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"Behindert, oder was?" Wie ableistisch sind wir eigentlich?

Mareice Kaiser und Rebecca Maskos
Rebecca Maskos und Mareice Kaiser
© Carolin Weinkopf
Echte Teilhabe für alle. Davon sind wir leider noch ziemlich weit entfernt. Aber würdest du dich selbst als ableistisch bezeichnen? Wahrscheinlich nicht. Warum es sich trotzdem lohnt, die eigenen Sprach- und Denkmuster zu prüfen und wie wir uns gemeinsam auf den Weg in eine inklusivere Gesellschaft machen können? Wir haben mit den Autorinnen des Buches "Bist du behindert, oder was?" Mareice Kaiser und Rebecca Maskos über Barrieren, ableistische Strukturen und sensible Sprache gesprochen.

43 Stufen zur S-Bahn-Station, Informationstexte in kleiner Schrift, zu enge Wege ... Wenn wir genau hinschauen, gibt es für Menschen mit Behinderung jede Menge Barrieren – nicht nur in unserer Umwelt, sondern auch in unseren Köpfen. Mareice Kaiser und Rebecca Maskos, die Autorinnen des Buches "Bist du behindert, oder was?", haben uns verraten, was wir selbst für eine inklusivere Gesellschaft tun können und warum ableismussensible Sprache wichtig ist.

BRIGITTE: Frau Kaiser, wie weit sind wir eigentlich von einer inklusiven Gesellschaft entfernt?
Mareice Kaiser: Die Stufen sind ein gutes und schlechtes Beispiel gleichzeitig. Ich erlebe immer wieder, dass junge Eltern so einen Erweckungsmoment haben, wenn sie mit dem Kinderwagen durch die Gegend rollen. Wow, die Aufzüge sind ja überall kaputt! Wow, das ist ja total beschwerlich. Aber ich beobachte eben auch, dass diese Beobachtung dann schnell wieder vergessen wird, wenn die Kinder größer sind und sich die Familie anders fortbewegt. Komplett vergessen wird dabei, dass man einen Kinderwagen easy über Treppen tragen kann. Mit Elektro-Rollstühlen geht das nicht. Mit denen kommt man auch nicht ohne Anmeldung in die Deutsche Bahn. Wichtig ist auch, dass es bei Barrierefreiheit um viel mehr als nur Mobilität geht. Es geht um Teilhabe am Leben.

Warum geht uns das Thema alle an?
Mareice Kaiser: Der Umgang mit Behinderung betrifft uns alle. Denn wir alle sind in verschiedenen Situationen darauf angewiesen, dass wir teilhaben können. Dass wir in Räume kommen, dass wir Worte verstehen, dass wir mitmachen können. 97 Prozent aller Behinderungen werden im Laufe des Lebens erworben. Es ist sehr, sehr unwahrscheinlich, ohne Behinderungen durchs Leben zu gehen. Und da wäre es doch super, in einer möglichst barrierefreien Welt zu leben.

Wo nutzen wir im Alltag ableistische Sprache oder verhalten uns ausgrenzend, wo wir es vielleicht gar nicht merken?
Rebecca Maskos: An vielen Stellen! Wir sagen ganz alltäglich "Schwachsinn" oder "So ein Idiot" und den allermeisten Leuten fällt gar nicht auf, dass dies veraltete Begriffe für "geistige Behinderung" sind. Oft ist das, was mit Behinderung zu tun hat, ein Sprachbild für etwas Negatives oder Zweifelhaftes. Zum Beispiel "blindes Vertrauen" oder das "blinde Huhn", die sprichwörtlichen "tauben Ohren", auf die etwas stößt, oder die "lahme Party". 

Auch unser Titel "Bist du behindert, oder was?" ist ja sehr gängig, besonders auf Schulhöfen. Aber nicht nur Kinder nutzen "behindert" als Schimpfwort, auch Erwachsene. Ein Ausdruck für den Ableismus, der tief in unserer Gesellschaft verankert ist. "Behindert", das steht für alles, was wir nicht sein wollen: schwach, abhängig, hilfsbedürftig. Dabei wäre unsere Gesellschaft viel besser, wenn wir anerkennen würden, dass wir alle immer mal hilfsbedürftig und schwach sind. Das gehört zum Leben dazu und wir sollten es nicht verleugnen – lieber die Gesellschaft darauf einrichten. Momentan halten wir uns jedoch von Behinderung lieber fern, reden manchmal nur mit der Begleitperson, statt mit der behinderten Person selbst, oder trauen behinderten Menschen viel zu wenig zu. 

