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Betroffene wehren sich "Rastertherapie" nach Schema F: "Ich hätte die Krise bekommen, wenn ich in einem festen Zeitraum gesund werden muss"

Betroffene wehren sich: Zwei Frauen im Gespräch
In Deutschland sind laut der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN) jedes Jahr mehr als ein Viertel der Erwachsenen von einer psychischen Erkrankung betroffen (Symbolbild)
© wavebreakmedia / Shutterstock
Depression: 20 Therapiestunden. Burnout: 15. Was bisher individuelle Therapien sind, könnte laut Jens Spahn ab 2023 nach einem festen Schema ablaufen – individuelle Hilfe war gestern. Betroffene und Therapeuten laufen Sturm.

Etwa 18 Millionen erwachsene Menschen in Deutschland erfüllen jedes Jahr die Kriterien für eine psychische Erkrankung. Zu den häufigsten zählen Angststörungen, Depressionen oder psychische Störungen durch Alkohol- oder Medikamentengebrauch, so die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Wie kann man also möglichst viele von ihnen versorgen, wenn aktuell nur rund zwei Millionen Menschen in einer ambulanten Therapie sind? Dafür hat das Bundesgesundheitsministerium einen neuen Vorschlag: die, besonders auf sozialen Medien so bezeichnete, "Rastertherapie".

"Ich hätte die Krise bekommen, hätte man mir gesagt: Du hast diesen festen Zeitraum und in dem musst du gesund werden, denn danach wirst du rausgeschmissen. Mich hätte das total unter Druck gesetzt", sagt Sophia Sailer. Die 25-Jährige ist eine dieser zwei Millionen Menschen. Sailer war als Teenager wegen einer Depression jahrelang in Therapie, galt dann als austherapiert. Inzwischen ist sie wieder in Therapie, mit einer korrigierten Diagnose: Borderline-Persönlichkeitsstörung. Sollte die Rastertherapie tatsächlich umgesetzt werden, wäre das fatal für Menschen wie sie.

Zu wenige Therapieplätze, nicht zugänglich genug und ein gesellschaftliches Stigma

Um eine Psychotherapie in Deutschland zu beginnen, gibt es relativ hohe Hürden. Ein wichtiger Punkt ist der Versicherungsstatus, da sich gesetzliche und private Krankenversicherungen in den Leistungen unterscheiden. Die nächste ist wohl mit die höchste: eine:n passende:n Therapeut:in finden, der oder die auch noch Kapazitäten hat, neue Personen aufzunehmen. Sich an dieser Stelle vorerst mit einem Platz auf der Warteliste begnügen zu müssen, ist keine Seltenheit. Wenn ein Therapieplatz gefunden ist, folgen zwischen zwei und sechs Probesitzungen, um herauszufinden, ob Therapeut:in und Patient:in zueinander passen. Erst im Anschluss daran wird in mehreren Diagnosesitzungen die passende Diagnose gestellt – an dieser Stelle setzt die Rastertherapie an.

Das Vorlage-Papier liegt mehreren Medien vor und formuliert einen eigentlich sinnvollen Ansatz: "Der Gemeinsame Bundesausschuss prüft bis zum 31. Dezember 2022 unter Berücksichtigung der Versorgung nach Absatz 6b, wie die Versorgung von psychisch kranken Versicherten bedarfsgerecht und schweregradorientiert sichergestellt werden kann." Dennoch ließ dieser Satz mehrere Stellen aufhorchen, so beispielsweise die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK). "Nach unseren Recherchen soll am Anfang einer Psychotherapie nicht mehr die individuelle Diagnose und Abstimmung der Behandlung mit dem Patienten oder der Patientin stehen, sondern grobe Kriterien, die nach Schema F festlegen, ob und wie lange ein Patient oder eine Patientin behandelt werden darf", sagte BPtK-Präsident Dietrich Munz dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.

