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Jutta Winkelmann - ein Gespräch am Sterbebett

Die 68er-Ikone Jutta Winkelmann leidet unheilbar an Krebs. Tatjana Blobel von "BRIGITTE Wir" hat am Sterbebett mit ihr gesprochen.

München, Schwabing. Noch einmal tief durchatmen, bevor ich auf den Klingelknopf mit dem Namen Winkelmann drücke. Ich fühle mich beklommen. Das Gespräch steht mir bevor. Ein Gespräch mit einer Sterbenden. Was sind die richtigen Worte? Und gibt es die überhaupt?

Ihr Sohn Severin öffnet die Tür. Die Wohnung im vierten Stock ist hell und licht. Jutta Winkelmann liegt auf dem Bett, klein und schwach wie ein Vögelchen, wiegt nur noch 34 Kilo. Und ist immer noch eine schöne Frau, sogar in ihrer Zerbrechlichkeit.

Zusammen mit ihrer Zwillingsschwester Gisela Getty war sie einst Sinnbild für glamouröses Revoluzzertum – frei, schön, experimentierfreudig. Ihre spirituelle WG mit dem Kommunarden Rainer Langhans und vier anderen Frauen in den Siebzigern war Provokation und gefundenes Fressen für den sensationslusternen Boulevard. Vergangene Zeiten.

Jetzt reicht sie mir die Hand, lächelt und sagt einfach: „Hallo, setzen Sie sich doch.“ Ihre Hand ist warm. Vor zwei Jahren ist Jutta Winkelmann, 67, mit ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter hier zusammengezogen. Vorher lebte sie allein – bis es nicht mehr ging. „Anfanglich ist es mir extrem schwergefallen. Aber es geht sehr gut mit uns. Es ist friedlich und schön und anregend."

Zwei Stunden bleibe ich an ihrem Bett. Das Gespräch findet von allein seinen Weg. Sie macht es mir leicht. Ich bin dankbar. Irgendwann kommt ihr Arzt. Ich gehe aus dem Zimmer. Als ich wieder eintrete, liegt er neben ihr. „Stört es, wenn ich noch ein bisschen bleibe?“, fragt er. Jutta Winkelmann lacht. „Ich habe die tollsten Männer im Bett, so viele wie nie.“ „Ich höre Jutta gerne zu“, sagt er, „sie hat so eine klare, einfühlsame Sprache. Wenn man die Umstände kennt, über die sie spricht und schreibt, dann merkt man, was sie da in wenigen Zeilen so präzise, fast bildhaft, mitteilt. Das hat eine große Qualität.“

„Und dann kommt er mit seiner Vitalitat und steckt mich an“, sagt Jutta, „wir gehen zusammen durch dunkelste und helle Minuten. Im Sommer sind wir sogar noch mit dem Motorrad unterwegs gewesen.“

"Brigitte Wir": Wohin denn?


Jutta Winkelmann: Ein bisschen herumgefahren und dann essen gegangen. Das war auf jeden Fall ein Glücksmoment.

Anders Ihr Buch „Mein Leben ohne mich“, das ist wie ein Schrei. Man wird sofort reingezogen in den Schmerz, in die Verzweiflung.

Das Buch habe ich aus der Kampfzone geschrieben. Im Krankenhaus hatte ich immer einen Computer auf dem Schoß. Auch für meine Bilder wollte ich eine literarische Form finden, daher der Comic.

Hat Ihnen die Arbeit am Buch geholfen?

Sehr, weil das Schreiben Distanz schafft. Meistens habe ich geschrieben, wenn es mir sehr schlecht ging. Ich wollte diesen Geist bannen, der in mir raste. So war ich nicht nur das Opfer der Umstände, sondern – in gewisser Weise – auch die Regisseurin.

Vor 15 Jahren ist bei Ihnen Brustkrebs diagnostiziert worden. Damals haben Sie sich gegen eine Chemotherapie entschieden.

