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Jungsmütter - Mädchenmütter

Seit die Mädchen als neue Elite gelten und die Jungen als Problemgruppe, herrscht Eiszeit zwischen ihren Müttern. Report über einen Konflikt, bei dem keine von uns gut abschneidet.

Im Gebüsch einer Münchner Grundschule binden drei siebenjährige Jungen eine Mitschülerin an einen Baum. Sie küssen das Mädchen, es muss zurückküssen und später das "Lager" der Knaben in den Sträuchern aufräumen. Ihre Mutter ist entsetzt, ebenso einige Mütter von Klassenkameradinnen. Sie empören sich: Woher haben die Jungen das gewalttätige, frauenfeindliche Verhalten? Was läuft zu Hause schief?

"Wenn ein kleiner Junge einem Mädchen etwas tut, wird das sehr schnell gleichgesetzt mit der Gewalt von Männern gegen Frauen", weiß die Erzieherin und Sexualpädagogin Melitta Walter, Leiterin der bundesweit einzigen Fachberatung für "geschlechtergerechte Pädagogik und Gewaltprävention" in München. "Das ist aber übertrieben und falsch." Trotzdem, eine hässliche Nummer, die Jungs gehören eingenordet. Doch es kommt anders. Auf dem nächsten Elternabend gehen die gescholtenen Mütter der Missetäter zum Gegenangriff über und finden breite Unterstützung: "Ihr Mädchenmütter macht die Jungs schlecht! Was unsere Söhne getan haben, ist in diesem Alter normal, wir werden nichts unternehmen." Weinend verlässt die Mutter des kleinen Fessel-Opfers den Raum. Sieg für die Jungsmütter.

Mädchenmütter gegen Jungsmütter, Söhnemütter gegen Töchtermütter: Wie viele Familien mit ausschließlich weiblichen oder männlichen Kindern es in Deutschland gibt, ist nicht erfasst. Ein Anhaltspunkt: Allein 20 Prozent der insgesamt 14 Millionen minderjährigen Kinder gelten als Einzelkinder. Hinzu kommen die ungezählten Mütter, die mehrere Kinder nur eines Geschlechts haben. Längst nicht alle dieser Frauen beteiligen sich an der neuen Variante des Geschlechterkampfes, und doch gibt es spürbar mehr Konflikte als früher: Frauen mit Töchtern sind genervt davon, dass Bubenmütter ihren Nachwuchs häufig scheinbar nicht im Griff haben - zum Nachteil der Mädchen. Die wiederum fühlen sich angegriffen von den Mustermädchenmüttern, vermissen Verständnis und Unterstützung.

Ein anderer Elternabend, ein Gymnasium in Düsseldorf. Das Wort führt Thea Radovanovic, Philosophiestudentin und Mutter von zwei Töchtern. "Ich bin dagegen, dass Mädchen jeweils zwischen zwei Jungen gesetzt werden, damit in der Klasse Ruhe herrscht. Die lauten, wilden Jungen hindern sie bloß selbst am Lernen." Mädchen in die Rolle der Spaßbremse für männliche Mitschüler zu drängen ist gängige Praxis im Schulalltag. "Ein Unding", schimpft Melitta Walter. "Die Mädchen werden dazu missbraucht, die Aufgabe der Pädagogen zu übernehmen, nämlich Störer in Schach zu halten. Das ist eine Überforderung auf ihre Kosten." Jungsmütter haben selten etwas dagegen, schließlich profitieren ihre Sprösslinge davon. Radovanovic lächelnd: "Die Abstimmung ergab, dass die Mädchen sich umsetzen dürfen, wenn sie wollen. Wir Töchtereltern waren in der Überzahl." Triumph der Mädchenmütter.

"Es gibt eine wachsende Front", bestätigt Melitta Walter. In Elternseminaren hat die Fachfrau festgestellt: "Solidarität gibt es nicht mehr." Das war früher anders. Da zweifelte niemand an, dass "Stammhalter" ein bisschen mehr zählen und echte Jungs Rabauken sind. Im Zuge der Emanzipation haben sich alte Rollenklischees aufgelöst. Während Frauen das längst als Chance nutzen, herrscht vielerorts heillose Verwirrung über eine neue Definition zeitgemäßer Männlichkeit. Bei Vätern, aber vor allem bei denen, die immer noch die Hauptverantwortlichen in Sachen Erziehung sind: bei den Müttern. Sie wollen starke Typen heranziehen, natürlich aber auch keine Chauvis. Bloß, wie geht das alles zusammen?