Eine Katastrophe für Patient:innen

Bekommt ein:e Patient:in also am Anfang beispielsweise die Diagnose Depression, was immerhin rund 1,4 Millionen Menschen pro Jahr betrifft, könnte es festgelegte Kriterien geben, wie diese Person zu behandeln ist. Für individuelle Behandlungen bliebe dabei wohl wenig Zeit, kritisieren Verbände, Therapeut:innen und vor allem auch Betroffene. Schauspielerin Nora Tschirner sprach kürzlich sehr offen über ihre Depression und auch über das damit verbundene Stigma, das es zusätzlich erschwert habe, sich überhaupt erst in Therapie zu begeben. Auf Instagram macht sie ihrem Entsetzen Luft: Psychische Krankheiten sind "viel erforscht, aber es ist so individuell, was das für jeden heißt, dass eine feste Stundenzahl für viele Leute direkt in dunkelste Täler führt. Weil man mit dem Druck, dieses Problem doch jetzt bitte mal in 20 Stunden zu regeln, teilweise nicht mal loslaufen kann."

Eine ähnliche Sicht hat die 25-jährige Sophia Sailer: "Um wirklich langfristig an meiner Symptomatik arbeiten zu können, muss ich stabil sein. Wenn ich mir vorstelle, dass die Therapeutin Druck hat, diese Therapie so frühzeitig wie möglich zu beenden, wäre das für mich fatal gewesen." Stattdessen ginge eine Änderung der Psychotherapeutenrichtlinie wie diese an den Bedürfnissen psychisch Kranker vorbei. Die Reform sei nicht bedarfsorientiert, sondern wieder ein Auswuchs davon, wie man das Gesundheitssystem kaputtspart, so Sailer.

Sophia Sailer, 25, kommt aus Dortmund. Sie ist Studentin, freie Journalistin und postet als "die_millennial" auf Instagram vorwiegend über gesellschaftspolitische Themen, aber auch über ihre Psyche, um sich für die Entstigmatisierung von psychischen Krankheiten einzusetzen. Vor einem Jahr wurde bei ihr eine Borderline-Persönlichkeitsstörung diagnostiziert.

Das Bundesgesundheitsministerium versteht die Aufregung nicht

Auf stern-Anfrage antwortet das Bundesgesundheitsministerium, es sei noch nichts beschlossen, der Ausschuss würde vorerst die Möglichkeiten prüfen: "Dieser Prüfauftrag soll ergebnisoffen sein. Diese Abstimmung bleibt abzuwarten. Die aktuelle Aufregung steht allerdings in keinem Verhältnis zur Sachlage." Zudem sei die Idee dahinter, dass per se mehr Patient:innen versorgt werden müssten, keine schlechte Idee. Dem entgegnet allerdings Sophia Sailer: "Vielleicht haben dann mehr Leute eine Therapie, aber wenn sie diese nicht beenden können aus Zeitgründen, bringt es ja auch nicht so viel."

Was ist also nötig, anstatt die Therapiezeit zu begrenzen und eine individuelle Therapie durch einen Prozess nach Schema F zu ersetzen? Mehr Anlaufstellen und eine leichtere Zugänglichkeit auch für gesetzlich Versicherte. Nicht zuletzt – bei 18 Millionen Menschen mit einem psychischen Krankheitsbild – müssen psychische Krankheiten endlich normaler werden, fordern Betroffene wie Schauspielerin Nora Tschirner oder auch Sophia Sailer: "Mein Gott, es ist doch wirklich kein Geheimnis mehr, dass psychische Krankheiten existieren und man mit denen auch genauso normal umgehen sollte! Aber ich weiß natürlich auch, dass das noch nicht gesellschaftlicher Konsens ist, auch wenn ich es mir wünschen würde."

Quellen: "Redaktionsnetzwerk Deutschland" / Bundespsychotherapeutenkammer / Deutsche Depressionsliga / BAG Selbsthilfe / Psychotherapiesuche / Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. / Instagram: Nora Tschirner

Dieser Artikel erschien ursprünglich auf stern.de.

mkb/stern

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