Ich glaube, das hat mir viele Jahre geschenkt. Es war eine extrem schwierige Entscheidung. Ich kann auch nur sagen: „So habe ich es gemacht.“ Für mich war es gut so. Vor einem halben Jahr habe ich eine Chemo probiert. Wenn ich die weitergemacht hatte, würden wir das Gespräch jetzt nicht führen können.

Sie haben Bestrahlungen bekommen?


Ja, im Nacken. Da sind auch Metastasen. Wenn da etwas passiert, kann das zu Lähmungen und Erblindung führen. Weil der Krebs im Rückenwirbel sitzt, wo auch die Nerven sind, hat es mir anfänglich wahnsinnige Angst gemacht. Wir haben ihn nicht aufhalten können. Er ist besonders bösartig.

13 Jahre haben Sie nichts gemerkt?


Dann habe ich extrem starke Rückenschmerzen bekommen. Was Schmerzen angeht, bin ich durch die Hölle gegangen. Jetzt ist der Krebs überall. Ich muss mich täglich übergeben, kann kaum noch etwas essen. Realistisch geschätzt, geht es nicht mehr lange. Ich versuche, so wenig Mittel wie möglich zu nehmen, damit ich klar im Kopf bleibe. Und ich habe ein zweites Buch angefangen, beim ersten bin ich ja noch ziemlich außer Rand und Band.

Sie sind ja sogar noch durch Indien gereist.

Das war wahnsinnig anstrengend, trotzdem bereue ich es nicht. Das Leben ist wichtiger.

Konnten Sie sich auch mit den dunklen Kapiteln aussöhnen?

Ja. Wenn man so lange liegt und so gut wie nichts machen kann, geht man durch sein ganzes Leben. Dann ist da schon so etwas wie ein „jüngstes Gericht“. Man guckt sich alles noch mal an. Besonders die eigenen Lieblosigkeiten. Ich habe mich so schlecht gefühlt, dass ich dachte, ich schmore in der Hölle für alles und jedes. Im letzten Jahr war ich zeitweilig auf der Palliativstation in einem Benediktinerkrankenhaus. Die Ärztin dort war auch die Oberin des Klosters, eine ungewöhnliche Frau. Sie sagte mir: „Leben ist bis zum Ende möglich.“ Mit ihr konnte ich alles besprechen, bin an die dunkelsten Punkte meines Lebens gegangen. Das hat mir sehr gutgetan.

Alles kommt hoch?


Alles. Aber es gab einen Punkt, an dem ich wusste: „Stimmt. Das bin ich. Das habe ich so gelebt.“ Wenn man das annimmt, auch seine Schuld, gibt es so etwas wie Gnade.

Dahin kann man kommen?


Ja. Und heute sehe ich sogar diese furchtbaren Erinnerungen anders. Im Prinzip ist alles überflussig. Am Ende zahlt nur die Liebe. Diese Gewissheit trägt mich jetzt.

Auch durch die verzweifelten Momente?

Die gibt es schon noch, aber eher so, dass ich sie als mühselig empfinde.

Beten Sie?


Da sind diese Augenblicke, in denen ich sage: „Lieber Gott ...“ – es ist immer noch der Kindergott, zu dem ich spreche, aber eigentlich ist es ein Selbstgespräch. Da sage ich dann: „Ich habe nichts dagegen, wenn du mich morgen früh nicht wieder aufwachen lässt.“ Ich habe viel gelebt, bestimmt zehn Leben. Ich habe alles ausprobiert. Ich wusste nicht, was fehlt. Ich habe Kinder, ich war verheiratet, ich habe auf dem Vulkan getanzt. Ich habe eine fantastische Zeit um 68 erlebt, wo alles frei und möglich war.

Sind noch Wünsche offen?

Letztens schickte mir ein Freund Fotos von Venedig. Da kam die Sehnsucht auf, noch einmal in einer Gondel zu sitzen, meine Hand ins Wasser zu halten, dieses sanfte Platschern zu spüren. Und ich würde gern noch einmal nach Indien reisen.

Was verbindet Sie mit Indien?


