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Kann man Zivilcourage lernen?

Warum zeigen manche Menschen Zivilcourage und andere nicht? Ist Wegschauen menschlich? Ein Gespräch mit der Psychologin Veronika Brandstätter-Morawietz.

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BRIGITTE: Frau Professor Brandstätter-Morawietz, am S-Bahnhof München-Solln wurde vor knapp einem Jahr der Geschäftsmann Dominik Brunner von Jugendlichen totgetreten, ein Aufschrei ging durch die Republik. Vor Gericht wird jetzt verhandelt, wer zuerst zuschlug: Dominik Brunner oder die Jugendlichen. Was mich aber viel mehr umtreibt, ist, dass niemand dem Geschäftsmann zu Hilfe kam, viele schauten zu. Meine Frage an Sie als Zivilcourage-Expertin: Hätte ich geholfen?

Prof. Veronika Brandstätter-Morawietz: Sie meinen, Sie als Frau Ottenschläger?

Ja.

Die Frage kann ich nicht beantworten, ich kenne Sie zu wenig. Sie sind vor gerade mal zwei Minuten in mein Büro gekommen.

Was müssten Sie von mir wissen, um mir meine Frage beantworten zu können?

Zunächst: Wir haben in der Zivilcourage- Forschung klare Persönlichkeitsmerkmale gefunden, die ein Helfer hat: Er übernimmt soziale Verantwortung, kann Empathie empfinden und hat Selbstvertrauen.

Das klingt ziemlich allgemein. Ich hatte eher gedacht, dass Sie so was sagen wie: Ein typischer Helfer ist nicht ängstlich. Ist Angst nicht der große Hemmschuh?

Es gibt einen ganzen Strauß an Hemmschuhen, Angst gehört sicherlich dazu, aber auch andere Einflussfaktoren, manche liegen in der Person begründet, andere in der Situation. Und Sie haben recht, die Persönlichkeitsmerkmale müssen natürlich mit Leben gefüllt werden.

Also, was heißt soziale Verantwortung?

Dass Sie sich verantwortlich fühlen für die Einhaltung von sozialen Regeln. Das fängt im Kleinen an: Sie lassen Ihr Gegenüber aussprechen und grüßen die Kassiererin im Supermarkt, weil Sie sich nicht als etwas Besseres fühlen. Im Großen geht es um demokratisch- humane Grundwerte, um Toleranz und Solidarität beispielsweise. Die zweite Säule, Empathie, beschreibt unsere Fähigkeit, uns in die Lage einer anderen Person hineinzuversetzen: Wir empfinden nach, was das Opfer gerade erlebt.

Frauen gelten für gemeinhin als empathischer als Männer. Sind Frauen dann auch zivilcouragierter?

Nein. Die Zivilcourage-Forschung hat keine Geschlechterunterschiede festgestellt. Auch das Alter spielt keine Rolle: Wir können nicht sagen: Junge helfen eher oder Ältere. Das hält sich die Waage.

Das dritte Persönlichkeitsmerkmal des typischen Helfers heißt Selbstvertrauen.

Ja. Helfer sind Menschen, die an sich glauben. Sie sind überzeugt, dass sie das, was sie anpacken, auch erfolgreich beenden.

Und den Menschen, die nicht eingreifen, fehlen diese drei Eigenschaften?

Nein. Ich bin mir sicher, dass beispielsweise in Solln genug Menschen dabei waren, die über genau diese Persönlichkeitsmerkmale verfügen und trotzdem nichts getan haben. In der Psychologie gibt es eine ganz einfache Formel: Wie sich ein Mensch verhält, hängt davon ab, was er für ein Mensch ist, und es hängt von der Situation ab.

Person plus Umwelt gleich Verhalten.

Genau. Das Problem ist aber, dass Situationen, die Zivilcourage verlangen, häufig uneindeutig sind. Wir sitzen also beispielsweise in der U-Bahn und sehen, dass da vorn ein Mann und eine Frau streiten. Wir wissen aber nicht: Ist das nur ein hässlicher Beziehungskrach? Oder wird da gerade eine Frau sexuell belästigt?

