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Mitu Khurana: "Meine Töchter sollen leben"

Indien ist für Mädchen das gefährlichste Land der Welt. Sie werden ermordet, vergewaltigt - oder gar nicht erst geboren. Mitu Khurana stellt sich dagegen: Als erste Frau in Indien hat sie ihren Mann wegen versuchten Mordes angezeigt. Er wollte sie zwingen, ihre Zwillinge abzutreiben - nur, weil sie Mädchen sind.

Als Mitu Khurana in der 16. Woche ihrer Schwangerschaft war, ließ ihr Mann ihr einen Kuchen mit Eiern backen. Er wusste, dass sie allergisch gegen Eier ist, er wollte, dass sie davon krank wird. Mitu aß den Kuchen. Es ging ihr schlecht. Sie verlangte nach ihren Medikamenten. Die Familie gab sie ihr nicht. Sie kam in ein Krankenhaus. Ihr Mann überzeugte den Arzt, einen Ultraschall vorzunehmen. Das hatten er und Mitus Schwiegermutter seit Wochen gewollt: dass sie eine Ultraschalluntersuchung macht, um das Geschlecht ihres Kindes zu bestimmen. Mitu hatte sich stets geweigert, aber jetzt wurde sie mit Medikamenten ruhiggestellt. Statt der vermeintlichen Nierenuntersuchung wegen der Allergie wurde das Geschlecht der Kinder bestimmt. Zwei Mädchen. Als man es ihr sagte, wusste sie: Man wird sie zur Abtreibung zwingen.

Inmitten des asiatischen Wirtschaftsbooms geht es für Mädchen in Indien ums Überleben. Seit fast zwanzig Jahren gibt es dort Ultraschalluntersuchungen, seitdem können die Familien auch das Geschlecht des Kindes frühzeitig erfahren. Und deshalb wurden zwölf Millionen Mädchen - vor allem im reichen Süden und in den großen Städten, wo viele sich einen Ultraschall leisten können - nicht geboren, weil ihre Familien lieber einen Jungen wollten. Sie wurden abgetrieben, im Klinikmüll entsorgt. Nicht aus Not und Armut, sondern weil sie für ihre Familien vor allem eins bedeuteten: weniger Geld für ihre eigenen Wünsche - ein Apartment, ein neues Auto, eine schöne Reise.

Ein indisches Sprichwort lautet: Ein Mädchen großzuziehen ist wie Nachbars Garten zu wässern.

Geschlechtsselektive Abtreibung ist verboten, trotzdem werben die vielen, vor allem privaten Abtreibungskliniken dafür: "Zahl jetzt 1.000 Rupien - und spare später 100.000." Denn Mädchen brauchen bei ihrer Verheiratung eine Mitgift, und die Hochzeitsfeier, die die Familie der Braut ausrichten muss, kostet viel Geld. "Ein Mädchen großzuziehen ist wie Nachbars Garten zu wässern", lautet ein indisches Sprichwort. Die UN haben Indien zum weltweit gefährlichsten Land für Mädchen erklärt. Denn es werden nicht nur Millionen weiblicher Föten abgetrieben. Jede Stunde wird eine Frau ermordet, weil die Familie ihres Mannes es nur auf ihre Mitgift abgesehen hat. In der modernen Hauptstadt Delhi wird alle 18 Stunden eine Frau vergewaltigt. So wie am 16. Dezember eine 23-jährige Studentin in einem Bus von sechs Männern - auf so brutale Art, dass sie 13 Tage später starb.

In Indien wurden Vergewaltigungen bisher vertuscht und verschwiegen. Kam es doch zu Prozessen, dann wurden diese häufig verschleppt. Diesmal aber war es anders. Es gab wütende Massenproteste. Vor allem gegen ein zutiefst archaisches Frauenbild. Tausende gingen auf die Straße, sie hielten Mahnwachen, forderten die Todesstrafe für die Täter. Sie ließen sich nicht aufhalten von Wasserwerfern und Tränengas, als sie auf den Hügel des Präsidentenpalasts marschierten und Schilder hielten, auf denen stand: "Kein Land für Frauen", "Bin ich nur ein Körper, der benutzt wird?" oder "Hört endlich auf, eure ungeborenen Töchter zu töten".

Töten solle sie ihre Kinder, hatte auch Mitu Khuranas Schwiegermutter gefordert. "Oder wenigstens eines." Sie wurde im Haus ihres Mannes eingesperrt, bekam kein Essen mehr. "Vielleicht verlierst du die Kinder ja auf diese Art", sagte ihre Schwägerin. Ertränken werde man die Kinder nach der Geburt, drohte die Schwiegermutter. Mitus Mann forderte plötzlich, dass ein Vaterschaftstest gemacht wird. Sie hatten Streit. Immer wieder. Während einer Auseinandersetzung warf er sie die Treppe hinunter. Sie hatte Wunden am ganzen Körper, sie blutete. Sie rief ihren Vater an. "Eher bringe ich mich um, als meine Töchter zu töten", sagte sie. Ihr Vater forderte seinen Schwiegersohn auf, seine Tochter in ihr Elternhaus zurückzuschicken. Sie sah ihren Mann erst wieder, als sie die beiden Kinder im siebten Monat zur Welt brachte.

