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Warum werden deutsche Jugendliche zu Islamisten?

Warum werden deutsche Jugendliche zu Islamisten?
© picture alliance / dpa
Islamismus in Deutschland ist ein wachsendes Problem. Was suchen junge Menschen bei den radikalen Gruppen? Darüber haben wir mit Florian Endres von der "Beratungsstelle Radikalisierung" gesprochen.
Florian Endres,
hat Politikwissenschaften und Kriminologie studiert und ist Experte für Islamismus. In der "Beratungsstelle Radikalisierung" berät der 32-Jährige Menschen, die sich Sorgen um Freunde oder Angehörige machen.
© Corinna Rappe

Wir hören täglich Meldungen über islamistische Kämpfer, die für ihren Glauben in den Krieg ziehen, viele von ihnen sind sehr jung. Ist die Radikalisierung von Jugendlichen auch ein wachsendes Problem in Deutschland?

Wenn man von der Zahl der Anfragen bei uns ausgeht, muss man sagen: ja. Denn die geht konstant nach oben. Wir hatten seit dem Start der Beratung insgesamt mehr als 280 Beratungsfälle aus ganz Deutschland. Im Vergleich zu 2012 hat sich die Zahl 2013 sogar verdoppelt. Im Schnitt haben wir drei bis fünf neue Beratungsfälle pro Woche, die zu den ohnehin laufenden Fällen dazu kommen.

Wer meldet sich bei Ihnen in der Beratungsstelle?

Es sind hauptsächlich Eltern oder andere Familienmitglieder, vor allem Mütter. Aber es rufen auch immer mehr Lehrer an, die Radikalisierung in ihrer Klasse beobachten oder generell an der Schule.

Von welchen Problemen berichten die Anrufer?

Die meisten machen sich Sorgen, dass ihre Kinder in den radikalen Islamismus abgleiten. Das betrifft vor allem Fälle von Jugendlichen, die sich dem so genanneten politischen oder "Mainstream- Salafismus" anschließen und zum Beispiel anfangen, den Koran in Fußgängerzonen zu verteilen oder versuchen, andere zu missionieren. Diese islamistische Bewegung ist sehr aktiv in Deutschland.

"Vor 20 Jahren war es krass, ein Punker zu sein. Heute schockiere ich, wenn ich Koranbücher verteile."

Was suchen die Jugendlichen bei den salafistischen Gruppen? Thrill? Oder eher Anerkennung und Geborgenheit?

Die Menschen aus dem salafistischen Milieu reagieren sehr gut auf die Fragestellungen der Jugendlichen. Sie bieten den Jugendlichen Orientierung und klare Antworten auf schwierige Fragen. Es gibt in ihrer Ideologie nur richtig oder falsch. Der Jugendliche weiß genau, was er tun soll und empfindet ein großes Gemeinschaftsgefühl. Auch die Abgrenzung spielt eine Rolle, das Gefühl zur "richtigen" Seite zu gehören. Viele Jugendliche fühlen sich als Muslime in Deutschland ohnehin abgelehnt. Die Ideologie, die vermittelt wird, sorgt für ein Überlegenheitsgefühl. Sie glauben, dass sie zu den Auserwählten gehören und alle anderen in die Hölle kommen. Manche Jugendliche wollen auf diese Weise auch ihre Familie und ihr Umfeld provozieren. Vor 20 Jahren war es noch krass, ein Punker zu sein und mit einem Irokesenschnitt herumzulaufen. Heute schockiere ich eher, wenn ich mich voll verschleiere oder mit Bart und weißen Gewändern Koranbücher verteile.

Wie versuchen Sie den geschockten Angehörigen zu helfen?

Wir finden zunächst heraus, ob es sich wirklich um Radikalisierung handelt oder ob es eher allgemein um den Islam geht. Denn es gibt auch viele Eltern, die zum Beispiel fragen: "Mein Sohn ist letzte Woche zum Islam konvertiert, was muss ich da jetzt beachten?" Oder: "Wird er jetzt auf jeden Fall Islamist, nur weil er Muslim ist?" Hier geht es vor allem darum, Vorurteile abzubauen und Angst zu nehmen. Wir beantworten die Fragen der Eltern und vermitteln Experten aus unserem Netzwerk, die mit den Eltern zum Beispiel mal eine Moschee besuchen. Aber es gibt auch die Fälle, bei denen wir schon im Erstgespräch feststellen, dass da eine Radikalisierungsgefahr besteht oder dass die Radikalisierung schon im Gange ist.

