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Gewalt gegen Frauen: Schweigen macht machtlos

Gewalt gegen Frauen: Frau hält abweisend die Hand in die Kamera
© Monster e / Shutterstock
Häusliche Gewalt gegen Frauen ist keine Seltenheit. Autorin Marie von der Benken erklärt, warum es wichtig es, sich laut zu machen und warum man keine Angst davor haben sollte, sich Hilfe zu suchen.

Der Feind in den eigenen vier Wänden

Glücksgefühle sind oft mit Geräuschen verbunden. Es kann das Lachen des Kindes sein, die Melodie eines Songs, der an unvergessliche Momente erinnert, das Starten des Motors seines Traumwagens oder das Vogelzwitschern am frühen Morgen im Englischen Garten in Miriams Heimatstadt München. Auch Miriams größtes Glück ist direkt mit einem Geräusch verbunden. Mit dem Klang der Haustür, die ins Schloss fällt, wenn ihr Freund morgens die Wohnung verlässt. Dieses Gefühl von Sicherheit und der Gewissheit, für ein paar Stunden keine Angst haben zu müssen, ist für sie wie eine Befreiung. Im Laufe des Tages wird die Angespanntheit zurückkehren. Die Furcht davor, etwas falsch und ihn damit wütend zu machen. Denn mit jeder Stunde, die vergeht, kommt sie wieder näher. Die Lethargie der Hilflosigkeit, die Miriam begleitet. Jeden Tag. Seit zwei Jahren.

Spätestens um 19:00 Uhr kommt er zurück. Ihr Freund. Der Vater ihres Kindes. Der Mann, der sie beschützen und Geborgenheit schenken sollte. Es ist aber etwas ganz anderes, was am Abend gemeinsam mit ihm in ihre Wohnung, die ihr Sicherheit geben sollte, zurückkehrt. Es sind Beklemmung, Atemnot und Panik. Wenn man so will, ist umgekehrt das, was in Miriam die schlimmsten Erinnerungen hervorruft, ebenfalls ein Geräusch. Der sich drehende Schlüssel in der Wohnungstür. Von außen. Der Feind in den eigenen vier Wänden. Er ist wieder da. Miriams Martyrium geht weiter.

Schweigen aus Angst und Scham

Miriam heißt natürlich nicht Miriam. Miriam lebt auch nicht in München. Aber es gibt viele Miriams, und diese Miriams leben überall. Auch in Deiner Stadt. In deinem Haus, womöglich. Einige von ihnen, davon kann man statistisch ausgehen, kennen wir. Es sind unsere Nachbarinnen, unsere Arbeitskolleginnen, die Kellnerin in unserem Lieblings-Café oder die nette Paketbotin. Und doch haben wir zumeist keine Ahnung davon, was hinter verschlossenen Türen mit ihnen passiert. Opfer von häuslicher Gewalt bleiben viel zu oft stumm. Aus Angst, aber vor allem aus Scham. Was sagen die Eltern, die Freunde, die Kollegen? Niemand spricht gerne über so intime, so sensible, so verletzbar machende Erlebnisse. Nicht selten lässt man sich sogar einreden, selbst die Schuld daran zu tragen.

Doch woran liegt das? Haben wir in unserer als so modern, aufgeklärt und verständnisvoll geltenden Gesellschaft wirklich eine Atmosphäre geschaffen, in der Opfer sich so schutzlos fühlen, dass sie sich lieber in ihrer täglichen Hölle arrangieren, als zu riskieren, auszubrechen? Kommen unzählige Täter unbehelligt mit ihren Gewalt-Exzessen davon, weil ihre Drohungen und die Scheu vor öffentlicher Verlegenheit ihre Opfer genug einschüchtert, um alles unter Verschluss zu halten?

"Schweigen macht schutzlos"

Sowas konnte ich mir nie vorstellen. Bis ich Teil der Kampagne "Schweigen macht schutzlos" des "Weißen Ring" werden durfte. Der "Weiße Ring e.V." ist eine Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer, ihre Familien und kümmert sich seit 1976 auch um Opfer häuslicher Gewalt. Sie betreibt dafür unter anderem ein Opfer-Telefon, eine Online-Beratung und über 400 Außenstellen vor Ort, in denen schnell, unbürokratisch und anonym Hilfe geholt werden kann.

Wie wichtig diese Arbeit ist, wurde vielen von uns erst im Laufe der Vorbereitungen klar. Für uns, neun Prominente aus unterschiedlichsten Genres, war schnell klar: Wir wollten uns laut machen. Laut gegen das Schweigen. Die Kampagne "Schweigen macht schutzlos", für die Schauspielerin Katy Karrenbauer, Model Stefanie Giesinger, Sängerin Mogli, Reporterin Aminata Belli, Moderatorin Marlene Lufen, DJ Visa Vie, Radiomoderatorin Lola Weippert, Polizistin Mehtap Öger und ich vor der Kamera standen, startete am vergangenen Mittwoch (13. Mai 2020). Schon in den ersten Stunden gab es überwältigende Reaktionen darauf. Bei fast allen Teilnehmerinnen quellten die Postfächer über. "Schweigen macht schutzlos" hatte einen Nerv getroffen.

