. Weil sie sonst nichts besitzen, verkaufen die jungen Tschechinnen ihren Körper auf dem Strich. Die Freier: Biedermänner aus Deutschland. Jetzt wollen Politiker und Polizei endlich gegen den Sextourismus vorgehen.

"So ein Schwein!" Ludmila Irmscher rennt bei Rot auf eine schwach beleuchtete Kreuzung in der tschechischen Grenzstadt Cheb. "Familienvater mit Kindersitz im Wagen und holt sich hier kleine Mädchen vom Strich!", empört sich die 35-jährige Sozialarbeiterin. Der Mann am Steuer schnappt nach Luft, als sie die Tür seines dunkelgrünen Kombi aufreißt: "Ist Ihnen klar, dass Sie sich strafbar machen? Kinderprostitution ist auch in Tschechien verboten!" Das Mädchen auf dem Beifahrersitz duckt sich in die Polster, Ludmila schmeißt eine Handvoll Kondome ins Auto. "Benutzen Sie wenigstens die!", kann sie gerade noch fauchen, bevor die Ampel auf Grün schaltet und der Passat mit dem deutschen Kennzeichen losfährt. "Zu dumm, jetzt war ich zu wütend, um mir die Autonummer zu merken", ärgert sich die Streetworkerin.

Cathrin Schauer, Ludmilas deutsche Kollegin, will auf der anderen Straßenseite gerade einer aufgedonnerten 13-Jährigen etwas über Ansteckungsgefahren erzählen, als eine dicke Frau aus dem Gebüsch stürzt. "Weg da, schlecht fürs Geschäft!", schimpft sie. Das schmächtige Mädchen im wippenden Miniröckchen und den hohen Plateauschuhen ist ihre Tochter. Während diese auf Freier wartet, versteckt sich die Mutter hinter Sträuchern und passt auf. Worauf eigentlich? Wenn ihre kleine Tochter zu wildfremden Kerlen ins Auto steigt, kann sie ja doch nicht mitfahren. Die Roma-Frau rechtfertigt sich: sechs Kinder, Mann weg, kein Einkommen, der vorpubertäre Körper ihrer Jüngsten das einzige Kapital der Familie... Ludmila und Cathrin hören geduldig zu. Über Gebühr beeindruckt sind sie nicht. Zu oft haben sie solche Geschichten gehört. Die Sozialarbeiterinnen gehören zum deutsch-tschechischen Hilfsprojekt "Karo", und sie sind die Einzigen, die sich ernsthaft um die minderjährigen Prostituierten kümmern. Nach zahlreichen Berichten in deutschen Medien und internationalen Protesten hat die Stadtverwaltung von Cheb zwar Anfang des vergangenen Jahres offiziell die Straßenprostitution verboten. Doch geändert hat sich nicht viel. Mehrere tausend Prostituierte soll es in und um Cheb geben. Durchschnittsalter: 14 Jahre. Die Kundschaft: hauptsächlich Männer aus grenznahen bayerischen und sächsischen Landkreisen. Genaue Zahlen existieren nicht. Interessieren wohl auch keinen so richtig, vor allem nicht die tschechischen Behörden.

Gegründet wurde "Karo" mit Unterstützung des sächsischen Sozialministeriums und der Europäischen Kommission, um die Ausbreitung von Kinderprostitution und HIV-Infektionen einzudämmen. Doch wie sollen ganze drei Streetworkerinnen dieses Problem bekämpfen? Um potenzielle Kunden schon auf deutscher Seite abzuschrecken, hatte das Innenministerium an der Grenze eine Aufklärungsaktion mit Plakaten und Postkarten gestartet. "Viele Männer wissen einfach nicht, dass es schon seit 1993 nach deutschen Gesetzen strafbar ist, im Ausland Kinder zu missbrauchen", erklärt die zuständige Staatssekretärin Cornelie Sonntag-Wolgast. Auch diese Maßnahme brachte bislang keinen durchschlagenden Erfolg. Eindruck macht es auf die deutschen Freier schon eher, so berichtet Cornelie Sonntag-Wolgast, wenn Bundesgrenzschutzbeamte sie in ein Gespräch verwickeln. Uniformen wirken auf Deutsche immer.