Meine Spiritualitat kommt aus der indischen Philosophie. Als ich 21 war, lernte ich Rainer Langhans kennen. Wir machten mystische Erfahrungen mit LSD. Das war für uns keine Partydroge. Eher eine Möglichkeit, tiefer in sich reinzugehen. Anfang der Siebziger ging dieses Fenster zu. Rainer und ich spielten damals in einem italienischen Film mit. Während der Dreharbeiten verunglückten zwei aus dem Team tödlich. Rainer sagte: „Es gibt auch einen Weg nach innen.“ Seitdem sind wir zusammen auf der Suche. Er ist ein Seelenbegleiter.

Er begleitet Sie auch jetzt?


Rainer ist nicht der große Tröster, aber jemand, der auch im Sterben das Positive findet, darin eine Form spiritueller Suche sieht. Anfangs konnte ich das überhaupt nicht hören, inzwischen empfinde ich das als große Perspektive. Obwohl, diesen letzten Gang, den geht man allein. Das ist die Realität, aber auch in einem guten Sinn.

Man fühlt sich nicht mehr nur als Opfer?

Sich als Opfer zu fühlen geht sehr leicht. Der Kopf rattert:„Ich Arme, warum ausgerechnet ich? Was habe ich falsch gemacht?“ Der Körrper macht noch seine letzten verzweifelten Reparaturversuche, aber jetzt sehe ich in den ganzen Prozessen nichts Böses mehr. Da ist weder ein Gott, der mir was Bösses will, noch irgendwas. Unser Körper unterliegt den Naturgesetzen. Man muss gut auf ihn achten, das habe ich nicht immer gemacht. Insofern fühle ich mich zuständig. Aber die Zeit der Selbstanklage ist vorbei. Das sind alles Phasen, aber es geht immer weiter. Es gibt auch sehr schönne Momente, in denen das Leben dicht und intensiv wird. In denen die Begegnungen mit den Menschen so wundervoll sind, wie man es sich immer gewünscht hat.

Haben sich Ihre Freundschaften verändert?


Einige haben sich vertieft, manche sind weggefallen. Einen Freund, den ich 30 Jahre nicht gesehen habe, fand ich wieder. Plötzlich war alle Vertrautheit und Nähe wieder da – nach so vielen Jahren. Aber sie können auch gehen. Das nehme ich niemandem übel. Es ist jetzt eine schwierige Phase, manche können das näher an sich ranlassen, manche weniger. Es ist ja auch nicht immer leicht mit mir gewesen in den letzten zwei Jahren.

Was waren das für Situationen?


Ich war mein Leben lang großzügig, aber plötzlich gab es Momente, in denen ich kleinlich wurde. Ich habe mir dann innerlich eine Ohrfeige gegeben und gesagt: „Jutta, spinnst du? Was ist denn hier jetzt los?“ Dann kommt alles Mögliche daher. Eifersucht, dass jemand anders im Mittelpunkt steht und nicht ich, die Todgeweihte, um die es doch eigentlich gehen sollte.

Wie sind Sie damit umgegangen?


Alles rauslassen, was kommt. Keine Angst haben vor seiner eigenen Bösartigkeit, das nimmt man alles mit. Und es ist gut, ohne Gepäck zu reisen. Ich hatte mit zwei, drei Freunden richtig aggressive Geschichten, wo ich stinksauer war. Plötzlich merkte ich, dass das eigentlich nur ein Programm in meinem Gehirn ist. Es hat wahnsinnig wenig mit der Wirklichkeit zu tun. Wir denken dauernd: „So ist die Welt.“ Aber die Welt ist nicht so. Die ist viel schöner.

Enge Freunde wie Rainer Langhans haben sich auf die Auseinandersetzung mit Ihnen eingelassen?