Mitu Khurana, heute 34, hat ihren Mann und seine Familie wegen versuchten Mordes angezeigt. Mord an ihren ungeborenen Töchtern. Sie ist die erste Inderin, die dies getan hat. Sie will, dass sich etwas ändert, will, dass die Welt erfährt, dass es in Indien einen massenhaften Geschlechtermord gibt. Mitu Khuranas Mann ist Orthopäde, Sohn eines Geschichtsprofessors und einer ehemaligen Schuldirektorin. Mitu selbst ist Kinderärztin. Ihre Geschichte ist die Geschichte einer modernen, berufstätigen Frau aus einer gebildeten Familie, wie sie in Indien täglich passiert.

Geschlechter-Bestimmung ist in Indien verboten. Doch noch nie wurde ein Arzt dafür bestraft.

Ihre Töchter sind jetzt sieben Jahre alt. Sie leben, obwohl ihr Vater und ihre Großmutter ein anderes Schicksal für sie beschlossen hatten. Vermutlich habe Mitus Mann dem Krankenhausarzt Geld für den Ultraschall gezahlt, sagt Mitu Khurana heute. Tausende von Ärzten in Indien sind käuflich. Denn offiziell ist es seit 1996 verboten, das Geschlecht während der Schwangerschaft zu bestimmen, um so den Missbrauch dieser Tests zu vermeiden. Kaum ein Arzt ist aber bisher wegen Geschlechterbestimmung zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden. Mitu Khurana wohnt heute mit ihren Töchtern im Haus ihrer Eltern in Janakpuri im Nordwesten Delhis, einem wohlhabenden Viertel. Ihr Vater ist ebenfalls Arzt, er unterstützt seine Tochter und die Kinder. Sie lässt sie niemals unbeaufsichtigt. Sie hat Angst, dass die Familie ihres Mannes sie immer noch töten wird. Sie hat Angst vor Rache.

Sie hatte ihren Mann für einen anständigen Menschen gehalten. Ihre Hochzeit im November 2004 war wie üblich arrangiert, seine Familie verlangte Schmuck von ihrer Familie, einen neuen Honda, ein Apartment als Mitgift. Sie zog zu seiner Familie. Sie glaubte, dass alles gut sei, ihr Mann respektierte ihre Arbeit als Kinderärztin in einem Krankenhaus, er respektierte sie. Sie war eine selbständige Frau, ihr Vater hatte sie und ihre Schwester dazu erzogen. Und niemals davon gesprochen, dass ihm ein Sohn lieber gewesen wäre.

Mitu ging noch einmal zu ihrem Mann zurück, als die Kinder vier Monate alt waren. Hoffte auf sein Wohlwollen. Es ging nicht um Liebe, es ging um das Leben zweier Kinder, um Zukunft. Es ging darum, dass sie einen Vater haben. Sie wollte ihre Ehe retten. Und sie zahlte dafür, gab ihrer Schwiegermutter all ihren Schmuck. "Aber da gab es keine Hilfe für mich und die Kinder. Keine Liebe und keinen Respekt. Ich wusste nicht einmal, ob es dort überhaupt für uns sicher war."

Ihre Schwiegermutter versuchte, eines der Babys in seinem Kindersitz die Treppe hinunterzuschubsen. Aus Versehen, sagte sie. Mitu konnte ihre Tochter gerade noch auffangen. Zwei Jahre blieb sie trotzdem im Haus ihres Mannes und hoffte, dass ihre Töchter eines Tages akzeptiert würden. Im März 2008 warf ihr Mann sie mitten in der Nacht aus dem Haus und beantragte die Scheidung. Er wolle sich neu verheiraten und Söhne bekommen, sagte er.

Sie zog wieder zu ihren Eltern. Und sie wollte nicht länger schweigen. Sie zeigte ihn, das Krankenhaus und die Ärzte an, die sie illegal zum Ultraschall gezwungen haben. "Wo ist dein Problem? Mach deinem Mann einfach einen Sohn", sagte der Polizeikommissar, der ihre Anzeige aufnahm. Später rief er bei ihrer Mutter an, erzählte, dass Frauen wie Mitu, die der Polizei von Problemen mit ihrem Mann berichten, häufig vergewaltigt werden. Eine erste Warnung.

Für viele habe ich aufgehört zu existieren.