Vor einer Kneipe sprechen die Sozialarbeiterinnen zwei junge Deutsche an, Allerweltstypen in Jeans und Lederjacke, die bereitwillig Auskunft geben: "Wenn eine sagt, sie ist 18 oder 20, dann muss ich das doch glauben, oder?", grinst der eine. Und sein Kumpel feixt: "Also, mit Kindern - das würden wir doch nie machen!" Dabei haben die beiden soeben auf der Straße die Teenies ausgezahlt, mit denen sie aus einer Absteige kamen. "Als Beweis vor Gericht würde unsere Beobachtung leider nicht ausreichen", seufzt Bianka Mutschmann, die dritte der "Karo"-Frauen. "Wir müssten sie schon direkt beim Missbrauch erwischen." Das ist so gut wie unmöglich, und das wissen auch die Freier.

Kaum eines der Mädchen steht freiwillig auf der Straße, auch die älteren nicht, von denen viele aus Osteuropa kommen. Sollte eine wirklich geglaubt haben, durch Prostitution ans schnelle Geld zu kommen, so musste sie ganz schnell begreifen: An ihrem Körper verdienen nur andere. Vor allem russische und rumänische Zuhälterbanden, die das gesamte Geschäft kontrollieren. Alltag auf dem Straßenstrich: Ohne Waschmöglichkeiten oder Verhütungsmittel müssen die Mädchen bei jedem Wetter anschaffen. Fast jede nimmt sich vor, nur mit Kondom zu arbeiten und nicht weniger als 50 Mark zu verlangen. Doch in letzter Zeit bestehen wieder mehr Kunden auf ungeschütztem Verkehr. "Und sie drücken die Preise", weiß Ludmila. "Da muss dann ein Mädchen auch zwanzig Mark akzeptieren, sonst gibt es Ärger mit den Zuhältern." Oft passiert auch, was eine dunkelhaarige Kleine soeben erlebt hat: Ein Nürnberger schien zunächst mit ihren Bedingungen einverstanden. Doch als sie mit ihm in einem Waldstück angekommen war, vergewaltigte er sie (ohne Kondom) und fuhr davon (ohne zu bezahlen).

"Die Deutschen mögen es nicht, wenn man zu viel anhat", kommentiert gleichmütig die 16-jährige Doris, die in engen schwarzen Mini-Shorts an der Straße steht. Sie ist schwanger, zum zweiten Mal schon. Es gibt Männer, die für minderjährige Schwangere gern ein paar Mark mehr zahlen, deshalb durfte Doris nicht abtreiben. Das erste Kind brachte sie in einem Straßengraben zur Welt, angeblich war es bei der Geburt schon tot.

Wenn es dunkel wird, ändert sich die Szene. Dann sammeln die Bosse ihre Mädchen an der Landstraße ein und verlegen sich aufs innerstädtische Geschäft. Viele der Männer in den dicken deutschen Familienkutschen haben sich tagsüber mit allem eingedeckt, was in Tschechien billig ist: Schnaps, Zigaretten, Lebensmittel, Benzin. Jetzt krönen sie ihre Einkaufstour mit einem Sex-Schnäppchen. Langsam kurvt ein Wagen nach dem anderen durch die Viertel. Vor einem baufälligen Mietshaus steht eine junge Frau mit grün und blau geschlagenem Gesicht. "Manche Männer genießen das, wenn eine so richtig kaputt ist", weiß Cathrin Schauer. "Auch zahnlose Frauen sind gefragt - fürs Orale." Viele Mädchen sind krank. Sie haben Syphilis, Tripper, Hepatitis, Aids, die ganze Palette sexuell übertragbarer Krankheiten.