Wir könnten aufstehen und nachsehen.

Machen wir aber nicht. Wenn wir nicht wissen, ob wir uns auf unsere Wahrnehmung verlassen können, orientieren wir uns an anderen. Wir schauen also fragend in die Runde. Und sehen in fragende Gesichter. Das ist wie ein Spiegel: Das fragende Gesicht des anderen gibt uns quasi die Antwort - da ist vielleicht irgendetwas, aber da ist nichts Schlimmes.

Bei den krassen Fällen, von denen wir dann später in der Zeitung lesen, geschieht aber sehr wohl etwas Schlimmes, häufig auch für alle sichtbar.

Ein wirklich markanter Einflussfaktor ist die Zahl der Zuschauer: Je mehr Menschen da sind, desto weniger wird geholfen.

Das widerspricht doch total unserer Intuition: Ich fühle mich dann sicher, wenn ich in eine Menschenmenge eintauchen kann, nachts in der U-Bahn etwa, in einem gut gefüllten Waggon.

Psychologisch passiert aber etwas anderes: In der Menge gibt der Einzelne Verantwortung ab. Sie könnten beispielsweise denken: Ich bin eine Frau, noch dazu eher zierlich, soll doch der Mann da vorn helfen. Oder: Die Frau im roten Mantel ist viel näher dran als ich, die hat bestimmt schon Hilfe geholt. Hier müssen wir uns wirklich klarmachen: Wenn ich nicht eingreife - wer dann? Da kommt dann aber schon das nächste Hemmnis: Die meisten Menschen finden es fürchterlich, alle Blicke auf sich zu ziehen. Wer handelt, steht plötzlich im Mittelpunkt, ein wirklich unangenehmes Gefühl. Wir alle haben Angst, etwas Falsches zu tun und dafür von den Umstehenden abgestraft zu werden. Also machen wir nichts. Auch deshalb, weil wir ein falsches Bild von Zivilcourage haben.

Nämlich?

Mit Zivilcourage verbinden wir Heldentum, die Geschwister Scholl beispielsweise, jetzt Dominik Brunner. Die Motivationspsychologie sagt zwar, dass anspruchsvolle Ziele motivierend sind. Wer sich aber überfordert, handelt nicht mehr. Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie sitzen in gemütlicher Runde in der Kneipe, am Nachbartisch oder sogar an Ihrem Tisch zieht einer über Ausländer her. Sie denken: Da sollte ich jetzt was sagen. Das Ziel, das sich nun die meisten stecken, ist: den anderen davon zu überzeugen, dass er Mist redet. Also werden Argumente überlegt. Oder man sagt nichts, weil man nicht genug Argumente griffbereit hat. Dabei reicht es zu sagen: Ich finde diese Bemerkung unpassend.

Sie sagen: Es gibt eine Art von Helferpersönlichkeit. Gleichzeitig haben Sie ein Zivilcourage-Training entwickelt. Kann man Zivilcourage überhaupt lernen?

Überdurchschnittlich viele Helfer kommen aus Berufsgruppen, die wissen, wie man sich in einer Zivilcourage-Situation angemessen verhält, sie sind beispielsweise Sanitäter, Feuerwehrleute, Busfahrer oder Polizisten. Hier sind wir wieder am Anfang des Interviews: Wenn ich nicht weiß, wie ich mich verhalten soll, werde ich mich kaum trauen, aus der Masse hervorzutreten und einzugreifen. Wir stärken deshalb die dritte Säule in unseren Trainings, das Selbstvertrauen. Fehlen die anderen zwei Säulen, soziale Verantwortung und Empathie, wird es schwierig. Das höre ich auch immer wieder von Lehrern. Die sagen: "Den Jugendlichen fehlt es gar nicht so sehr an Selbstvertrauen, die sagen gern mal ihre Meinung, denen fehlt aber das Gespür für die Not einer fremden Person."

Leben wir aus Ihrer Sicht in einer verrohten Gesellschaft?

