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Inklusion Iris Waßong produziert Lesefutter für Blinde und Sehbehinderte

Iris Maßong: Blindenschrift
© WavebreakmediaMicro / Adobe Stock
Wer sie ist: Weltenöffnerin
Was sie tut: Kinderbücher in Blindenschrift verlegen
Ihr Ziel: "Sams" für alle!

"Wer ist denn Janosch?" Iris Waßong, 52, weiß noch, wie überrascht sie war, als ihr diese Frage vor rund 15 Jahren gestellt wurde. Sie arbeitete damals als Betreuerin in einem Wohnheim für blinde Menschen und plauderte mit einem Mädchen, als sie auf das Thema Lesen und Kinderbücher kamen. Nun schalteten sich auch andere Jugendliche ein. "Pettersson und Findus"? Nie gehört. "Lauras Stern"? Das "Sams"? Köpfeschütteln. Iris Waßong bemerkte: "Blinde Kinder und Kinderbücher – da existiert eine riesengroße Lücke."

Der "Braille Kinderbuch"-Verlag

Dass diese Lücke heute ein gutes Stück kleiner ist, ist auch ein Verdienst der umtriebigen Frau aus Düren. 2010 gründete sie "Braille Kinderbuch", den einzigen Verlag in Deutschland mit Schwerpunkt Kinder- und Jugendbücher in Braille, der Blindenschrift, und versorgt seitdem blinde Eltern, die ihren Kindern vorlesen wollen, und blinde Kinder mit Lesefutter.

Zwar verschicken spezialisierte Büchereien Leihbücher in Braille, auch über an die Büchereien angeschlossene Verlage können sie gekauft werden. Doch lange nicht jedes Buch gibt es auch in Braille. Und schon überhaupt nicht jedes Kinderbuch. Ein Grund ist der kleine Markt. Nach Schätzung der WHO leben rund 1,2 Millionen blinde Menschen in Deutschland. Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband geht von 21 000 sehbehinderten und blinden Menschen unter 18 aus, die Zielgruppe für Kinderbücher schätzt er auf 10 000.

Iris Waßong ließ das Gespräch mit der Wohngruppe nicht los. Zu Hause setzte sie sich an die Braille-Schreibmaschine – für ihre Arbeit lernte sie die Blindenschrift gerade – und übersetzte Janoschs "Guten Tag, kleines Schweinchen", ein Lieblingsbuch ihrer beiden Töchter, heute 25 und 28 Jahre alt. "Die Jugendlichen kringelten sich vor Lachen", erinnert sie sich. Kurz darauf erkrankte ihre jüngere Tochter, damals zwölf, schwer an einer Gehirnentzündung. Waßong gab ihren Beruf auf, "aber nur zu Hause sein, das konnte und wollte ich nicht", sagt sie. Sie las sich ins Verlagsrecht ein. Als sie für drei Janosch-Bücher Lizenzen erhielt, löste sie eine Versicherung auf, erwarb von dem Geld einen Blinden-Drucker und gründete "Braille Kinderbuch". Heute produziert sie neben Blindenbüchern auch Lernhilfsmittel und Spiele für blinde Kinder.

Ihr geht es um Inklusion

"Wenn über Kinderbuchheld:innen gesprochen wird, sollen und müssen auch blinde Kinder mitreden können." Hörbücher seien keine Lösung, findet sie: "Vorlesen schafft eine einzigartige Nähe zwischen Eltern und Kindern." Die aktuelle Vorlesestudie der Stiftung Lesen zeigt außerdem, dass Vorlesekinder einen größeren Wortschatz und bessere Noten haben.

In Waßongs Ein-Frau-Verlag ist jedes Buch an die individuellen Bedürfnisse der Kinder angepasst. Das unterscheidet sie von anderen Verlagen. Das Wohnhaus ist Verlagssitz, Druckerei und Lager in einem. Sie lebt dort mit ihrem Mann und ihrer jüngeren Tochter, die zwar nicht genesen ist, aber keine Rund-um-die-Uhr-Unterstützung mehr braucht. Waßong arbeitet als Erzieherin in einem Kindergarten, ihr Mann als Freiberufler für Architekten und eine Modellbau-Firma.

Für jedes Leseniveau ist etwas dabei

In ihrem Arbeitszimmer zieht sie ein Buch aus dem Regal, schlägt es auf. Auf der Seite sind ins Papier geprägte Punkte zu sehen, die blinde Menschen ertasten und so lesen. "Das ist Vollschrift", erklärt Waßong. Leseanfänger:innen starten mit der Basisschrift, in der Vollschrift sind schon Kürzel enthalten, die Platz einsparen und das Lesen erleichtern. Waßong bietet drei der vier gängigen Blindenschriften an – schließlich gibt es auch für sehende Kinder erst Bücher in Leseanfänger-Schrift und später dicke Schmöker.

Gut 200 Bücher hat sie schon übersetzt, Klassiker wie Paul Maars "Sams" ebenso wie "Greg’s Tagebuch". Für die Übersetzung in Braille gibt es Computerprogramme, doch den Text prüfen, setzen, drucken, binden – all das macht sie selbst. Rund 40 Euro kostet ein von ihr verlegtes Buch, das entspricht dem Preis anderer Blindenbücher. Zehn Prozent vom Netto-Verkaufspreis gehen an die Verlage. Pro Jahr verkauft sie etwa 400 Bücher. Dazu kommen die Verkäufe der Lernhilfsmittel und Spiele.

Iris Waßong
Iris Waßong
© Maria Rosa Weigl

Momentan ist sie in Kontakt mit einem Künstler. Ihr Traum: Es soll in ihren Büchern endlich auch reliefartige Bilder geben, die blinde Kinder ertasten können.

Brigitte

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