Woran erkennen Sie das?

Es gibt typische Verhaltensmuster. Wenn die Eltern zum Beispiel schildern, dass ihr Kind Koran-Bücher in der Innenstadt verteilt oder dass es sich im Netz Kampfvideos aus Syrien anschaut oder eventuell schon den Wunsch äußert, selber in Syrien auf Seiten der Jihadisten zu kämpfen. Wenn es plötzlich seinen ganzen Freundeskreis wechselt und sein Leben komplett auf die Einhaltung von Glaubenspraktiken eingestellt hat. Wenn sich das Verhalten des Jugendlichen stark verändert hat und es nur noch auf Konfrontation aus ist, die Familienmitglieder beschimpft und von seinem neuen Glauben überzeugen will. In solchen Fällen werden wir hellhörig.

Wie reagieren die Eltern denn am Telefon?

Viele sind sehr aufgewühlt, weinen die ganze Zeit oder sind wütend, weil sie mit ihrem Kind nicht mehr klarkommen. Das familiäre Zusammenleben ist völlig gestört. Manche überlegen auch, ob sie ihr Kind rausschmeißen sollen. Hier versuchen wir zu beruhigen und raten den Eltern, erstmal zu deeskalieren. Denn die Eltern und andere Familienmitglieder haben trotz allem Streit den meisten Einfluss auf die Jugendlichen. Sie haben die Schlüsselrolle, wenn es darum geht, die Radikalisierung zu stoppen.

Und bei dieser Aufgabe begleiten Sie die Eltern auch über einen längeren Zeitraum?

Ja, wenn die Anrufer sich nach dem ersten Gespräch für eine professionelle Beratung entscheiden, dann vermitteln wir an einen unserer Partner weiter. Das sind vor allem Einrichtungen aus dem sozialen Bereich. Die kontaktieren die Eltern in der Regel innerhalb von 24 Stunden. Sie sprechen mit ihnen darüber, wie sie mit ihrem Kind reden können, sie schauen auch, ob es noch andere Ansprechpartner gibt, eine Lehrerin oder einen Imam zum Beispiel. Auf diese Weise bauen die Berater ein Umfeld auf, das dem Jugendlichen eine Alternative zu den islamistischen Gruppen bieten kann.

Man konnte öfter gelesen, dass die Jugendlichen sehr plötzlich zu Radikalen wurden und vorher völlig unauffällig waren.

Ja, wir erleben immer wieder, dass die Radikalisierung sehr schnell abläuft, gerade bei Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren. Allerdings haben wir beim Auswerten unserer Fälle auch festgestellt, dass die meisten Eltern mindestens sechs Monate lang von dem Wandel wussten, ehe sie sich bei uns gemeldet haben. Die Hemmschwelle anzurufen ist für viele sehr groß. Aber natürlich gilt für uns: Je eher sich die Menschen an uns wenden, desto größer sind die Chancen, den Jugendlichen von diesem Weg abzubringen.

Ist Ihnen das denn schon gelungen?

Ja, es gibt Erfolgsgeschichten. So hatten wir den Fall eines Mädchens, das ins türkisch-syrische Grenzgebiet gereist ist, um dort islamistische Kämpfer zu unterstützen. Durch unser Coaching ist es den Eltern gelungen, das Mädchen zum Nachdenken zu bringen. Am Ende änderte sie ihre Meinung und kehrte nach Deutschland zurück. Aber nicht alle Beratungsprozesse sind so schnell abgeschlossen. Es gibt kein Standardrezept, das sofort wirkt, auch wenn sich das viele Eltern natürlich wünschen. Ein Erfolg ist für uns auch, wenn die Eltern sagen, dass sie sich durch die Beratung gewappnet fühlen und nun wissen, wie sie mit ihrem Kind umgehen sollen.

Rund ein Viertel der Fälle sind Mädchen

Man denkt bei Islamismus ja eher an junge Männer, aber offenbar sind auch einige Mädchen betroffen?

