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Eine Aussteigerin erzählt "Bei den Zeugen Jehovas beherrschte der Glaube das ganze Leben"

Jehovas Zeuge: Betende Hände über einem Buch
© wavebreakmedia / Shutterstock
Stefanie de Velasco wuchs im Rheinland bei den Zeugen Jehovas auf. Jahrelang trug sie ihre Erinnerungen daran wie einen Blindgänger in sich herum. Dann kam es zur Explosion. Davon handelt ihr neuer Roman "Kein Teil der Welt".

Wie fühlt sich eine Schriftstellerin, die sich den Stoff ihres Lebens von der Seele geschrieben hat? Stefanie de Velasco, 41 Jahre alt, antwortet mit einem Sprung über den Potsdamer Platz und ruft: "Wie ein Pferd im Leichttrab." Wir haben uns vor der Berliner Staatsbibliothek getroffen, wo die Autorin jeden Tag ab acht Uhr morgens schreibt, und spazieren nun in Richtung Tiergarten. Mischlingshund Pinsel, der normalerweise um diese Zeit zu Hause ist, ist mit von der Partie. Brav an der Leine, Autorin und Hund sind ein perfekt eingespieltes Team. In den vergangenen sechs Jahren, in denen Stefanie de Velasco an ihrem Roman "Kein Teil der Welt" gearbeitet hat, gab es Zeiten, in denen sie nichts anderes zuwege brachte als Spaziergänge mit Pinsel. Sie konnte weder schreiben noch putzen, noch kochen, weil sie an einer Sehnenscheidenentzündung an beiden Händen litt – ein ganzes Jahr lang. "Es war die Hölle", sagt sie. Die Krankheit, weiß sie heute, hatte mit dem Buch zu tun, mit seinem Stoff, der jahrelang wie ein Blindgänger in ihr gewohnt hatte und sich nun entzündete. Aber es gab keine Alternative zu dieser Explosion: "Ich musste mich von ihm befreien."

Sie schöpft aus ihren eigenen Erfahrungen

"Kein Teil der Welt" handelt vom Aufwachsen zweier Mädchen bei den Zeugen Jehovas. Stefanie de Velasco hat selbst bis zu ihrem 15. Geburtstag inmitten der religiösen Glaubensgemeinschaft gelebt. Auch wenn keine der beiden Figuren ihr haargenau gleiche, sagt sie, habe sie beim Schreiben natürlich aus eigenen Erfahrungen schöpfen können. Sie musste sich nicht vorstellen, wie man sich vor Supermärkten und Bahnhöfen fühlt, mit einem "Erwachet"- oder "Wachtturm"-Heft in der Hand. Sie hat schon als Kind an der Seite ihrer Mutter dort gestanden. Mit ihr zog sie auch von Haus zu Haus und klingelte bei völlig fremden Menschen, um ihnen "die Wahrheit" zu verkünden. Sie verbrachte unzählige Abende bei Vorträgen und Bibelstudien im Königreichssaal, dem sogenannten Versammlungsort der Glaubensgemeinschaft. Sie trug unter ihrer Kleidung einen Ausweis, auf dem eine durchgestrichene Blutkonserve zu sehen war. Symbol dafür, dass Bluttransfusionen aus religiösen Gründen nicht erwünscht sind.

Sie ging zur Schule wie andere Kinder auch, nahm aber nicht an Klassenfahrten und am Religionsunterricht teil und verteilte im Biologieunterricht Schöpfungsbücher an ihre Mitschüler, die die Abstammungslehre Darwins bestreiten. Sie feierte keine weltlichen Feste, weder Weihnachten noch Geburtstage. Auch ihren eigenen nicht. Die Zeugen Jehovas dulden keine Geschenke. Die einzig gültige Gabe kommt von Gott – und der schenkt das ewige Leben. "Alle Kinder in unserer Versammlung freuten sich auf das Paradies, wie Weltkinder sich jedes Jahr auf den Weihnachtsmann freuen. Im Unterschied zu den Weltkindern, die genau wussten, wann Weihnachten war, wussten wir nicht, wann das Paradies kommen würde, nur, dass es nicht mehr lange dauern würde und dass, wenn es einmal da wäre, es mehr brächte als Stofftiere, Fahrräder und Legobaukästen", heißt es im Buch.

