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Würde ist Mettwurst mit Nutella, püriert

22.000 Kinder in Deutschland sind todkrank und brauchen Pflege rund um die Uhr. Wer hilft ihnen und ihren Familien? Und wie muss diese Hilfe aussehen? Ute Nerge hat darauf ihre eigene Antwort gefunden.

"Wie im Urlaub", sagte der Junge. Er war 15 und saß im Strandkorb. Nebenan, auf der Terrasse mit weitem Blick ins Grüne, saßen Familien beim Kaffee, im Teich ließen Kinder Boote fahren. Der Junge hielt ein Glas mit Strohhalm in der Hand, der Fruchtcocktail hatte die Farben des Regenbogens, ganz unten das gelbe Morphin gegen die Schmerzen, der Junge hatte einen Hirntumor. Seine Familie kuschelte mit ihm, und so ist er gestorben. Draußen, an einem sonnigen Nachmittag, im Strandkorb.

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"Das war schön", sagt die Frau, die ihm dieses Sterben ermöglicht hat. Die dafür sorgt, dass der Tod nicht ausgegrenzt wird, denn er gehört zum Leben dazu. Ute Nerge sieht den Strandkorb von ihrem Büro aus. Die Terrasse, die Liegestühle, der Spielplatz, der Garten der Erinnerung, in dem schon mehr als 100 Lichter stehen, das alte Haus am Stadtrand von Hamburg - das ist die Sternenbrücke. Ute Nerges Idee hieß: Man müsste ein Haus bauen. Für Kinder, die nicht mehr lange zu leben haben. Die rund um die Uhr Pflege brauchen. Für ihre Geschwister, die im Alltag oft in den Hintergrund treten müssen. Und für die Eltern, die am Rand der Erschöpfung stehen und sich dringend erholen müssen.

Um kranke Kinder und ihre Familien dreht sich das Leben von Ute Nerge seit 36 Jahren, seit sie 17 war. Eine Schwesternschülerin mit gestärktem Häubchen und hellblauer Tracht. Bei den Kindern am Bett sitzen, vorlesen, ihnen Medikamente geben, sie waschen, trösten, beruhigen, gesund pflegen: Sie liebte es.

An einem Vormittag, noch in ihrem ersten Lehrjahr, drückte ihr die Stationsschwester ein kleines Bündel in den Arm, sie solle es in die Klosterburg bringen. Das Bündel war ein totes Baby, die Klosterburg war die Leichenhalle des Krankenhauses in Hamburg. Sie trug es dorthin, eng an sich gedrückt, ein Baby soll doch nicht frieren. Sie hat das Knarren der Tür noch heute im Ohr, es roch nach Desinfektionsmittel. Sie öffnete eine der Klappen an der Wand und legte das Baby auf die Metallbahre, das Hemdchen musste sie ihm ausziehen.

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"Das fühlte sich alles so falsch an", sagt sie. Erst viel später hat sie das Wort gefunden für das, was sie in jenem Moment vermisste: Würde. Ute Nerge kann stundenlang darüber sprechen. "Menschen denken viel zu wenig darüber nach, was Würde für sie bedeutet - und für andere."

Weil Würde für sie das wichtigste Wort ist, gibt es die Sternenbrücke: Würde ist, keine starren Besuchs- und Essenszeiten vorzugeben, sondern alles da zu haben, wann immer die Gäste es brauchen und möchten. Würde ist, einem Kind seine Lieblingsspeise zu geben, und sei es Mettwurst und Nutella zusammen püriert, und sei es über eine Magensonde.

Würde ist, dass ein schwerkrankes Kind keine Schmerzen hat.

Würde bedeutet, so selbständig wie möglich leben zu können, auch wenn man klein ist und im Rollstuhl sitzt. Allein auf die Toilette gehen: Das geht, wenn sie entsprechend gebaut ist. Sich selbst das Gesicht waschen und die Zähne putzen: Das geht, wenn der Spiegel beweglich und das Waschbecken höhenverstellbar ist.

Würde bedeutet, einem behinderten Kind nicht einfach im Vorbeigehen über den Kopf zu streicheln, denn es kann sich nicht wehren. Würde ist, dem Kind die Wahrheit zu sagen: Du wirst sterben, aber es wäre schön, wenn wir uns im Himmel wiedersehen.

Denn es hat ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren.