Mir wird klar, wie zerbrechlich unsere Welt ist.

Auch Miriam gehört zu den Frauen, die sich endlich trauten, aus dem Schatten zu treten. Sich jemandem anzuvertrauen. Selbst, wenn es erstmal nur eine fremde Frau ist, der sie über Instagram schreibt. Ihre Nachricht, nachdem sie mein Posting zu "Schweigen macht schutzlos" sah, ist ein Hilfeschrei. Aber es ist auch das Mutigste, das ich mir vorstellen kann. Alles, wofür die Kampagne stehen sollte, ist in dieser Sekunde Realität geworden. Miriam schreibt und schreibt und schreibt. Mein Glück, dass es mittags ist und Miriams Freund bei der Arbeit. Mir wird klar, wie zerbrechlich unsere Welt ist. Auch hier, auf Instagram, dem Inbegriff der Sorglosigkeit.

Miriam hat einen völlig normal wirkenden Account. Sie folgt vielen Prominenten, einigen Influencern und einer Handvoll Freunden. Überall sieht sie lachende Gesichter, verliebte Blicke, perfekte Paare. Eine Welt ohne Probleme, in der immer Sommer ist und das nächste große Abenteuer nur ein paar Likes entfernt. Diese heile Welt auf ihrem Handy war einer der Gründe für Miriam, sich zu verkriechen. Mit keinem zu sprechen, sich niemandem zu öffnen. Alle sind glücklich, wer würde sich schon für ihre Probleme interessieren? Niemand kettet sie im Keller an eine Heizung. Niemand zwingt sie, sich verprügeln zu lassen, in Angst nächtelang wach zu liegen. "Warum ziehst du nicht einfach aus?" – wäre das nicht die zu erwartende Reaktion? Und hätten die Leute damit nicht vielleicht Recht?

Schweigen ­– ein Resultat unserer Gesellschaft

"Schweigen macht schutzlos" zeigt schon jetzt, dass man damit natürlich nicht Recht hat. Niemals. Und dass es an uns allen liegt, eine Atmosphäre der Hilfsbereitschaft zu kreieren, in der eine andere Reaktion erwartet werden kann. Dass Opfer so oft schweigen, ist nicht das Problem der Opfer alleine. Wir tragen alle unseren Teil dazu bei.

Miriam weiß eigentlich, dass die rosarote Hochglanzwelt der Instagram-Generation nicht die ganze Wahrheit ist. Auch sie hat einen Instagram-Account. Dort sieht man sie eng umschlungen mit ihrem Freund. Lachend ein Eis essend. Verträumt mit ihren Haaren spielen oder eine junge, glückliche Familie – Vater, Mutter, Kind – im Urlaub. Fast wie aus einem Reisekatalog entnommen. Fotos können lügen. Ihre blauen Flecken und Hämatome lügen nicht.

Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man geschlagen wird.

Für Katy Karrenbauer, eines der Gesichter der "Schweigen macht schutzlos"-Offensive, ist häusliche Gewalt nicht nur Theorie. Sie hatte weniger Glück als ich. Ich wurde erst im Rahmen der Kampagne erstmals ernsthaft mit dem Thema konfrontiert. Für mich ist Katy eine der Vorreiterinnen im Kampf gegen das Schweigen. Wenn man sie heute trifft, spricht sie sehr offen, aber auch sehr bestimmt über ihre Vergangenheit. Wahrscheinlich der eindringlichste Weg, andere Frauen zu ermutigen, sich Hilfe zu holen: "Ich wurde als Jugendliche selbst von meinem damaligen Freund geschlagen. Dazu schoss er mit einem Luftgewehr auf mich und drohte mir sogar, mich umzubringen. Mein eigenes Martyrium dauerte 3,5 Jahre. Ich weiß also, wie es sich anfühlt, wenn man geschlagen wird."

Auch die Phasen der Reue kennt sie, die bei Opfern immer wieder dazu beitragen, auf Besserung zu hoffen. Darauf, dass es irgendwann vorbei und alles wieder wunderschön sein würde: "Seine Übergriffe taten ihm meist am nächsten Tag leid und er entschuldigte sich. Er gelobte mir, dass das nie mehr vorkommen würde. Bis zum nächsten Mal. Als ich mich endlich von ihm trennte, beschloss ich, dass mich nie mehr im Leben jemand schlagen oder gar die Hand gegen mich erheben würde und ich denjenigen helfen würde, denen so etwas geschieht."