Alles, was wir taten, alles, was wir dachten, floss wie in der Schule in eine Art Endnote, in die Bewertung unseres Lebens ein

Nicht jeder, der mit "Wachtturm"-Heften vor Supermärkten steht, bekommt automatisch einen Platz im Paradies. Rund 165 000 Mitglieder hat die Sekte in Deutschland. 144 000 Menschen aller Zeugen Jehovas weltweit, so ihr Glaube, werden nach ihrem Tod im Himmel leben und dort gemeinsam mit Jesus regieren. Wer es schafft, darüber entscheidet ein Endzeitgericht, genannt Harmagedon, eine Art göttliches Großreinemachen, in dem alle umkommen, die nicht auserwählt sind. Der Glaube daran beherrscht das ganze Leben: "Alles, was wir taten, alles, was wir dachten, floss wie in der Schule in eine Art Endnote, in die Bewertung unseres Lebens ein und entschied darüber, ob wir es wert waren, im Paradies zu leben oder nicht", schreibt Stefanie de Velasco.

Im Berliner Tiergarten ist mitten im Herbst der Sommer zurückgekehrt. Pinsel, der Mischlingshund, hat sich im bunten Laub niedergelassen und lässt der Autorin alle Zeit der Welt zu erzählen, wie sie damit begonnen hatte, all das zu hinterfragen, was einmal selbstverständlicher Teil ihrer Welt gewesen war: "Der Ausstieg war ein langer Prozess. Es dauerte Jahre, bis aus den ersten Zweifeln ein wirklicher Entschluss erwuchs. Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich eine Bluse mit riesigen Rüschen am Ärmel trug, als ich meiner Mutter erklärte, dass ich nicht mehr zu den Zusammenkünften gehen würde."

Üblicherweise brechen die Zeugen Jehovas den Kontakt zu denjenigen ab, die die Glaubensgemeinschaft verlassen. Auch die meisten Eltern verweigern sich ihren Kindern. Die Mutter von Stefanie de Velasco tat das nicht. Ihre Tochter war bei ihrem Ausstieg 15 Jahre alt und lebte noch bis zu ihrer Volljährigkeit zu Hause. "Wir haben miteinander geredet, aber ich habe gespürt, dass ich für sie verloren war", erinnert sich die Autorin. Sie ist in Sankt Augustin bei Bonn groß geworden. Ihre Mutter, eine Spanierin, verließ mit 21 Jahren ihre Heimat und heiratete einen Deutschen. Sie sei wohl auf der Suche nach einer Welt gewesen, in der sie sich sicherer fühlen konnte als im von Franco regierten Spanien, wo noch immer Terror und Angst herrschten, erzählt die Tochter. Ihre deutsche Ehe habe sie jedoch enttäuscht, sie sei unglücklich gewesen und offen für die Mission der spanisch sprechenden Zeugen Jehovas, die irgendwann an ihrer Tür klingelten. Sie ließ sich taufen, trennte sich von ihrem Mann und zog ihre drei Kinder allein groß. Ihre Mutter, sagt die Autorin, sei bis heute Mitglied der Glaubensgemeinschaft und habe von ihrem Buchprojekt keine Kenntnis gehabt. "Ich hatte nicht das Gefühl, sie fragen zu müssen. Es ist ein Roman, keine Autobiografie."