Das ist der Grundkern unserer Verbindung, dass wir auch an die Schattenseiten gegangen sind und dass wir uns das sagen, was man sich normalerweise nicht sagt. Da passieren natürlich auch Verletzungen. Man muss wirklich gut gucken, wie man damit umgeht. In Verletzungen und Selbstverletzungen sind wir ziemliche Weltmeister gewesen. Aber wir sind immer weiter durchgegangen, bis wir wieder in den Bereich kamen, wo die Liebe ist.

Kann Krankheit irgendwann so etwas wie ein Freund werden?


Der Krebs bin ja auch ich. Er ist in mir gewachsen, kommt nicht von außen. Rainer hat gesagt: „Du musst ihn lieben.“ Erst habe ich Gift und Galle gespuckt. Wie kann ich etwas lieben, das mich zerstört? Davon handelt das Buch ja auch.

Und das zweite, das Sie jetzt schreiben ...


... ist ein Versöhnungsversuch, noch in tieferen Ebenen herauszufinden, was das alles bedeuten kann. Ich hoffe, ich kriege das hin. Wenn nicht, schreibt es vielleicht jemand anders. Es machen ja viele diese Erfahrung.

Ein mutiger Schritt, dass Sie das Leiden so offengelegt haben. Beim Lesen kommt man schnell an seine eigenen Ängste.


Es ist ein Prozess. Sterben ist nicht so sexy wie meine schönen Kleider im Schrank.

Schauen Sie sich Ihre Kleider noch an?

Nein, die verschenke ich. Jetzt will ich leicht reisen und brauche das alles nicht mehr.

Viele wünschen sich, schnell zu sterben ...

... aber es gelingt den wenigsten. Diese Vorbereitung auf den Tod, dass ich immer wieder Momente habe, wo es einigermaßen geht, dafür bin ich unendlich dankbar.

Ihre Schwester Gisela hat Sie eine Zeit lang gepflegt. Haben Sie eine enge Verbindung?

Ja sehr, aber das hat auch seine Schattenseiten. Irgendwann bin ich geflüchtet, ich brauchte noch ein Stück mein eigenes Schicksal jenseits des Zwillingsseins. Deswegen haben wir uns entschieden, bewusster auf diese Trennung zuzugehen. Gisela ruft jeden Tag an und fragt: „Soll ich kommen?“ Ich sage immer Nein. Ich muss mich im Sterbensprozess noch verwirklichen, sie im Lebensprozess. Da sind wir natürlich auch getrennt.

Das ist hart für Zwillinge.

Ja. Aber diese Trennung hat auch etwas sehr Befreiendes. Ich liege hier wie eine Schmetterlingsraupe, werde mich irgendwann verpuppen und abfliegen. So lange versuche ich in diesem Ganzen einen Sinn zu finden, weil es sonst furchtbar öde wird. Selbst die Schmerzen. Man sitzt da, alles tut weh und man langweilt sich zu Tode.

Was können wir Menschen tun, die noch mitten im Leben sind?


Ich glaube, wenn wir endlich anfangen würden, unsere Sterblichkeit zu realisieren, und dass wir nur eine extrem kurze Zeit hier sind, gingen wir liebevoller miteinander um. Wir überstrapazieren die Welt als Ort der ewigen Glückseligkeit. In ihren ständigen Tanz kriegen wir keinen Halt, keine Ewigkeit – die müssen wir woanders suchen. Diese Suche nach der letztlich bestimmten Wirklichkeit hat mein Leben zwar immer beeinflusst, aber auf der letzten Strecke bekommt das ein anderes Gewicht. Ich bin dankbar, dass ich das so erleben kann, sogar mit all den Schmerzen.

Also sollten wir annehmen, was ist?

Wir haben ja dieses Leben in uns, die Seele oder Gott oder wie immer wir es nennen wollen. Jetzt erst sehe ich, wie stark ich mit meinem Körper, mit diesem Jutta-Sein verbunden bin. Loslassenlernen ist die einzige Aufgabe, die wir haben.

++ Jutta Winkelmann ist am 23. Februar 2017 in München verstorben. ++

Das Interview mit Jutta Winkelmann ist in "BRIGITTE Wir" (01/2017) erschienen.

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