Wir leben in einer Gesellschaft, in der der Druck zugenommen hat. Für andere da sein, sich einsetzen für seine Werte und Überzeugungen, das bleibt auf der Strecke, wenn wir unter Druck stehen. Das fängt sicherlich schon in der Schule an: Da geht es um gute Leistungen, da soll nur ja das Abitur geschafft werden. Vor allem aber im Arbeitsleben hat der Druck in den vergangenen Jahren extrem zugenommen, Zivilcourage am Arbeitsplatz zu zeigen ist deshalb sicherlich mit das Schwierigste. Weil man - nicht zu Unrecht - im Extremfall um den eigenen Arbeitsplatz fürchten muss.

Manche trauen sich aber trotzdem. Was sind deren Motive?

Menschen helfen, weil sie eine Situation als extrem unrecht oder ungerecht empfinden oder weil sie Mitleid mit dem Opfer haben. Wir haben aber auch festgestellt, dass es noch ganz andere Motive gibt, Geltungssucht beispielsweise. Menschen helfen, weil sie gern im Mittelpunkt stehen, ihr Hilfsimpuls ist eher machtmotiviert. Ein weiteres Motiv ist Selbstkonsistenz: Ich muss meinen eigenen Werten und Überzeugungen treu bleiben, deshalb muss ich mich einmischen. Hier geht es nicht in erster Linie um das Opfer, sondern um mein ganz persönliches Empfinden.

Studien zeigen eine Art Opfer-Hierarchie: Jugendlichen, Homosexuellen, Obdachlosen und Behinderten wird besonders selten geholfen. Warum?

Weil Ähnlichkeit mit dem Opfer ein ganz markanter Einflussfaktor ist. Sie würden also am ehesten einer Frau in Ihrem Alter helfen, die von einem Mann bedrängt wird, weil Sie wissen: Auch ich könnte in dieser Situation sein. Bei Jugendlichen wird häufig gedacht: Die sind selber verantwortlich, vielleicht waren die frech.

Das heißt also, dem Opfer wird die Schuld zugeschoben?

Genau. Wir kennen das von sexuellen Übergriffen, da galt lange Zeit: Das Vergewaltigungsopfer ist selbst schuld, was trägt die Frau auch so einen kurzen Rock... Psychologisch gesehen passiert Folgendes: Wer anderen die Schuld zuschreibt, entlastet sich selbst. Man muss nicht handeln, denn die Person ist ja schuld an ihrer Situation, die hätte das verhindern können, warum also soll ich jetzt eingreifen?

Wer hat beim Eingreifen eigentlich die besten Erfolgschancen?

Es gibt keine Eingreifer-Typologie in dem Sinne, dass ein bestimmter Typ Mensch am erfolgreichsten ist. Wichtig ist, bestimmte Grundregeln zu befolgen, dann kann die ältere Dame ebenso erfolgreich sein wie der Muckimann. Regel Nummer eins heißt: Sich nie selbst in Gefahr bringen. Deshalb sollte man sich immer auf das Opfer konzentrieren, nicht auf den Täter. Versuchen Sie, das Opfer aktiv aus der Gefahrensituation zu begleiten. Sie können zum Beispiel Ihre Hand reichen und sagen: "Kommen Sie mit mir." Wenn das zu gefährlich scheint, dann rufen Sie dem Opfer zu, dass Sie Hilfe holen. Vielfach fassen Helfer ja den Täter an, wollen ihn beruhigen oder vom Opfer wegziehen. Das ist das Schlechteste, was man tun kann, weil man selbst derjenige ist, der eine Grenze überschreitet. Ein Täter sollte auch immer gesiezt werden. Sonst entsteht schnell der Eindruck: Das ist ein Streit unter Bekannten. Auch wichtig ist, andere direkt zur Hilfe aufzufordern, und zwar nicht: "Sollen wir mal schauen, was da vorn passiert?" Sondern: "Da vorn braucht jemand unsere Hilfe, kommen Sie bitte mit! Und Sie, in der blauen Jacke, rufen Sie bitte die Polizei!" Wer Hilfe holt, macht wirklich schon viel.</antwort>

Interview: Madlen Ottenschläger Fotos: imago, Henri Gossweiler ein Artikel aus der BRIGITTE 25/09

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