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Inklusion in der Schule: Tulas neue Freundinnen

Inklusion in der Schule: Tulas neue Freundinnen
© Tina Berning
Unsere Tochter ist behindert. Seit fast einem Jahr geht sie auf eine normale Schule. Wir Eltern waren anfangs sehr aufgeregt, das wäre nicht nötig gewesen. Ein Plädoyer für die Inklusion.

Wir waren wie alle anderen. Unsere Tochter saß in einer der vorderen Reihen, die Beine von der Sitzfläche baumelnd, den Ranzen vor sich, ein bisschen schüchtern, ein bisschen neugierig auf die Jungen und Mädchen neben sich schielend. Wir Eltern dahinter, die Hälse reckend, uns an den Händen haltend, aufgeregt. Als dann der Name unserer Tochter aufgerufen wurde, als sie ihren scheinbar viel zu großen Ranzen aufsetzte und zu den anderen Kindern ging, weinte ich ein paar Tränen.

August 2013, eine ganz normale Einschulung. Und doch ist "ganz normal" für uns etwas Besonderes: Unsere Tochter Tula kam gehörlos zur Welt - deswegen trägt sie, seit sie elf Monate alt ist, so genannte Cochlea-Implantate, Innenohrprothesen, die ihr ein (künstliches) Hören ermöglichen. Sie hat spät laufen gelernt, bis heute sind ihre Bewegungen oft unkoordiniert und langsam. Wenn sie malt, krakelt sie. Ihre Aussprache ist schleppend und undeutlich, ihr Sehvermögen trotz Brille eingeschränkt. Neues macht ihr Angst, nur langsam stellt sie sich darauf ein, manchmal auch gar nicht, scheint es.

"Allgemeine Entwicklungsverzögerung" nennt sich das, was sie zusätzlich zu ihrer Taubheit hat. Dabei ist klar, dass sie sich nicht nur verzögert entwickelt, sondern in manchen Bereichen niemals aufholen wird. "100 Prozent" steht in ihrem Schwerbehindertenausweis.

Trotzdem sitzt sie an diesem Tag im August in der Aula der Schule, auf die schon ihre beiden älteren Schwestern gegangen sind, in die Kinder eben gehen, wenn sie in unserem Viertel wohnen. "Inklusion" nennt sich das.

Es wird viel darüber geredet und geschrieben zur Zeit. Und viele scheinen genau zu wissen, dass das nichts ist. Oder zumindest nichts ist, was funktioniert: "Kommunismus für die Schule" hat der Bildungsminister von Mecklenburg-Vorpommern, Mathias Brodkorb, die Inklusion genannt. Diskutiert und gestritten wird über das Modell, seit Tula drei Jahre alt ist. Denn im Jahr 2009 hat Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet und sich damit verpflichtet, ein inklusives Bildungssystem zu schaffen.

Wenn bisher an einzelnen Schulen behinderte und nichtbehinderte Kinder zusammen unterrichtet wurden, nannte sich das "Integration" und bedeutete so ungefähr: Du bist anders, aber wir lassen dich mitmachen - allerdings nach unseren Regeln. Inklusion dagegen trennt nicht erst, um später jene, die anpassungsfähig genug sind, wieder mitmachen zu lassen. Inklusion bedeutet: Wir alle sind verschieden, wir alle gehören zusammen. Im Bildungsbereich heißt das: Jedes Kind darf auf jede Schule gehen. Die Schule passt sich ihm an und bietet jedem Kind die pädagogische Förderung, die es braucht.

Aber wäre nicht aus ebendiesem Grund für Tula eine Förderschule die bessere Wahl? Schließlich kennen die Lehrkräfte sich dort mit Behinderungen aus, es gibt zusätzliche Fachleute wie Logopäden und Ergotherapeuten, toll ausgerüstete Therapieräume, kleine Klassen, manchmal mit nur einer Handvoll Kinder. Ein geschützter Raum, in dem sich das Kind in all seiner Besonderheit entwickeln kann. Auf Wunsch wird es von einem kostenlosen Fahrdienst morgens vor der Haustür abgeholt, in die Schule gebracht, selbst wenn die Dutzende Kilometer entfernt liegt, und nachmittags wieder nach Hause gefahren. Für Eltern klingt das großartig, wie ein Rundum-sorglos-Versprechen. Warum wir uns trotzdem dagegen entschieden?