Ein Roman voller Spannung - bis zum Ende

Wie lässt sich das eigene Leben in einen Roman verwandeln? Ein Leben, das für Außenstehende exotisch anmuten mag, aber für die Autorin selbst nur ein Leben war, in dem sich Dinge unendlich oft wiederholten. Die Suche nach der adäquaten Form für ihre Erinnerungen habe sie mindestens so sehr wie das Erinnern selbst gequält, sagt Stefanie de Velasco. Auf ihren Spaziergängen begriff sie irgendwann, dass sie eine Hauptfigur brauchte, die etwas Dramatisches erlebt haben musste. Einen Bruch auf mehreren Ebenen. Sie stieß auf die spannende Geschichte der Zeugen Jehovas in Ostdeutschland. Wie im Dritten Reich waren sie auch in der DDR verboten und verfolgt und konnten sich nur heimlich im privaten Rahmen treffen. Und so lässt sie ihre Hauptfigur Esther mit ihrer Familie kurz nach der Wende aus dem fiktiven westdeutschen Geisrath ins ostdeutsche Dorf Peterswalde übersiedeln, um dort als "Sonderpioniere" zu missionieren. Allein, ohne ihre beste Freundin Sulamith, die ihren Ausstieg bereits verkündet hatte und urplötzlich verschwunden ist. Die quälende Frage, was mit ihr passiert sein könnte, zieht sich durch den gesamten Roman. Aus wechselnden Perspektiven wird von Geisrath und von Peterswalde erzählt, von der Zeit mit und der Zeit ohne Sulamith. Es entsteht ein ganz eigener Rhythmus aus Fragen und Antworten, aus Vergangenheit und Gegenwart, aus Vertuschung und Wahrheit. Er spannt sich zu einem Bogen auf, der den Leser von der ersten bis zur letzten Seite in Atem hält.

Spannung ist eine der Stärken des Romans, eine andere die eindrückliche Schilderung einer Mädchenfreundschaft. Wie schon in ihrem erfolgreichen Debüt "Tigermilch", einem Roman über zwei Großstadtmädchen, findet Stefanie de Velasco immer wieder authentische, wiedererkennbare und gleichzeitig überraschend poetische Bilder für ein Thema, in dem sich wohl jede Frau wiederfinden kann: die Freundin als Vorbild und Spiegel, als erste Liebe, als Verbündete, als Familienersatz. Die Mädchen im Roman – Sulamith, die mit ihrer Mutter aus Rumänien emigriert ist, und die Deutsche Esther – sind beide Einzelkinder und wachsen wie Schwestern auf. Sie teilen alles, halten ihre Gedanken und Gefühle in Tagebüchern fest, in die sie wechselseitig hineinschreiben. Sie liegen abends gemeinsam im Bett und rätseln, ob das fliegende Licht unter den Rollläden tatsächlich von den vorbeifahrenden Autos stammt oder nicht vielleicht doch von den Dämonen, die sich nur nachts zeigen. Je älter sie werden, umso weniger glauben sie zwar an solche Wesen, aber die Angst bleibt. Sie ist ihr Kokon. Eng, aber auch warm und vertraut.

Der Weg zurück zur eigenen Identität

Wovor hatte die Autorin selbst am meisten Angst bei ihrem Ausstieg? "Man stellt sich nicht vor, wie es sein wird", sagt Stefanie de Velasco, "wi." Wie schwierig der Schritt für sie war, bemerkte sie zunächst an ihren Schulleistungen, die absackten. Erst ein Umzug nach Bonn mit 18 Jahren brachte Besserung durch den nötigen Abstand. Sie trat einer Theater-AG bei, machte erste Erfahrungen als Schauspielerin, verdiente ihr eigenes Geld, fühlte sich frei. Es war alles gut. Bis sie mit Mitte 20 an Panikattacken und einer Depression erkrankte. "Als Kind kann man viel ausblenden, Dinge von sich weghalten. Die Zeugen Jehovas gelten als friedliche, nette Menschen. Niemand nimmt sie wirklich ernst. Aber bei denen groß zu werden ist hochproblematisch", sagt Stefanie de Velasco. Eine Therapie half, die Krise in eine Chance zu verwandeln. Ein Gefühl für die eigene Identität zu entwickeln. Sie stellte fest, dass sie nicht schauspielern, sondern schreiben wollte. Texte entstanden, ihr erstes Buch erschien, für das sie sehr gelobt wurde. Die Erfahrung des Fremdseins zahlte sich beim Schreiben aus. Ihre Figuren sind kein selbstverständlicher Teil der Welt. Wer durch ihre Augen sieht, verwandelt das Vertraute in etwas Fremdes. Es ist ein erfrischender Blick.

Inzwischen arbeitet die Autorin an einem dritten Roman. "Etwas Leichtes, zur Belohnung", sagt sie. Eine Art utopischer Gartenroman, inspiriert durch die Erfahrungen in einem Schrebergarten, in dem sie seit einiger Zeit leidenschaftlich tätig ist. Ein Lieblingsplatz, nicht nur für sie selbst – auch für Pinsel, den geduldigsten Hund von ganz Berlin.

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