Würde ist, ein verstorbenes Kind nicht in einem kalten Raum aufzubahren, sondern es in Ruhe und liebevoll zu verabschieden.

Der Abschiedsraum in der Sternenbrücke hat gelb gestrichene Wände und funkelnde Sterne an der Decke, das Bett ist weich und dunkelblau verkleidet. Wenn ein Kind gestorben ist, darf es hier bis zu fünf Tage lang liegen. Alles darf sein hier, Rolf Zuckowski oder Heavy Metal, Fenster auf oder Vorhänge zu, Lesungen aus dem Koran oder Ouzo-Runden. Der Raum ist warm und heimelig, das Kühlbett eine Hightech-Konstruktion. Jede Firma, jeder Handwerker, mit dem Ute Nerge darüber sprach, sagte: Das geht nicht. Und sie knipste das warme Funkeln in ihren hellblauen Augen an und fragte: Wie muss man's denn machen, damit es geht?

"Das geht nicht", "Aber" - alles Worte, die sie nicht mag. Den Satz "Wir können für Ihr Kind nichts mehr tun" findet sie falsch. Auch für sterbenskranke Kinder kann man noch so viel tun.

Ute Nerge hat den Satz selbst gehört, als ihr Sohn vier Jahre alt war. Ein Knochentumor, sagte der Arzt, wahrscheinlich noch ein Jahr Lebenserwartung, "Ihnen als Kinderkrankenschwester muss ich das sicher nicht erklären". Warten, hoffen, wütend sein, das verzweifelte "Warum ausgerechnet mein Kind?" – sie kennt es. Es dauerte Monate, bis sich herausstellte: Die Diagnose war falsch.

Eine Idee zu haben, eine richtig gute Idee, reicht noch lange nicht. Man muss Geld sammeln, richtig viel Geld. Vier Millionen. Man muss sein Wohnzimmer zum Büro umfunktionieren, erst mal ohne Computer, ohne Fax, ohne Anrufbeantworter. "Das kann ich nicht", dachte Ute Nerge oft. Sponsoren gewinnen, Info-Stände aufbauen, in Kameras und Mikrofone sprechen. Man muss die Nerven behalten, wenn man endlich ein altes Haus in einem Park gefunden hat, das komplett umgebaut werden muss, und dann stürzen die Wände ein, die man eigentlich stehen lassen wollte.

Vielleicht muss man auch eine Nacht lang auf einer Spendengala tanzen: "Meine Herren, ich bin eine leidenschaftliche Tänzerin. Und wir brauchen neue Duschtüren." Und irgendwann muss man seinen sicheren Job kündigen, weil man alles zusammen nicht mehr schafft. "Ein Schritt wider meine Natur", sagt Ute Nerge. "Ich war mein Leben lang auf Sicherheit aus. Und hier war ein Projekt, bei dem mir keiner garantieren konnte, ob es funktionieren würde." 2003 wurde die Sternenbrücke eröffnet.

Zwölf Kinder und ihre Familien können gleichzeitig hier wohnen. Kinder, die teilweise nicht laufen, nicht sprechen können, die taub oder blind sind oder ständig beatmet werden müssen. Mütter im Blümchenkleid oder mit Kopftuch oder mit Tattoos. Eltern, die gerade erst erfahren haben, dass ihr Kind bald stirbt, und solche, die schon seit Jahren hierherkommen. Es gibt kein Schicksal, keinen Schmerz, für den in der Sternenbrücke kein Platz wäre.

Und jeden Tag gibt es Augenblicke, die auch das Gegenteil sind. "Ute, komm schnell!", hat vor Kurzem ein Geschwisterkind gerufen und sie aufgeregt mitgezogen ins Kaminzimmer. Da saßen die Eltern. Und küssten sich. "Und?", fragte Ute Nerge. Das Kind rief: "Das tun die sonst nie!"

Man müsste ein Haus haben... Für das Leben, für den Tod und für die Liebe. Hier steht es: Sandmoorweg 62, Hamburg.

Das BRIGITTE-Buch

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Ute Nerge hat über ihre Arbeit und das Kinderhospiz Sternebrücke ein Buch geschrieben: "Ein Regenbogen zu den Sternen" können Sie auch in unserem Shop bestellen.

Text: Claudia Münster (aus BRIGITTE Heft 20) Fotos: Lisa Notzke

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