Weil das Leben nicht so ist. Weil aus einem Schutzraum leicht eine Isolationszone wird. Der Pädagogikprofessor Hans Wocken aus Hamburg hat in einer Studie nachgewiesen, dass die Leistungen von Schülern umso schlechter sind, je früher und länger sie auf eine Förderschule gehen. Und eine Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung ermittelte, dass drei von vier Kindern die Förderschule ohne Abschluss verlassen - eine Sackgasse nicht nur für ihre Bildung, sondern für ihr ganzes Leben. Trotzdem: Traditionell gründet die Behindertenpädagogik in Deutschland - und eigentlich ja unser gesamtes Bildungssystem - auf der Überzeugung, Kinder lernten in homogenen Gruppen am besten: Europaweit besuchen etwa zwei Prozent der Kinder mit Förderbedarf eine Sonder- oder Förderschule, in Deutschland sind es im Schnitt 75 Prozent (siehe Kasten), und nirgendwo ist das Förderschulwesen so differenziert ausgeprägt wie bei uns.

"Wo sollte unsere Tochter die Gleichen finden, die mit ihr die angeblich optimale Lerngruppe bilden?"

Aber was wäre für Tula denn eine homogene Gruppe? Sie ist gehörlos: Uns wurde die Hörgeschädigtenschule empfohlen. Tula ist motorisch eingeschränkt: Auch die Schule für Körperbehinderte hätte sie gern genommen. Ihre Sprache entwickelt sich langsam: Eine Sprachheilschule wäre genau richtig, sagte die Schulärztin. Sie kann schlecht sehen; die Augenärztin brachte die Blindenschule ins Gespräch. Tulas Behinderung hat keinen Namen, sie ist komplex, kein anerkanntes Syndrom, einzigartig. Wo sollte unsere Tochter also die Gleichen finden, die mit ihr die angeblich optimale Lerngruppe bilden? Und selbst wenn es sie gäbe, wie sähe ihr Schulalltag aus? Wen von ihren Mitschülern könnte sie verstehen? Wer könnte sie verstehen? Wer würde sie, selbst schon oben auf dem Klettergerüst, dazu motivieren, zumindest die erste Sprosse zu erklimmen? Wer würde vom Nachbartisch herüberlangen und ihr schnell die richtige Stelle im Lesebuch zeigen, wenn sie sich mit ihren ungelenken Fingern in den Seiten verfängt?

Nicht, dass jetzt ein falscher Eindruck entsteht: Wir wünschen uns für unsere Tochter nicht Klassenkameradinnen ohne Behinderung, damit diese als zusätzliche Betreuerinnen fungieren. "Inklusion" heißt nicht, dass sich alles um Kinder wie Tula dreht, sondern "Miteinander", so dass alle profitieren. Tatsächlich gibt es Studien, die eine höhere soziale Kompetenz aller Kinder nachweisen, wenn behinderte und nichtbehinderte Schüler gemeinsam unterrichtet werden.

"Ich bin Tulas neue Freundin", begrüßte mich ein Mädchen, dessen Namen ich noch nicht einmal kannte, am dritten Schultag. Inzwischen hat Tula mehrere Freundinnen, mit denen sie sich auch außerhalb der Schule verabredet. Sie lernt schreiben, lesen, rechnen - in ihrem eigenen Tempo, versteht sich, aber das Lernmaterial ist sehr differenziert. Es gibt unzählige Stufen, die nacheinander erklommen werden - und die wenigsten Kinder, egal ob mit oder ohne Förderbedarf, finden sich dabei zeitgleich auf derselben. Manche der Arbeitsblätter sind für Tula auf die doppelte Größe kopiert. Wenn sie eine Reihe krakeliger Siebenen als Hausaufgabe schreibt, malt die Lehrerin ihr am nächsten Tag neben die am wenigsten krakelige Zahl einen Smiley. Niemand aus der Klasse hat sich beschwert, dass Tula beim jährlichen Brennballturnier am langsamsten lief, sie wurde angefeuert wie alle anderen.

"Sozialromantikerin, höre ich die Gegner der Inklusion schreien."