Mädchenmütter dagegen haben durch die Emanzipation gewonnen, vor allem an Selbstbewusstsein. Was ihnen Auftrieb gibt: Längst gelten ihre Töchter als das starke Geschlecht, die neue Elite. Und jeder Sinn für Zusammenhalt ist beim Teufel. Auf beiden Seiten. Und in allen Ländern. In Skandinavien und in den USA entbrennt eine Debatte darüber, ob Mütter ihren Söhnen nahelegen sollten, auf Unisex-Toiletten in Schulen im Sitzen zu pinkeln. Auslöser ist die Weigerung einer finnischen Mutter, genau dies zu tun. Sollen doch die Mädchen wegen der mangelnden Treffsicherheit der Jungs im Nassen hocken! Die Mutter jedenfalls sieht des Sohnes Männlichkeit und ihren Erziehungsstil von Mädchenmüttern in Frage gestellt. Vor wenigen Jahren waren solche Diskussionen undenkbar.

"Früher halfen sich Mütter gegenseitig", erklärt Expertin Walter. "Heute kämpft jede für sich." Auch mit dem ständig steigenden Anspruch an die eigene Perfektion. Haushalt, Karriere, Aussehen, Kind - alles muss vom Feinsten sein. "Was für eine Zumutung, dass wir Frauen immer alles im Griff haben sollen!", schimpft Melitta Walter. Anstatt sich dagegen zu verwahren, ziehen Frauen sich den Schuh an. Und werten - das Prinzip ist immer das gleiche - andere Mütter ab, um sich selbst aufzuwerten. Wer sich dann noch einem Lager zuordnet, ist gänzlich geschützt: "Vor Angriffen, Zweifeln und Schuldgefühlen", so Melitta Walter.

In der Regel haben Jungs- und Mädchenmütter wenig miteinander zu tun. Sie klüngeln untereinander, genau wie es ihre Kinder tun. Mütter und Töchter verfolgen die TV-Episoden des Mutter-Tochter-Duos "Gilmore- Girls". Mütter und Söhne ziehen sich die Action-Serie "24" rein. Das ist die harmlose Variante der neuen Spaltung. Entschlossener scheiden sich die Geister, wenn Filme zum Leitbild werden. Millionenfach einig sind sich coole Jungs und lässige Mädchen etwa in ihrer Begeisterung für die "Wilden Kerle". Ihre Mütter natürlich nicht. "Mädchenmütter werfen mir oft vor, ich züchte Machos heran", erzählt Joachim Masannek, Schöpfer der Bestseller- Reihe und Regisseur der Filme. "Die Bubenmütter sind froh über die wilden Kerle, weil sich ihre Söhne endlich mit richtigen Jungen identifizieren können."

Doch nicht das Kino ist Hauptschauplatz der aktuellen Mütterfehde, sondern die Schule. Ohne guten Schulabschluss bestehen auf dem Arbeitsmarkt kaum Chancen. Es heißt: büffeln, pauken, streben. Mädchen werden damit vordergründig besser fertig. Sie passen sich leichter an, sind ruhig und gewissenhaft. In Sachen Bildung liegen sie deshalb inzwischen vorn. Anfang der 60er gab es an Gymnasien noch zwei Fünftel Mädchen und drei Fünftel Jungs. Heute ist über die Hälfte der Abiturienten weiblich.

Die Jungs bilden nur bei den Schulabbrechern die Spitze, machen 72 Prozent der Abgänger ohne Schulabschluss aus. Doppelt so viele Jungen wie Mädchen bleiben sitzen, seit den 80er Jahren haben die Schulleistungen der Jungen kontinuierlich nachgelassen. Mädchen dagegen schließen sogar in Naturwissenschaften und Informatik auf. Zudem glänzen die Alpha-Schülerinnen mit sozialer Kompetenz. Selbst in gemischten Klassen stellen sie immer häufiger die Klassensprecherin, engagieren sich beim schulischen Sanitätsdienst oder als Tutorin.

Der Neidfaktor für Knaben-Mamis ist hoch. "Die Mädchen sind die Messlatte dafür, was möglich wäre", weiß die staatliche Schulpsychologin Beate Sitek aus Starnberg. "Die Jungsmütter fühlen sich gedemütigt, weil die anderen die scheinbar besseren Mütter sind - denn deren Kinder funktionieren." Jungen dagegen machen sich oft unbeliebt. Sie flegeln, stören, schlagen. Am Ende der Fahnenstange jedenfalls, bei den Verhaltensstörungen, sind Jungen klar in der Mehrheit, Hyperaktivität kommt vor allem bei ihnen vor. Kein Wunder, dass etwa 85 Prozent des beruhigenden Psychopharmakons Ritalin Jungen gegeben wird. Und das Thema Gewalt ist ebenfalls weniger ein Jugend- denn ein Jungenproblem.