Im Kontakt dreht sich oft alles nur um die Behinderung – als wenn behinderte Menschen keine vielfältigen Persönlichkeiten wären. Mitleidige und bewundernde Kommentare wie "toll, wie du dein Leben meisterst" stellen behinderte Menschen immer wieder vor die Herausforderung, mit der darunter liegenden Annahme umzugehen: Dass ein Leben mit Behinderung eigentlich nur ein leidvolles, entwertetes Leben sein kann. Das deckt sich oft gar nicht mit der Realität.

Und wie können wir unseren Kindern von klein auf einen respektvollen und inklusiven Umgang mit Menschen mit Behinderung nahebringen?
Rebecca Maskos: Erst mal, in dem wir ihnen so viel Kontakt wie möglich mit anderen Kindern mit Behinderung bieten. Inklusive Kitas sind ein ganz wichtiger Startpunkt für eine inklusive Gesellschaft. Das gemeinsame Spielen und Lernen sollte aber auch danach, in der Schule und im Alltag weitergehen. Entscheidend ist, wie sich Erwachsene dabei verhalten, an ihnen orientieren sich Kinder stark. Wenn Erwachsene ihnen zeigen, dass für sie Behinderung etwas Selbstverständliches ist, dass es normal ist, dass Menschen unterschiedlich aussehen, sich verschiedenen bewegen oder sprechen, dann ordnen auch Kinder das als normal und alltäglich ein. 

Es hilft, von Gemeinsamkeiten auszugehen. Zum Beispiel zu zeigen, dass wir alle uns fortbewegen – manche Laufen mit ihren Beinen, manche benutzen einen Rollstuhl, manche brauchen zum Laufen Gehstützen. Kindern sollte gezeigt werden, dass sie über Behinderung sprechen dürfen, dass sie durchaus auf Unterschiede zwischen Menschen hinweisen dürfen, aber das es nicht okay ist, sie deswegen abzuwerten. An der Begegnung mit Behinderung können Kinder auch lernen, die Grenzen anderer zu respektieren: Interessierte Fragen zu stellen, ist in Ordnung, ungefragtes Anfassen und Auslachen dagegen nicht – all das, was sie auch selbst nicht für sich möchten. So können Kinder auch ihre eigenen Grenzen verstehen lernen.

Der Weg zur Teilhabe für alle scheint noch unheimlich weit zu sein. Wo fängt man denn da an?
Mareice Kaiser:Am besten genau hier und jetzt. Zum Beispiel in diesem Interview. Haben wir so gesprochen, dass wir von vielen Menschen verstanden werden können? Haben wir schwierige Begriffe gut erklärt? Wird es eine Übersetzung des Interviews in leichte Sprache geben? Können die Lesenden auf der Webseite die Schrift größer stellen? All das sind Gedanken, die sich Menschen machen sollten, die schwierige Sprache verstehen und gut sehen können. Und genau so können wir durch die Welt gehen: Nicht nur auf uns selbst und unsere Bedürfnisse achten, sondern auch auf die der anderen. Neben den existenziell wichtigen politischen Veränderungen kann das ein Anfang sein.

Wir haben das Gespräch zum Anlass genommen, unsere eigenen Texte und Arbeitsweisen zu hinterfragen und zu erarbeiten, wie wir Hindernisse abbauen und unsere Angebote für viele Menschen nutzbar machen können.


Ableismus:
Ableismus kommt vom englischen Wort ableism.
Ableismus bedeutet: Menschen mit Behinderungen werden ausgegrenzt oder ausgeschlossen.

Barrierefreiheit:
Barrierefrei bedeutet: ohne Hindernisse.
Menschen mit Behinderung sollen dadurch besser mitmachen können.
Zum Beispiel: Beim Arbeiten oder in der Freizeit.
Zum Beispiel: Durch die einfache Nutzung vom Internet.


Inklusion:
Inklusion ist ein lateinisches Wort.
Inklusion heißt: "dazu gehören". 
Man meint damit: Alle Menschen sind mit dabei.
Oder: Ein gutes Leben für alle.

Buch "Bist du behindert, oder was?"
"Bist du behindert, oder was?" von Rebecca Maskos & Mareice Kaiser
© Familiar Faces Verlag


Quellen: Interview mit Mareice Kaiser und Rebecca Maskos, aktion-mensch.de, diversity-arts-culture.berlin, rehadat.de

jme Brigitte

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