Sozialromantikerin, höre ich die Gegner der Inklusion jetzt schreien. Dabei weiß ich: Der Alltag in der Klasse ist hart. Vier Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf sind in der Klasse, und auch unter den anderen Kindern gibt es mehrere, die spezielle Unterstützung und Beachtung brauchen, etwa weil ihre Muttersprache nicht Deutsch ist oder weil sie sich schwer konzentrieren können.

Jeden Tag wieder ist es eine Herausforderung für die Pädagogen (die Klasse wird im Team unterrichtet, immer zwei Lehrkräfte bzw. Erzieher sind anwesend), all diesen Kindern gerecht zu werden. Dass sie es immer wieder schaffen, kann ich nicht genug bewundern. Zumal ich weiß, dass es nicht selbstverständlich ist: Kaum eine regionale oder überregionale Tages- und Wochenzeitung, die in den letzten Monaten nicht das Scheitern der Inklusion verkündete.

In der Tat hakt die Umsetzung an vielen Punkten. Auch, aber nicht nur am Geld. 660 Millionen Euro müssten bundesweit für zusätzliche Pädagogen und deren Qualifikation ausgegeben werden, haben Bildungsforscher berechnet. Auch ich kenne Kinder, die aus den so genannten Regelkitas und -schulen doch wieder in entsprechende Fördereinrichtungen gewechselt sind. Mal waren die Lehrer überfordert, weil das Kind den Unterricht sprengte und Sonderpädagogen immer nur stundenweise unterstützten, mal liefen Kinder zwar problemlos mit, wurden aber kaum gefördert. Ich kenne Kinder, die gemobbt wurden, und Eltern, die irgendwann frustriert aufgaben, weil ihr Kind an der Schule das erste mit Rollstuhl war und sie müde waren, für jede Rampe kämpfen zu müssen.

Trotzdem: Durch die Konvention von 2009 ist Inklusion ein Menschenrecht, und Menschenrechte können nicht scheitern. Scheitern kann nur unsere Gesellschaft, weil wir zu knauserig sind mit Geld, Ideen und vor allem mit Mut. Wollen wir das? Ganz davon abgesehen, dass andere Länder wie Kanada oder Italien, die schon vor Jahrzenten mit inklusivem Unterrichten begonnen haben, uns vormachen, dass viele Schwierigkeiten lösbar sind. Und: Schule ist ja erst der Anfang. In der Nähe des Dorfs, aus dem ich komme, gibt es eine Behindertenwerkstatt mit zugehörigem Wohnheim - sie liegt kilometerweit vom nächsten Haus entfernt im Nirgendwo, kein Bus fährt dorthin. Und um mich herum reden Mütter von G8 und G9 - das Abitur an sich ist für sie sowieso alternativlos -, vom Auslandsjahr, das Persönlichkeit und Karrierechancen fördert, und davon, wie unabdingbar Geigenunterricht, vollwertige Ernährung und informationstechnologische Basiskompetenzen sind, damit das Leben des Nachwuchses gelingt. Ich gebe zu: An die Zukunft unserer Tochter mag ich manchmal gar nicht denken.

Natürlich ist eine inklusive Gesellschaft eine Utopie. Aber ich kann nicht anders, als daran glauben. Ich habe einen Grund, den nichts anficht: Ich glaube an unsere Tochter. Vor ein paar Wochen hatte sie, die so mühsam spricht, dass sie oft kaum verstanden wird, als einzige null Fehler in einem Deutschtest. Neulich war sie das erste Mal so mutig, vor der ganzen Klasse eine Frage zu beantworten. Wie eine Siegerin reckte die Erzieherin die Arme in die Luft, als sie mir davon berichtete. Kognitiv sei Tula auf dem Stand ihrer Altersgruppe, sagt die Sonderpädagogin - im Gegensatz zu allen Gutachten, ordnerschwer stehen sie bei uns im Regal, die Tulas Anderssein seit ihrer Geburt wieder und wieder bestätigten. Nur wenn man Kinder nicht in Schubladen steckt, können sie über sich selbst hinauswachsen.

Ihre Meinung

Welche Erfahrungen haben Sie mit Inklusion gemacht? Wir freuen uns auf Ihre Kommentare.

Text: Antje Kunstmann Illustration: Tina Berning BRIGITTE 16/2014

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