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Karriere bei Behinderung "Zu viele Talente bleiben unentdeckt"

Karriere bei Behinderung: eine junge Frau mit amputiertem Arm sitzt an einem Laptop
© Juice Flair / Shutterstock
Menschen mit Behinderung wollen nicht nur arbeiten, sondern auch Karriere machen, sagt die Aktivistin und Coachin Laura Gehlhaar. Sie weiß, wie das gehen könnte.

BRIGITTE: Drei Viertel der Deutschen hatten im Job laut einer Studie noch nie Kontakt zu Menschen mit Behinderung, ergab kürzlich eine Umfrage. Wie kann das sein?

Laura Gehlhaar: Menschen mit Behinderung sind einfach viel zu selten Teil des ersten Arbeitsmarktes. Oft werden sie schon in der Schulzeit in eine Parallelwelt geschickt und so sozialisiert, dass sie sich bestimmte Berufe nicht zutrauen oder keinen Zugang zu ihnen haben.

War das bei Ihnen auch so?

Es wäre fast so gekommen. Meine Muskelerkrankung, wegen der ich heute im Rollstuhl sitze, wurde diagnostiziert, als ich elf war. Nach dem Abi plante ich, Psychologie zu studieren. Beim Arbeitsamt wollte man mir das ausreden: "Wie wollen Sie anderen helfen, wenn Sie offensichtlich selber Hilfe brauchen?". Ich ließ mich zum Glück nicht beirren. Heute bin als selbstständige Unternehmensberaterin Teil des ersten Arbeitsmarktes – eine Ausnahme.

Die Behindertenquote soll bewirken, dass diese Ausnahme zur Regel wird. Doch drei Viertel der Firmen halten sich nicht daran. Wieso?

Ein Grund ist sicher, dass es längst nicht so viele gut qualifizierte Menschen mit Behinderung gibt, wie es geben könnte. Zu viele Talente bleiben unentdeckt, weil man Menschen wie mir zu wenig zutraut. Wir müssen daher schon bei den Bildungschancen anfangen. Kinder mit Behinderungen müssen unterstützt werden, ihre Jobwünsche tatsächlich umzusetzen. Dann könnten die Quoten leichter erfüllt werden.

Ein Weg, den Firmen gern wählen, um die Quote zu umschiffen, ist die Kooperation mit Behindertenwerkstätten. Die lässt sich auf die Quote anrechnen.

Ich finde, die Werkstätten sind keine Lösung. Ihr Auftrag ist eigentlich, die Menschen so auszubilden, dass sie am ersten Arbeitsmarkt arbeiten können. Die Vermittlungsquote liegt aber bei unter einem Prozent, der Auftrag wird also nicht erfüllt. Man sollte die Werkstätten in der aktuellen Form schließen zugunsten eines inklusiveren Arbeitsmodells.

Wie könnte das aussehen?

In Deutschland gibt es schon jetzt das persönliche Budget für Arbeit, das behinderten Menschen etwa eine Arbeitsassistenz ermöglicht. Die Teilnahme am ersten Arbeitsmarkt wird so leichter – ich nutze das übrigens auch.

Und wenn eine solche Assistenz nicht ausreicht, weil die Behinderung zu stark ist?

Dann sollten wir auf die Bedürfnisse der Einzelnen schauen und entscheiden, wie sie sich einbringen können. Die Rechtslage muss transparent kommuniziert werden: Zwar hat jede:r ein Recht auf Arbeit. Doch das heißt nicht, dass jede:r 40 Stunden die Woche arbeiten muss. Wenn man sich dazu aus körperlichen oder psychischen Gründen nicht in der Lage fühlt, ist das in Ordnung.

Aber behinderte Personen sind in Deutschland ja nicht zur Arbeit verpflichtet. Sie können auch Sozialhilfe inklusive Sonderförderung beziehen.

Stimmt. Aber vielleicht will und kann jemand durchaus arbeiten, nur eben nicht 35 bis 40 Stunden pro Woche, wie es die Beschäftigten von Behindertenwerkstätten tun müssen. Teilzeitarbeit oder Sabbaticals gibt es dort in der Regel nicht. Das ist nur auf dem ersten Arbeitsmarkt möglich.

Sollten die Firmen hier den Zugang erleichtern?

Eine gesetzliche Verpflichtung zur Barrierefreiheit, wie es sie anderswo schon gibt, wäre gut. In Großbritannien etwa begegnen einem behinderte Menschen längst auf allen Unternehmensebenen. Hier dagegen zucken Führungskräfte zusammen, wenn ich ihnen als Beraterin erkläre, dass Menschen wie ich ihre Firma vielleicht auch führen möchten.

Dabei gibt es heute so viele Diversity-Beauftragte …

Leider wissen die meist nur vage, was behinderte Menschen brauchen. Oft sind sie ja selbst nicht behindert. Und die Betroffenen werden zu selten gefragt. Heraus kommen teils kuriose Maßnahmen.

Zum Beispiel?

Eine Firma, die ich beraten habe, hatte einen Hightech-Rollstuhl entwickelt, der einen die Treppe hochbringt. Klingt gut. Doch die Message dahinter ist: Pass dich an. Leg dir so was zu. Besser und günstiger wäre es doch, eine Rampe zu bauen. Und sich so an mich anzupassen. Meine Botschaft an Firmen, die ihren Behindertenanteil erhöhen wollen, ist deshalb simpel: Findet heraus, was eure Leute wirklich brauchen. Und dann setzt das um. Und macht behinderte Menschen bewusst auf euch aufmerksam, damit sie sich bei euch bewerben.

Wie könnte so eine Stellenausschreibung aussehen?

Es müsste zum Beispiel klar werden: Der Arbeitsplatz ist barrierefrei, sprich: für alle ohne Hilfe einer weiteren Person zugänglich.

Sollten Firmen Menschen mit Behinderung bei gleicher Qualifikation bevorzugen?

Ja. Als kleinen Ausgleich. Wir erfahren so viele Nachteile.

Und wie sollten Nichtbehinderte am besten behinderten Kolleg:innen begegnen?

Als Verbündete. Setzen Sie sich mit Ihren Privilegien auseinander und gehen Sie aufeinander zu. Der Rest ergibt sich dann meist von selbst.

Laura Gehlhaar, 39, hat Sozialpädagogik und Psychologiestudiert. Als Aktivistin, Autorin und Coachin engagiert sie sich für die Inklusion von behinderten Menschen. Seit sie 23 ist, sitzt sie selbst im Rollstuhl.

Info: Behindertenquote für Firmen

Beschäftigt eine Firma mehr als 20 Mitarbeitende, müssen davon mindestens fünf Prozent schwerbehindert sein. Bei ihnen muss also ein Behinderungsgrad von mindestens 50 vorliegen. Wer sich nicht an die Quote hält, muss für jede Stelle, die mit einer schwerbehinderten Person besetzt sein sollte, bis zu 320 Euro Ausgleichsabgabe zahlen. Vergibt man als Firma Aufträge an Behinderten- oder Blindenwerkstätten, kann man 50 Prozent der Arbeitsleistung von der Abgabe abziehen. In deutschen Behindertenwerkstätten arbeiten derzeit rund 300 000 Menschen für 1,35 Euro die Stunde. Laut Kritiker:innen hätten viele davon auch auf dem ersten Arbeitsmarkt Chancen. Ihnen den Zugang zu ermöglichen, stünde aber den wirtschaftlichen Zielen der Werkstätten im Weg.

Brigitte

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