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Gegen Hass im Netz - Jolanda Spiess-Hegglin hilft

Gegen Hass im Netz - Jolanda Spiess-Hegglin hilft: Handychat
© LightField Studios / Shutterstock
Jolanda Spiess-Hegglin galt als Hoffnung der Schweizer Grünen – bis sie in einen gigantischen Shitstorm geriet. Heute hilft sie anderen gegen den Hass im Netz.

Sie will andere vor dem schützen, was sie selbst durchgemacht hat

"Letzter Abschaum", "sollte man an eine Wand stellen": Das sind nur zwei der harmloseren Beschimpfungen, mit denen Internet-Trolle gegen Jolanda Spiess-Hegglin hetzten.

Einen Strafantrag schreibt die 38-Jährige heute in Minuten. Etwa 200 hat sie bisher gestellt, gut die Hälfte an ihre "eigenen" Hater, den Rest für andere Betroffene. Denn der Kampf gegen den Hass im Netz ist seit drei Jahren das Lebensthema der Schweizer Ex-Politikerin: Sie will andere vor dem schützen, was sie selbst durchgemacht hat.

Sie wurde vom Opfer zur Täterin gemacht

Ende 2014 wachte die dreifache Mutter, damals Grünen-Abgeordnete im Schweizer Kanton Zug, nach einer Feier der lokalen Politprominenz mit Unterleibsschmerzen und ohne Erinnerung auf. Im Krankenhaus äußerte sie den Verdacht, sie sei mit K.-o.-Tropfen betäubt und vergewaltigt worden; als möglichen Täter nannte sie den SVP-Politiker Markus Hürlimann. Die Klinik informierte die Polizei; kurz darauf berichtete die Boulevardzeitung "Blick" über den Fall, mit Namen und Fotos der beiden.

Von da an gab es kein Halten mehr: Der Boulevard, aber auch seriöse Medien stürzten sich auf die Geschichte – und auf Spiess-Hegglin. Als Tests auf K.-o.-Tropfen negativ ausfielen – was wenig aussagt, weil die meisten solcher Substanzen zum Zeitpunkt der Testung nicht mehr nachweisbar gewesen wären –, wurde sie in der öffentlichen Wahrnehmung vom Opfer zur Täterin, zur Ehebrecherin, die als Ausrede eine Vergewaltigung erfunden hat.

Spiess-Hegglin ging in die Offensive, gab Interviews:

So was kann man mit uns Frauen nicht machen! 

Doch damit erntete sie erst recht Shitstorms. Nicht nur in vielen Medien, auch auf Online-Foren, Facebook, Twitter. Erst las sie alles, was gepostet wurde. "Ich wollte so die Kontrolle zurückbekommen", sagt sie. "Es hat mir aber nicht gutgetan, sondern mich weiter traumatisiert."

Ihr Leben änderte sich durch den Shitstorm komplett

Was bei der Feier wirklich geschah, ist bis heute ungeklärt; das Verfahren gegen Hürlimann wurde 2015 mangels Beweisen eingestellt. 2017 verklagte er seinerseits Spiess-Hegglin wegen übler Nachrede. 2018 einigte man sich auf einen Vergleich.

Das Leben von Spiess-Hegglin, einst Jungstar der Schweizer Grünen, änderte sich durch den Shitstorm komplett. Sie legte alle politischen Ämter nieder, machte eine Therapie, musste Medikamente nehmen.

Spiess-Hegglin gründete den Verein Netzcourage

2016 beschloss sie, ihre Erfahrungen zu nutzen, um anderen zu helfen. Eine Institution, die ihr im Umgang mit den Beschimpfungen hätte helfen können, gab es nicht in der Schweiz. Also gründete sie den Verein Netzcourage – als erste Anlaufstelle des Landes für Opfer von Internethass.

Auf Kongressen, in Schulen und Firmen spricht sie nun über ihre Erfahrungen. Und sie nimmt für andere Kontakt zu Hatern auf, stellt Strafanträge für sie. Für Tamara Funiciello etwa, ehemalige Chefin der Schweizer Jusos, die diverse Shitstorms erlitt und sagt: "Ohne Jolanda hätte ich mich wahrscheinlich nach einem Jahr zurückgezogen. Sie wolle Frauen davon abhalten, wegen des Hasses aus der Öffentlichkeit zu verschwinden, sagt Spiess-Hegglin. "Ich kann ihnen nicht alles abnehmen, die psychische Belastung bleibt. Aber ich kann ihnen Arbeit abnehmen und ein Netzwerk bieten."

Gegen Hass im Netz - Jolanda Spiess-Hegglin hilft

Geld verdient sie damit kaum, ihre Familie kommt mit dem Gehalt ihres Mannes gerade so über die Runden, der Verein finanziert sich fast nur über Spenden.

Immerhin kommt durch Gerichtsurteile ab und an Geld herein: Der Ringier-Verlag etwa, der "Blick" herausgibt, wurde kürzlich dazu verurteilt, ihr wegen Verletzung von Persönlichkeitsrechten umgerechnet rund 18 000 Euro Schmerzensgeld zu zahlen.

Im Umgang mit Trollen setzt Spiess-Hegglin heute eher auf Gespräche. In der Schweiz würden sie zwar recht schnell verurteilt, sagt sie. Aber manche radikalisierten sich danach noch mehr. Mit ihnen zu sprechen – "und manchmal braucht es dafür eine Einladung der Staatsanwaltschaft" – sei oft sinnvoller: Mehrere ehemalige Täterinnen und Täter unterstützten heute "Netzcourage". 

Jolanda Spiess-Hegglin, 38, arbeitete lange Zeit als Journalistin. 2013 wurde sie Co-Präsidentin der Grünen im Kanton Zug, 2014 in den Kantonsrat gewählt. 2016 trat sie zurück und gründete den Verein "Netzcourage" (www. netzcourage.ch). Sie lebt in Zug, ist verheiratet und hat drei Kinder.

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