Der Anruf kam um die Mittagszeit. "Eine Frau schimpfte, mein Sohn hätte ihre Tochter in der Schule zusammengeschlagen; wir sollten mal zur Erziehungsberatung gehen." Eva Knauer aus dem bayerischen Scheuring, Mutter zweier Jungen, zog es den Boden weg. Der Direktor war bereits eingeschaltet, er verlangte eine Entschuldigung des 13-Jährigen.

Dann hörte die Ernährungswissenschaftlerin sich um: Sämtliche Klassenkameraden stimmten darin überein, dass der Streit von dem Mädchen ausgegangen war, das gepiesackt hatte, bis dem Schüler der Geduldsfaden riss und er die Nervensäge kratzte. "Mädchenmütter übertreiben gern, schützen ihre Töchter über die Maßen und behaupten meist, die Jungen seien aggressiv und unerzogen. Mäddchen stehen inzwischen automatisch als Unschuldsengel da", so Eva Knauer. "Gut, dass es in diesem Fall so viele Zeugen gab." Ihr Sohn entschuldigte sich nicht. "Und ich war total erleichtert, dass klar wurde, dass er kein Schläger ist."

Pädagogin Melitta Walter ist überzeugt: "Mütter von Söhnen haben es schwerer. Als Frauen haben sie eher eine Gespaltenheit dem Sohn gegenüber, keine instinktive Nähe wie bei einer Tochter." Das verunsichert. "Jungsmütter stehen unter irrem Druck", weiß auch Beate Sitek aus Beratungsgesprächen über Schüler, die Ärger machen. "Die Frauen haben bereits ein Aber auf den Lippen, wenn sie hereinkommen, wollen erklären, beschönigen, ausweichen. Sie fühlen sich viel schuldiger, als es Mädchenmütter tun." Dabei können sie weniger für die Misere, als sie fürchten.

Jungen, so zumindest die Meinung einiger Experten, sind im Schulsystem benachteiligt. Zum einen wegen des nachgewiesen größeren Bewegungsdranges, der sie ständig anecken lässt, zum anderen durch das frühe Aussortieren in der vierten Klasse. Jungen entwickeln sich langsamer. Außerdem brauchen sie dringend, was Mädchen automatisch haben: ein gleichgeschlechtliches Vorbild. Das können Mütter beim besten Willen nicht bieten.

Doch die Väter sitzen länger im Büro als früher, weil der Leistungsdruck auch im Beruf wächst - oder machen sich aus dem Staub: "Ich habe den Eindruck, die Männer sind noch weniger da als früher", erklärt Beate Sitek. Und weitere männliche Leitbilder, Erzieher oder Grundschullehrer etwa, existieren kaum. Mädchenmütter geben sich derweil weiter unversöhnlich. "Es kommen immer mehr, die sich darüber beschweren, dass die Klasse wegen der Buben im Lehrplan hinterherhinkt." Die weitere Entwicklung sieht die Fachfrau völlig illusionslos. "Die Fronten werden sich weiter verhärten", so Beate Sitek. "Denn unsere Gesellschaft wird immer leistungsorientierter."

Zu denen, die dem Mütterzwist naturgemäß unparteiisch gegenüberstehen, gehört die Literaturwissenschaftlerin Elena Kilian. Sie hat einen zwölfjährigen Sohn und eine zehnjährige Tochter. Und widerspricht den Expertinnen. "Ich finde es schwerer, heute ein Mädchen zu erziehen", sagt die 39-Jährige. "Meine Tochter geht mir viel mehr an die Substanz. Vielleicht gerade, weil alles intuitiv abläuft. Aber will ich wirklich das Vorbild sein?" Der Perfektionismus, das Konkurrenzgetue: Vielleicht haben das viele Mädchen ja auch eins zu eins von Mami übernommen?

Auch die Mädchen leiden. Ihre Mütter kennen den Preis, den sie häufig zahlen: Kopfschmerzen nach jedem Unterrichtstag, knallharte Zickenkriege um die besseren Noten und die drohende Gefahr, an Magersucht oder anderen Formen der Selbstzerstörung zu erkranken. Bildungstechnischer Pluspunkt der braven Mädchen: Nicht mal mit ihren Leiden fallen sie unangenehm auf, gehen niemandem auf die Nerven. Doch vielen Mädchenmüttern blutet das Herz.

Foto: dreamstime Text: Barbara Czermak BRIGITTE Heft 18/2007

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