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Leben auf der Straße: Eine Aussteigerin erzählt

Die heute 31-jährige Sabrina Tophofen landete nach Missbrauch und Heimaufenthalt mit 11 Jahren auf der Domplatte in Köln. Heute ist sie verheiratet und hat fünf Kinder. Über ihr Leben auf der Straße hat sie ein Buch geschrieben.

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Von zu Hause bin ich weggelaufen, weil ich viele Jahre von meinem Vater körperlich und seelisch missbraucht wurde. Mein Vater drohte mir, mich umzubringen, wenn ich anderen davon erzählen würde. Meine Mutter, die das alles mitbekam, half mir nicht, sie gab mir sogar noch die Schuld, dass ich ihre Ehe kaputt gemacht hätte. Ich habe schließlich mit zehn Jahren alles meiner Oma erzählt. Die hat mich zur Polizei geschickt. Allein. Ich habe meinen Vater angezeigt. Die Polizei glaubte mir. Ich kam in ein Heim.

Das war ein reines Mädchenheim. Und ich war eine der jüngsten dort. Es gab Gitter vor den Fenstern und abgeschlossene Türen dort. Und die Mädchen machten mir das Leben schwer. Sie lockten mich in ein Zimmer und rasierten meine Haare ab. Für mich gab es nur den Gedanken: Entweder ich komme hier raus, oder ich muss sterben. Ein Mädchen half mir abzuhauen, und sagte ich solle nach Köln auf die Domplatte fahren und eine Iris suchen, die würde mir da weiterhelfen. Ich war mittlerweile elf, und als ich auf der Domplatte ankam habe ich natürlich keine Iris gefunden. Heute kann ich sagen, dass es Glück war. Denn Iris, die ich erst Wochen später kennen lernte, war drogenabhängig, HIV-positiv und prostituierte sich.

Ich lernte an meinem ersten Tag dort eine andere Clique kennen, die nichts mit Prostitution zu tun hatte, zwar auch mit Drogen, aber nicht mit Heroin. Bei einem der Mädchen konnte ich mit im Hotel schlafen, weil sie dort ein Zimmer hatte. Mit einem Jungen war ich oft unterwegs. Er beschützte mich immer, und wenn ich nachts am Hauptbahnhof unterwegs war, dann hat er mich dort nie allein gelassen. Er hat neben mir im Sitzen geschlafen. Weil ich mich nicht hinlegen wollte. Ich schlief fast nur tagsüber, habe mich irgendwohin gehockt und eine halbe Stund gedöst, niemals auf dem Boden gelegen, denn dann hätte ich das Gefühl gehabt, jetzt bin ich wirklich ganz unten.

Auch wenn das Leben auf der Straße schwierig war, ich habe mich zum ersten Mal in meinem Leben sicher gefühlt. Vor allem mit diesen Menschen, die sofort meine Freunde waren. Die haben mich so behandelt, als wäre ich ein toller Mensch, man hat sich eine halbe Stunde nicht gesehen, und wenn man sich dann traf, dann freute man sich wahnsinnig und fiel sich in die Arme. Ich kannte so etwas ja gar nicht. Weder von zu Hause noch aus dem Heim.

Nach drei Wochen habe ich dann das Kiffen angefangen, das gehörte irgendwie dazu. Nach ein paar Monaten dann das erste Mal LSD. Die Trips haben mir die Angst genommen. Dass meine Vater plötzlich auftaucht und mich hier sucht, oder das Jugendamt oder die Polizei. Mit LSD fühlte ich mich unantastbar, stark und cool. Ich musste nicht weinen. Wenn die Wirkung aber nachließ, hatte ich Verfolgungswahn, sah Leute, die gar nicht da sind und dachte meine Haut löst sich von meinem Körper.

Ich brauchte anfangs nicht viel Geld, um mir Drogen zu beschaffen, die anderen haben mir etwas abgegeben. Mit dreizehn kam ich dann in eine Betreuung und bekam Taschengeld, davon habe ich dann Drogen gekauft. Geschnorrt habe ich nie, das gehörte ebenso wie das auf der Straße schlafen zu einem Pennersein, in das ich nie abrutschen wollte. Wenn ich Hunger hatte, habe ich geklaut. Ich bin in die großen Kaufhausrestaurants gegangen, die ein Buffet hatten und habe ganz schnell etwas genommen. Ich war so klein, ich bin nicht sehr aufgefallen.