Eine Richterin drohte ihr in den Vorverhandlungen, ihrem Mann das Besuchsrecht für die Kinder zu erteilen, ein anderer schlug ihr einen Vergleich vor: 150.000 Euro, wenn sie die Anzeige zurückziehe. Sie sagte jedes Mal Nein. Sie verlor ihren Job. Sie wurde in ihrer eigenen Familie, von Tanten, Onkeln, Cousinen nicht mehr zu Festen eingeladen. Freunde wandten sich ab. Sie wurde gemieden. Sie solle ihren Mund halten, sagten sie. Sie entehre die Familie mit ihrer Anzeige, indem sie das Private nach außen zerre. Eine Frau habe zu gehorchen. "Für viele habe ich aufgehört zu existieren. Wenn ich den Raum betrete, benehmen sich sogar Verwandte so, als sei ich nicht anwesend."

Mitu Khurana wandte sich an verschiedene Hilfsorganisationen, sie schrieb einen Blog, der Aufsehen erregte, gab erste Interviews. Sie nahm an einer Fernsehsendung mit einem Bollywood-Star teil. Die amerikanische Talk-Masterin Oprah Winfrey kam mit einem Fernsehteam zu ihr nach Hause. Aber in der indischen Öffentlichkeit wird Mitu bis heute kaum unterstützt. Vor fünf Jahren bezeichnete der Premierminister in einer Rede die Geschlechterselektion als nationale Schande. Passiert ist seitdem nichts.

Über unsere Mädchen fegt ein tödlicher Tsunami, aber niemand regt sich auf.

Formell, sagt Mitu Khurana, gebe es bis heute auch keine Hilfsorganisation, die für sie eintritt, sie bekommt nur von einzelnen Frauen Unterstützung, von der "Kampagne gegen vorgeburtliche Eliminierung von Frauen", vom "Zentrum für Recht und Forschung" oder der demokratischen Frauenvereinigung. Die Einzige, die mehr Kritik auch aus dem Ausland fordert, ist die Vorsitzende der Nationalen Kommission für Kinderrechte in Indien, Shanta Sinha: "Über unsere Mädchen fegt ein tödlicher Tsunami, wir erleben einen ethischen Zusammenbruch unserer Gesellschaft, aber niemand regt sich auf."

Mitu hat inzwischen endlich eine Anwaltskanzlei gefunden, die einen Richter überzeugen konnte, die Klage gegen ihren Mann anzunehmen. Die Anwälte wollen kein Geld von ihr. Drei- bis viermal im Monat muss sie nun ins Gericht. So ein Verfahren kann in Indien zehn Jahre oder länger dauern, da Prozesse, in denen es um die Rechte von Frauen geht, meist verschleppt werden. Sie will kein Geld, sie will eine Gefängnisstrafe für alle Beteiligten. Ihre Kinder werden erwachsen sein, bevor es vielleicht ein Urteil gibt. Wie werden diese Jahre für ihre Kinder sein? "Sie wissen ohnehin jetzt schon alles", sagt Mitu. "Sie führen trotzdem ein normales Leben."

Mitu hat inzwischen einen neuen Job in der Verwaltung eines Krankenhauses gefunden. Sie weigert sich, sich scheiden zu lassen. Sie möchte nie wieder heiraten, und auch ihr Mann soll nicht die Chance haben. "Obwohl wir nicht geschieden sind, hat er schon eine Anzeige in einem Kontaktblatt für Heiratswillige veröffentlicht. Und wenn er dann eine zweite Frau hätte, die wieder nur mit einer Tochter schwanger würde, dann würde er das Gleiche wie mit mir machen, und dann mit einer dritten. Nein, ich gebe ihm nicht die Freiheit, das zu tun." Sie will weiterkämpfen.

Sie will, dass ihre Kinder, wenn sie erwachsen sind, das Recht auf eigene Töchter haben. Und diese Töchter eine Chance haben, von ihren Vätern geliebt zu werden. Trotz ihres Geschlechts. Die Massendemonstrationen nach der Vergewaltigung der 23-jährigen Studentin sind vielleicht ein Zeichen, sagt sie. "Dass sich etwas ändert, dass es endlich ein neues Bewusstsein für die Gewalt gegen Frauen und Mädchen gibt."

Ihr Mann und seine Familie bedrohen sie immer noch. Sie verlangen das Sorgerecht, verlangen, die Kinder ohne Aufsicht zu sehen. Sie wollen sie erpressen, die Klage fallen zu lassen. Sie hat alle Unterlagen zu ihrem Prozess ins Internet gestellt (www.savedaughters19.wordpress.com). "Damit jemand weitermachen kann, wenn ich ermordet werde."

Text: Beatrix GerstbergerFoto: Sami Siva/Redux/Laif BRIGITTE 5/2013

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