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Ihr seid nicht das Volk, ihr seid erbärmlich!

Ihr seid nicht das Volk, ihr seid erbärmlich!
© Matthias Rietschel/gettyimages
Im sächsischen Heidenau bedrohen gewalttätige Rechte, getarnt als "besorgte Bürger", seit Tagen Flüchtlinge. Merkel schweigt. Die Mehrheit muss jetzt Farbe bekennen. Ein Kommentar von BRIGITTE.de-Autorin Simone Deckner.

Sie skandieren "Ausländer raus". Sie missbrauchen den friedlichen Slogan "Wir sind das Volk" für ihre niederen Zwecke. Sie brüllen "Heil Hitler". Sie bedrohen Flüchtlinge und wollen verhindern, dass sie in eine Unterkunft ziehen. Menschen im sächsischen Heidenau. In Deutschland. Im Jahr 2015.

Wer so etwas tut, muss klar und deutlich als das benannt werden, was er ist: Kein "Asylgegner". Kein "besorgter Bürger". Und auch kein "Asylkritiker". Nein. Es sind Menschen, die glauben, sie könnten andere allein aufgrund ihrer Herkunft verachten und ihr Leben bedrohen. Es sind Menschen, die andere Menschen (auch Journalisten und Polizisten) mit Steinen, Baustellenschildern und Feuerlöschern bewerfen und meinen, sie äußerten so "ihre Sorgen". Es sind Rassisten. Es sind Neonazis. Es sind Menschen, für die ich mich zutiefst schäme.

Nichts gelernt? 1992 Rostock-Lichtenhagen, 2015 Heidenau

Der Schriftsteller Saša Staniši? erinnerte am Sonntag daran, dass genau vor 23 Jahren, am 23. August 1992, ein rechter Mob vor einem Flüchtlingsheim in Rostock-Lichtenhagen marodierte und ihn in Brand steckte - während "brave Bürger" daneben standen und applaudierten. Staniši? ist selbst geflüchtet. 1992 kam er aus Bosnien nach Deutschland.

Merkel schweigt

Während die Medien seit drei Tagen Bilder vom hasserfüllten Mob senden, bleibt eine Person auffallend stumm. Die Bundeskanzlerin. Wo ist sie gerade? Mit welchen wichtigen Themen beschäftigt sie sich, frage ich mich. TTIP? Den Börsenkursen in Asien?

Angela Merkel hat ihre politische Karriere in Ostdeutschland begonnen. Sie sollte jetzt nirgendwo anders sein als in Ostdeutschland. Sie, nicht nur Vizekanzler Sigmar Gabriel, sollte in Heidenau stehen. Die Bundeskanzlerin sollte vor Ort wichtige Fragen beantworten:

  • Wieso lassen wir es zu, dass diese Menschen dort von einem rechten Mob drangsaliert werden? Nicht nur einmal, sondern bereits drei Krawallnächte in Folge?
  • Was tut die Politik konkret, um diese Menschen zu schützen?
  • Wieso ist es so ein Problem, genug Polizisten nach Heidenau zu entsenden - jetzt, wo klar ist, dass 1000 gewaltbereite Rechte Nacht für Nacht nur ein Ziel haben?
  • Warum liest man stattdessen heute davon, dass die Polizei gegen linke Demonstranten vorgegangen ist, die eine Solidaritätsdemo in Heidenau für die Geflüchteten organisiert haben?
  • Warum fällt uns in Deutschland im Jahr 2015 eigentlich nichts Besseres ein, als Geflüchtete in einem ehemaligen Baumarkt unterzubringen?

Darauf gibt es (bisher) keine Antworten. Stattdessen Schweigen. Auf Twitter verbreitet sich derzeit der Hashtag #merkelschweigt. Merke: Auch wer nichts sagt, sagt dadurch etwas aus. Doch der Unmut darüber wächst: Mittlerweile fordert eine Online-Petition ein Ende von Merkels Schweigen. +++Update 25.8.++++ Die Bundeskanzlerin verurteilte die Übergiffe in einer ersten Reaktion als "abstoßend und beschämend". Am 26.8. wird sie in Heidenau erwartet.

Doch Aussitzen ist in diesem Fall keine Lösung. Die Bundeskanzlerin kann und darf die hässliche deutsche Realität nicht weiter ignorieren.

In Heidenau leben rund 17.000 Menschen. Es ist erschreckend genug, dass bei der letzten Landratswahl die NPD 11,8 Prozent der Stimmen bekommen hat - doch die Welt soll nicht glauben, dass diese Minderheit das Geschehen in der ganzen Stadt bestimmt. "Das ist nicht unser Sachsen", sagt Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) zu den Übergriffen in Heidenau. Es ist höchste Zeit, dass die Welt sieht, was damit gemeint ist.

Es geht um uns alle

Aber es geht nicht nur um Heidenau. Die Mehrheit muss jetzt aufstehen. Auch die, die bislang geschwiegen haben. Es geht nicht nur um die Menschen in Heidenau. Es geht um die Menschen in München, Hamburg, Dortmund, Oberammergau, Leuna, Rügen - es geht um uns alle.

Überall muss die Botschaft unmissverständlich sein: Wir dulden keinen Rassismus in unserem Land! Wir lassen es nicht zu, dass ein paar erbärmliche Ewiggestrige die Errungenschaften unserer Demokratie in den Dreck ziehen. Wir stellen uns gegen den blinden Fremdenhass. Unser aller Solidarität ist gefragt! Weil wir es dieses Mal besser wissen.

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