Eine 16-Jährige hat schon auf die Sozialarbeiterinnen gewartet. Wegen Syphilis im Vollstadium hat sie im Krankenhaus ein paar Penicillinspritzen bekommen, zusammen mit dem guten Rat, die nächsten drei Monate mit keinem Mann zu schlafen. "Aber ich muss weiterarbeiten, mein Kerl zwingt mich dazu. Was soll ich tun?" Die Sozialarbeiterinnen zucken mit den Schultern. Sie können nur beraten, eine medizinische Behandlung für die Mädchen ist nicht drin. Zwar hat das Projekt in Cheb eine Beratungsstelle mit komplett eingerichtetem Behandlungszimmer. "Doch seit fünf Jahren suchen wir vergeblich einen Arzt, der wenigstens ein paar Stunden in der Woche zur Verfügung steht", beklagt sich die 38-jährige Cathrin Schauer. "Aber hier will keiner offiziell etwas mit den Huren zu tun haben."

Wortlos steuert sie ihren Dienstwagen zum so genannten Fidschi-Markt, wo Vietnamesen rund um die Uhr alles verkaufen, was erlaubt oder auch verboten ist. Die Streetworkerinnen sorgen sich um Elsa und Hilda, zwei Schwestern, die hier anschaffen. Schließlich taumeln die beiden zwischen den düsteren Buden hervor. Der stumpfe Blick in ihren Gesichtern ist eindeutig: Sie sind zugeknallt mit Piko, einem Drogencocktail, mit dem die Mädchen notfalls tagelang ohne Essen und Schlaf arbeiten können. Elsa ist Anfang zwanzig und hat schon drei Kinder, Väter unbekannt. Hilda, die Jüngere, schiebt den Ärmel ihrer Jacke hoch und zeigt die zerstochene Armbeuge, von der sich ein violetter Streifen nach oben zieht. "Das ist ja eine richtige Blutvergiftung", erschrickt Cathrin, die gelernte Krankenschwester. Hilda will sich nicht untersuchen lassen. "Morgen", verspricht sie.

Natürlich ist sie anderntags nicht am vereinbarten Platz. Dafür beobachten Cathrin und Ludmila von ihrem Auto aus, wie zwei tschechische Polizisten bei einem Vietnamesen ein Bündel D-Mark-Scheine in tschechische Kronen tauschen. Das Geld, so wurde es Ludmila und Cathrin zugetragen, haben sie bei ertappten Freiern erpresst - mit der Drohung, andernfalls eine Anzeige an die deutsche Privatadresse zu schicken. Das wirkt. Ein bisschen mitverdienen wollen schließlich auch schlecht bezahlte tschechische Beamte.

  • Doch ganz langsam bahnt sich ein Umschwung an. Auf einer gemeinsamen Konferenz haben mehrere Dutzend tschechische Bürgermeister erstmals eingeräumt, dass das Problem
  • Kinderprostitution im Grenzgebiet überhaupt existiert. Abstreiten und Aussitzen war jahrelang die Devise. Neueste Entwicklung: Eine hochkarätige Kommission des
  • tschechischen, deutschen und polnischen Innenministeriums wurde gegründet, um den Sextourismus gemeinsam zu bekämpfen. Ein Ziel: die Polizisten zu motivieren, wie es
  • diplomatisch heißt, "sich intensiver zu bemühen".

Hilfsprojekt "Karo" + Spendenadresse

Hilfsprojekt "Karo", Altmarkt 3, 08523 Plauen, Tel. 03741/276851, Fax 03741/276853, E-Mail: adorf@t-online.de

Spendenadresse Arbeiterwohlfahrt Chemnitz Sparkasse Chemnitz Konto-Nummer 351 000 4000 BLZ 870 50 000 Verwendungszweck (unbedingt angeben!) 'Projekt Karo'

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