Ich wollte auch nicht so werden wie ein Mädchen, dass ich ganz am Anfang mal auf der Strasse gesehen hatte, die war ganz dünn, nahm Heroin, ihre Kleidung war dreckig und sie schlief im Stehen ein. Die anderen erklärten mir, dass sie eine Prostituierte sei. Ich war richtig entsetzt und dachte nur, egal was ist, aber so wie diese Frau möchte ich niemals werden. Ich wollte niemals meinen Körper so sehen. Ich nahm zwar Ecstasy, Speed, LSD, aber Heroin, das war für mich einfach tabu. Vielleicht hat mich das gerettet. Vielleicht habe ich auch Glück gehabt, dass die meisten aus meiner Clique es auch nicht nahmen. Es hätte sonst auch alles ganz anders kommen können.

Aber ich hatte auch drei tolle Betreuer, die sich einige Stunden in der Woche um mich gekümmert haben. Rückblickend muss ich sagen, dass mir vielleicht eine betreute Wohngruppe noch eher raus geholfen hätte. Eine Gruppe, die eine Art Familienleben, einen gemeinsamen Alltag gehabt hätte. Das hätte es erleichtert, die Straße aufzugeben, weil man weiß: wenn ich in diese Wohngruppe gehe, dann geht es mir gut. Wirklich weggebracht von der Straße hat mich aber ein Raubüberfall, den ich begangen habe: wir haben einen Mann überfallen und ausgeraubt. Ich kam ins Gefängnis, war dort fünf Wochen bis zur Verhandlung, da habe ich gedacht, nein, ich will ein anderes Leben. Ich wurde freigesprochen, die anderen hatten die Schuld auf sich genommen.

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Und dann habe ich gleichzeitig meinen ersten Freund kennen gelernt, ich lebte bei ihm, ich dachte, endlich habe ich ein richtiges Zuhause. Aber er war sehr eifersüchtig, schloss mich immer ein, wenn er arbeiten ging, er schlug mich. Und ich wurde schwanger. Er schlug mich weiter. Im gleichen Haus lernte ich eine Frau und ihren Bruder kennen, die meine Freunde wurden und langsam verliebte ich mich in den Bruder, er war der erste Mensch, der mir sagte, dass ich es wert bin, geliebt zu werden. Schließlich habe ich meinen Freund verlassen und bin zu ihm gegangen.

Er hat mich auch dazu gebracht eine Ausbildung zu machen. Ich hatte inzwischen ein zweites Kind von ihm, war 21 Jahre alt und er sagte mir, irgendwann ist ein Mensch für sich selbst verantwortlich. Ich habe dann den Schulabschluss nachgemacht, den Führerschein gemacht und wir haben geheiratet. Und ich habe eine Ausbildung zur zahntechnischen Assistentin gemacht. Ich bin immer noch mit diesem Mann zusammen, mittlerweile haben wir fünf Kinder. Ich beginne gerade eine zweite Ausbildung zur Altenpflegerin.

Ich habe mich lange für meine Vergangenheit als Straßenkind geschämt und mich schlecht gefühlt, wenn ich irgendwo gezwungen war es zu erzählen. Mittlerweile bin ich selbstsicherer, ich weiß, ich trage nicht die Schuld, dass ich in diese Situation gekommen bin, aber manchmal reagiere ich schon sehr emotional, wenn ich mich erinnere, verzweifle, wenn ich überlege, wie konnten meine Eltern das alles so machen, aber dann schaue ich meine Kinder an und weiß, ich habe es so viel besser gemacht trotz all der Fehler, die ich sicher auch mache.

Ich bin eine nervige Mutter, ich will, dass meine Kinder eine Ausbildung haben, ich will, dass sie ihr Leben schaffen, dass sie sich um sich selbst kümmern können. Wenn ich auf der Strasse ein Kind sehe, von dem ich weiß, es lebt so wie ich damals, dann würde ich es immer am liebsten mit nach Hause nehmen, aber es geht ja nicht mit fünf eigenen. Ich würde mich darin verlieren, ich weiß. Mein Mann sagt immer: Du schaffst es nicht dich abzugrenzen. Ich bin froh, dass es ihn gibt. Er fängt mich auf. Immer noch.

Foto: privat

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