Der Erfolg der Kampagne

Ein Schwur, dem Katy Karrenbauer Taten folgen ließ: "Seit meinem 16. Lebensjahr erhebe ich mich gegen Gewalt an Schwächeren. Ich bin oft bei Streitereien "dazwischen gegangen" und habe unterschiedlichen Frauen geholfen, einen Platz im Frauenhaus zu bekommen. Dazu unterstütze ich Vereine, die Kindern und Frauen helfen, Schutz zu suchen und auch zu bekommen."

Auch bei ihr sorgte die "Schweigen macht schutzlos"-Kampagne für ein großes Echo: "Es haben sich viele, vor allem Frauen, bei mir gemeldet und mir geschrieben, dass sie ebenfalls Opfer häuslicher Gewalt wurden. Dazu wurde der Artikel zigmal geteilt, wofür ich sehr dankbar bin, denn wenn man auch nur einem Menschen helfen kann, dann hat es sich schon gelohnt. Allerdings bin auch ich immer wieder erschrocken, wie viele Menschen davon betroffen sind oder jemanden kennen, der betroffen ist."

Eine andere, aber ebenso wichtige Motivation, "Schweigen macht schutzlos" zu unterstützen, hat Marlene Lufen: "Wir haben uns wochenlang vor einem Virus geschützt, aber andere daraus entstehende Gefahren völlig außer Acht lassen. Häusliche Gewalt ist eine davon! Politik und Medien haben kaum darüber diskutiert, was so ein Shutdown mit Menschen anrichtet, die in ihrem eigenen Zuhause nicht sicher sind. Betroffene, meist sind es eben Frauen, Kinder und Jugendliche, hatten keine Chance, der Situation zu entfliehen. Das hat mich besorgt und auch wahnsinnig geärgert, weil grundsätzlich die emotionalen Auswirkungen der Maßnahmen kaum Beachtung bekamen. Das liegt übrigens auch daran, dass in dieser Krise die Expertengremien zum großen Teil aus Männern bestanden. So wurden eben auch die Maßnahmen beschlossen. Expertinnen haben neben dem Beruf auch noch Home-Schooling und das nächste Mittagessen zu leisten. Dieser weibliche Blick auf die Situation und die empathische Sicht auf uns alle hätte sehr gutgetan."

Unterstützen, helfen, ermutigen ­– das Ziel der Kampagne

"Schweigen macht schutzlos" zeigt die Kraft, die das Internet für gute Dinge immer noch besitzt. Wir alle haben gespürt, wie diese wichtige Botschaft ihren Weg nahm. Hinaus in die Welt, wie ein Signal für die Opfer, sich nicht mehr verstecken zu müssen. Aminata Belli beispielsweise beschreibt die Reaktionen ihrer Community so: "Die Kampagne wurde vielfältig geteilt und es gab großen Zuspruch. Es ist wichtig, das darüber geredet wird. Und das ist zum Glück passiert." Ähnlich erging es Lola Weippert: "Die Resonanz war enorm! Es haben sich viele Opfer bei mir gemeldet, die mir von ihren Erfahrungen berichteten und sich dafür bedankten, dass wir mit dieser Kampagne Aufmerksamkeit auf das Thema lenken. Ein Mädchen schrieb mir sogar, dass unsere Kampagne sie ermutigt hat, sich Hilfe zu suchen.

Das war so ergreifend, denn damit haben wir unser Ziel erreicht! Genau das ist am Ende das Wichtigste und macht mich sehr stolz!"

Auch durch unsere Kampagne und Botschafterinnen wie Katy, Marlene, Aminata oder Lola ist Miriam heute bereit und entschlossen, sich ihr Leben zurück zu holen. Wie viel Hilfe sie zum Beispiel vom "Weißen Ring" erfahren würde, war ihr nicht klar. Sie hatte sich nie getraut, überhaupt darüber nachzudenken. Heute weiß sie, dass sie nicht alleine ist. Sogar ihre größte Angst wurde ihr genommen: Die Angst, ihren Sohn und die Wohnung zu verlieren. Jörg Ziercke, der Bundesvorsitzende des "Weißen Ring", erklärt ein einfaches, grundsätzliches Recht in Deutschland: "Wer schlägt, der geht. Nicht das Opfer muss mit den Kindern das Haus verlassen, sondern der Täter. So steht es im Gewaltschutzgesetz."

Miriam kann jeder sein.

Um diese Schritte einzuleiten, gibt es sehr viel mehr Hilfe, als man vielleicht denkt. Unsere Aufgabe ist es nun, Opfer zu ermutigen, diesen Schritt zu gehen. Ihnen klar zu zeigen, dass sie die letzten sind, die sich dafür schämen müssten, zu einem Opfer geworden zu sein. Denn Miriam ist nicht nur ein anonymes Opfer. Miriam kann jeder sein. Unsere Schwestern, unsere Cousins, der Hausmeister, der Busfahrer oder unsere Kindermädchen. Jeder. Keiner von ihnen sollte schutzlos bleiben. Also machen wir uns laut und durchbrechen wir das Schweigen! Die "Opferhilfe Weißer Ring" erreicht Ihr telefonisch unter 116 006.

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