Ja, ich schätze, dass es bei etwa 20 bis 25 Prozent unserer Beratungsfälle um Mädchen geht. Die meisten von ihnen haben sich einer salafistischen Gruppe angeschlossen, aus ganz unterschiedlichen Gründen. Oft sind sie über den Freund oder Freundinnen in diese Kreise geraten.

Melden sich bei Ihnen eher Anrufer mit Migrationshintergrund oder ist das auch ein Klischee?

Nein, die Mehrheit der Anrufer bei uns kommt aus deutschen Familien. Allerdings hat die Zahl der Anrufer mit Migrationshintergrund oder aus der muslimischen Community in den letzten Monaten stark zugenommen. Mittlerweile liegt der Anteil bei etwa 35 Prozent. Das lässt sich wohl unter anderen damit erklären, dass die Hemmungen hier größer sind, sich mit familiären Problemen an eine deutsche Behörde zu wenden.

Im syrischen Bürgerkrieg kämpfen immer mehr Deutsche mit: Der Verfassungsschutz geht von 400 Ausreisen von Deutschen nach Syrien aus. Darunter sind auch Jugendliche. 2013 starb ein 16-Jähriger aus Frankfurt, der sich den Islamisten angeschlossen hatte.
Im syrischen Bürgerkrieg kämpfen immer mehr Deutsche mit: Der Verfassungsschutz geht von 400 Ausreisen von Deutschen nach Syrien aus. Darunter sind auch Jugendliche. 2013 starb ein 16-Jähriger aus Frankfurt, der sich den Islamisten angeschlossen hatte.
© Katan/Reuters

Haben Sie auch oft mit den jungen deutschen Kämpfern in Syrien zu tun, von denen man jetzt in den Medien immer wieder hört?

Das Thema Syrien hat seit Sommer 2013 sehr an Fahrt aufgenommen. Wir hatten rund 40 Fälle, bei denen Jugendliche planten, nach Syrien zu reisen oder auch schon dorthin ausgereist waren. Sie werden von Kontaktleuten dort gelockt, die Deutsch sprechen und sie auffordern, einen "islamischen Staat" mit aufzubauen und im Kampf gegen die "Ungläubigen" zu helfen. Diese Fälle sind sehr beratungsintensiv, und wir müssen da eng mit den Sicherheitsbehörden zusammenarbeiten.

Belastet das nicht das Vertrauen zur Familie?

Das ist natürlich ein kritischer Punkt. Aber in unseren Fällen waren die Eltern schon so verzweifelt und hatten so viel Angst um ihre Kinder, dass ihnen jede Hilfe recht war. Sie wollten, überspitzt gesagt, ihr Kind lieber hier im Gefängnis sehen, als tot irgendwo in Syrien im Sand verscharrt. Das sind sehr brisante Geschichten, bei denen es ganz wichtig ist, dass wir Hand in Hand mit der Polizei arbeiten und die Angehörigen sehr eng betreuen.

Ist Islamismus ein gesamtdeutsches Problem oder gibt es Brennpunkte?

Die meisten unserer Fälle kommen aus Nordrhein-Westfalen, Hessen, Hamburg und Berlin. Dort sind auch die salafistischen Gruppierungen am aktivsten. Aus Bayern und Baden-Württemberg kommen ebenfalls einige Anrufer. In den neuen Bundesländern wiederum haben wir fast gar keine Fälle.

Wie können wir der Verbreitung des Islamismus vorbeugen? In Nordrhein-Westfalen bieten einige Schulen Islamkunde an, kann das helfen?

Das ist auf jeden Fall ein guter Weg, um an die Jugendlichen ranzukommen. Auch demokratische Werte sollten im Unterricht noch stärker vermittelt werden. Ab es ist auch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wir brauchen insgesamt mehr Aufklärung über den Islam und Islamismus. Es muss etwas gegen die Muslimfeindlichkeit getan werden, weil diese Ablehnung den Radikalen in die Hände spielt. Und auch die Eltern sind gefragt. Sie müssen sich fragen, ob sie wirklich für ihre Kinder da sind und sich für sie interessieren. Unsere Erfahrungen zeigen, dass sich gerade Jugendliche, die in der Familie vernachlässigt wurden, Bestätigung bei radikalen Gruppen suchen.

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