Anzeige

Piratin Anke Domscheit-Berg: "Auch Frauen haben Stereotype im Kopf"

Piratin Anke Domscheit-Berg: "Auch Frauen haben Stereotype im Kopf"
© imago/Müller-Stauffenberg
Sie ist Frauenrechtlerin und möchte für die Piratenpartei ins Europaparlament. Ein Gespräch mit Anke Domscheit-Berg über die Notwendigkeit, den herrschenden Politikstil und das Arbeitsleben zu reformieren, damit Frauen zum Zug kommen.

BRIGITTE: Wie attraktiv ist das politische Geschäft für Frauen?

Anke Domscheit-Berg: Hochgradig unattraktiv.

Woran liegt das?

Es fängt zum Beispiel damit an, dass man als Bundestagsabgeordnete keine Elternzeit nehmen darf. Diejenigen, die das wollen, haben schlicht Pech gehabt. Sie dürfen ja noch nicht einmal ein Baby in den Plenarsaal mitbringen. Im Europaparlament ist das erfreulicherweise anders.

Nach dem Wegfall der Drei-Prozent-Hürde sind die Zweifel am Einzug der Piratenpartei verstummt. Ist Ihnen die Entscheidung schwergefallen, fürs Europaparlament zu kandidieren?

Absolut. Ich habe einen 13-jährigen Sohn, den ich wohl in Zukunft selten sehen werde, weil Europaabgeordnete ständig pendeln müssen zwischen Brüssel, Straßburg und ihrem Heimatort. Nur noch Koffer und Hotel – das ist nicht gerade angenehm für Familien. Trotz der Nachteile, die der Schritt birgt, glaube ich, dass ich es durchhalten kann. Ich habe politisches Stehvermögen, die Unterstützung der Partei, aber vor allem den Rückhalt meiner Familie.

Welche Nachteile nehmen Sie noch in Kauf?

Ich war froh, die Drehzahl endlich heruntergefahren und eine neue Freiheit gewonnen zu haben. Wenn beispielsweise an einem Mittwochvormittag die Sonne scheint, kann ich heute sagen: "Ich gehe jetzt in den Garten, die Arbeit erledige ich später." Zuvor habe ich fünfzehn Jahre sehr hart in einer Welt gearbeitet, in der Frauen immer noch besonders kämpfen müssen. Gerade in der männerdominierten IT-Branche haben Frauen es schwer. Und ich bin sicher: Im Parlament werde ich wieder täglich erleben, wie uns die Arbeitskultur das Leben schwer macht.

Was kritisieren Sie an der politischen Arbeitskultur?

Den Umgangston. Ich bin nicht aus Stein, persönliche Angriffe gehen nicht spurlos an mir vorbei. Es ist schwer, Attacken, die vermutlich eher eine politische Richtung oder ein Amt als solches meinen, nicht persönlich zu nehmen, wenn sie persönlich adressiert werden.

Befürchten Sie persönliche Angriffe?

Man macht es ja nie allen recht und wird zur Zielscheibe. Diejenigen, die sagen, man solle nicht so empfindlich sein, sind Teil des Problems. Ich will nämlich gar nicht abstumpfen. Wollen wir etwa, dass nur abgehärtete Menschen Politik machen? Das Ergebnis derartiger Strukturen sieht man, wenn man sich mit den Themen Hartz IV oder Asylpolitik befasst. Wir brauchen in diesem Geschäft mehr Menschlichkeit. Würden wir es schaffen, den Politikstil zu ändern, wären sicherlich auch mehr Frauen bereit, den Schritt in die Politik zu wagen. Es gibt hinreichend Studien, die zeigen, dass Frauen mit dem harten Stil Probleme haben.

Muss man sich an den herrschenden Politikstil anpassen, wenn man erfolgreich sein will?

Dem verweigere ich mich, andernfalls würde ich mich auch schämen. Und selbstverständlich gibt es auch Männer, die nicht so hart sind und Frauen, die sich anpassen und das klassische Spiel der Männer mitspielen.

Zum Beispiel?

Angela Merkel. Solche Frauen sind aber nicht die Mehrheit. Ich habe häufig erlebt, dass Frauen parteiübergreifend konstruktiver, sachbezogener und zielorientierter miteinander arbeiten als Männer. Ob sich das empirisch bestätigen lässt, weiß ich nicht. Selbst im Wahlkampf sind es auf den Podien selten Frauen, die sich verbal attackieren. Bei einigen Männern gehört das offenbar zur Folklore. Mit mehr Frauen nimmt auch der Grad an Sexismus ab, der ebenfalls in der Politik verbreitet ist.

Halten Sie denn eine Quotenregelung auf kommunaler Ebene für sinnvoll?

Auch wenn einige Gründe dagegen sprechen, bin ich eher dafür. Denn auf kommunaler Ebene sind nochmals deutlich weniger Frauen politisch aktiv als auf Bundesebene. Dass beispielsweise der Anteil an Frauen, die Bürgermeister sind, mit fünf Prozent kleiner ist als der Anteil von Frauen in den DAX-30-Vorständen, ist unerträglich.

Sie schreiben in Ihrem Buch "Mauern einreißen", dass Frauen im Beruf häufig an eine gläserne Decke stoßen. Welche Barrieren sind besonders schwer zu durchbrechen?

Eine besonders hinderliche Barriere ist die weite Verbreitung von Stereotypen. Es nervt, wenn Männern und Frauen ständig unterschiedliche Kompetenzen zugeordnet werden, als wären die Stärken und Schwächen von Geburt an vorgegeben. Das ist Unfug.

Ist es nicht ungerecht, für all das die Männer verantwortlich zu machen?

Das tue ich ja gar nicht! Männer beklagen sich zwar, man würde ihnen aktive Diskriminierung vorwerfen, aber ich glaube fest, dass die meisten Männer keine Frau bewusst diskriminieren - gerade im Berufsalltag geschieht das oft unbewusst. Außerdem haben auch Frauen Stereotypen im Kopf.

Welche zum Beispiel?

Führungskompetenz wird mit Männlichkeit assoziiert, soziale und kommunikative Fähigkeiten werden Frauen zugeschrieben. Es gibt zum Beispiel Experimente, die zeigen, dass die Personalauswahl nicht nur nach Kompetenz und Eignung erfolgt, sondern oft das Geschlecht den Ausschlag gibt. Zurzeit ist daher faktisch eine Männerquote in Kraft, wenn es um Führungspositionen geht. Eine andere Barriere ist das leidige Thema "Old-Boys-Networks".

Die Männer wollen unter sich bleiben...

Genau. Sie bewerten den Nutzen von Geschäftsbeziehungen positiver. Ich appelliere daher an die Frauen, im Networking mutiger zu werden. Während Männer private und berufliche Kontakte häufig vermischen, investieren Frauen ihre Freizeit eher in private Netzwerke. Man sollte allerdings dazu sagen, dass es für Frauen unheimlich schwer ist, in die Netzwerke der Männer einzudringen. Da gilt immer noch das Ähnlichkeitsprinzip und Männer sind nun mal Männern ähnlicher.

Welche Barrieren machen Frauen noch zu schaffen?

Die ungenügende Kinderbetreuung, eine immer noch ungerechte Steuer- und Sozialgesetzgebung oder die unfairen Gehaltsstrukturen, um nur einige Beispiele zu nennen. All das muss dringend geändert werden. Aber auch Frauen können zu ihrem Erfolg mehr als nur die eigene Leistung beitragen, viele könnten selbstbewusster auftreten, sich mehr zutrauen und öfter ihre Komfortzone verlassen.

Thilo Sarrazin spricht in seinem neuen Buch "Der neue Tugendterror" von Geschlechtergleichmacherei, die Teil eines modischen Furors sei. Was halten Sie davon?

Ich halte das für ein erschütterndes Traktat, in dem eine ungeheure Unkenntnis zutage tritt. Wer Geschlechtergerechtigkeit als Modeerscheinung abtut und mit Gleichmacherei verwechselt, leidet offenbar an Wahrnehmungsstörungen oder persönlichen Problemen. Hätte das jemand im vorletzten Jahrhundert gesagt, in einer Zeit, in der die Frauen damit anfingen, für das eigene Wahlrecht zu kämpfen, okay, dann könnte man sich die Aussagen vielleicht noch irgendwie mit historischen oder kulturellen Gründen erklären. Aber heutzutage? Ich hätte auch gedacht, ein ehemaliger Finanzsenator beschäftigt sich eher mit Zahlen.

In seinem Buch kommen viele Zahlen vor.

Aber er nutzt das Material ausschließlich, wie es ihm in den Kram passt. Das Offensichtliche blendet er aus. Ich finde, der Mann gehört auf die Couch eines Psychiaters. Er hat offenbar große Ängste, Ängste vor fremden Menschen aus fernen Ländern oder vor mächtigen Frauen, die ihm etwas abschneiden wollen. Der Kerl braucht einen Arzt.

Männer und Frauen hätten unterschiedliche berufliche Präferenzen, das sei normal und kein Problem, sagt Sarrazin.

Und weshalb sind diese Präferenzen dann weltweit so unterschiedlich? Warum sind in manchen Ländern die Hälfte der Informatikabsolventen Frauen? Und wieso ist das bei uns anders? An den Genen kann es dann ja wohl nicht liegen.

"Es wird immer so sein, dass weniger Frauen als Männer den Beruf des Ingenieurs interessant finden" - alles Quatsch?

Zumindest eine schlichte Behauptung. Programmierer zum Beispiel galt früher als Frauenberuf. Erst als der Beruf an Prestige gewann, wurden die Frauen verdrängt. Bei den Sekretären war es genau umgekehrt. Vielleicht sollte sich Herr Sarrazin ein wenig mit Geschichte befassen. Und da sind wir wieder bei den eingangs erwähnten Stereotypen. Als ich schon zehn Jahre IT-Berufserfahrung hatte, kam ein Kunde zu meinem Chef und fragte ihn, wie er denn bitteschön eine Frau als Projektleiterin besetzen könne, es gehe schließlich um Millionen. Er stellte die ungeheure Frage: "Schafft die das denn?" Ich hatte damals viel mehr Projekterfahrung als meine Vorgänger. Solche Sachen passieren Frauen in so genannten Männerberufen dauernd und das macht diese Berufe nicht attraktiver für sie. Und dann kommt so ein Sarrazin und redet der Welt ein, die Frauen hätten aus biologischen Gründen keine Lust auf diese Berufe. Das ist schön einfach, aber trotzdem Unsinn.

Zum Schluss bitte eine Prognose: Welche Mauer wird als nächstes eingerissen?

Die im Moment wichtigste heißt: Demokratie vor dem Verfall retten. Dass wir die Geheimdienste beschränken, sie transparenter machen - und idealerweise abschaffen. Wir müssen die Mauer, die die Geheimdienste um sich herum gebaut haben, einreißen, sonst wachen wir eines Tages in einem Überwachungsstaat auf.

Interview: Manuel Schumann

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel