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NSU-Prozess: Die Aussage von Carsten S.

Im NSU-Prozess beginnt der erste Angeklagte mit seiner Aussage. Eindrücklich schildert Carsten S., wie er als homosexueller Junge in die Neonazi-Szene abgleitet. Am Ende besorgte er eine Waffe.
Hält sich bedeckt: Carsten S. im Prozesssaal in München mit seinem Anwalt
Hält sich bedeckt: Carsten S. im Prozesssaal in München mit seinem Anwalt
© Peter Kneffel/dpa

"Dann kämen wir zu Ihnen, Herr S.", sagt der Vorsitzende Richter Manfred Götzl. Es ist mittlerweile früher Nachmittag. Zum vierten Mal an diesem Tag wendet er sich dem Angeklagten auf der mittleren Bank zu, der seit Stunden nervös ein sauber gefaltetes Blatt Papier vor sich hin- und herschiebt. Carsten S. nickt, klappt seinen Laptop auf. Doch wieder wird Götzl unterbrochen. Der Zschäpe-Verteidiger Wolfgang Heer drückt auf den Mikrofonknopf. Er will, dass die Vernehmung wörtlich protokolliert wird. Götzl unterbricht die Sitzung erneut für zehn Minuten. Carsten S. guckt kurz seinen Verteidiger Johannes Pausch neben ihm an. Dann klappt er seinen Rechner wieder zu.

Das Gericht bestätigt die Ablehnung des Protokollierungs-Antrag. Nun unterbricht keiner mehr.

Götzl lacht Carsten S. an, er wirkt dabei fast gelöst. Fast so, als sei es nun ein Leichtes für den 33-Jährigen, als erster Angeklagter im Im NSU-Prozess zu sprechen. Über sich zu sprechen - und über die beiden anderen Angeklagten, die bloß wenige Meter von ihm entfernt sitzen. Beate Zschäpe und Ralf Wohlleben, die er mit seiner Aussage schwer belastet.

Carsten S. hat das schon einmal erlebt, dieses Warten darauf, sich alles vom Herzen reden zu können. Vor 18 Monaten, als die Gesichter von Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe über alle Bildschirme flimmerten. Als sich in Deutschland eine rechtsterroristische Zelle namens NSU zu zehn Morden und zwei Sprengstoffanschlägen bekannte. Neun der Morde davon begangen mit einer Ceska. Mit der Waffe, die Carsten S. ihnen einst gebracht hatte.

Ich kann mich nur ändern, und das habe ich.

Das war vor mehr als zehn Jahren. Jahre, in denen Carsten S. sich neu erfunden hat. In denen er vom Neonazi zum Sozialpädagogen wurde. Von einem, der in einer Männerwelt versuchte, seine Männersehnsüchte zu unterdrücken, zu einem, der in der Düsseldorfer Aids-Hilfe Prävention "an den schwulen Mann bringt", wie er sich selbst auf der Website beschreibt. Einer, der offen mit seiner rechten Vergangenheit umgeht, Einer, der in sein Tagebuch schreibt: "Meine Aktivitäten in der Vergangenheit kann ich nicht ungeschehen machen, ich kann mich nur ändern, und das habe ich."

Im November 2011 bricht er in der Küche der gemeinsamen Wohnung vor seinem Lebensgefährten zusammen. Er sagt, mit dem rechten Terror etwas zu tun zu haben. Immer wieder sucht er in dieser Zeit nach Nachrichten über das Trio an seinem Computer, speichert Bilder auf seiner Festplatte. Sein Lebensgefährte und seine Freunde, die später vom BKA vernommen werden, beschreiben ihn in dieser Zeit als nervös, gereizt, unzugänglich. Bei einer Geburtstagsfeier betrinkt er sich mit Sekt, es bricht aus ihm heraus. Er erzählt seinem Kollegen, dass er einmal einen Auftrag erhalten habe, etwas zu überbringen und das sei dann eben diese Waffe gewesen. Da ermittelt die Bundesanwaltschaft längst gegen ihn. Das weiß er nicht, aber er ahnt es. S. will sich stellen - doch am Tag vorher kommt das SEK

Ende Januar schreibt er einen Brief.

"Werte... Ich bin im Jahre 2000 aus der rechten Szene ausgestiegen. Seitdem habe ich mich davon distanziert und verabscheue jegliche Art von rechtem, rassistischem und extremistischem Gedankengut. Auch hatte ich keine Kenntnis von Straftaten, die von dieser Gruppe ausgingen. Mehr möchte ich dazu nicht sagen, da ich vor 11 Jahren ein neues Leben begonnen habe. Bitte haben Sie dafür Verständnis. Mit freundlichen Grüßen, C. S."

Er schickt den Brief nicht ab, aber er macht mit seinem Anwalt einen Termin, um sich bei der Polizei zu stellen. Dazu kommt es nicht. Am 1. Februar 2012, um 5:57 Uhr, einen Tag vor dem Termin, stürmt eine Sondereinheit seine Wohnung. Sie fesseln seinen Lebensgefährten, durchsuchen die Zimmer. Genau eine Stunde später wird er abgeführt und mit dem Hubschrauber nach Karlsruhe geflogen.

Er sagt umfassend aus, immer wieder. Er liefert der Bundesanwaltschaft eines der wichtigsten Beweismittel für ihre Anklage. Für Carsten S. ist es eine Reise in die Vergangenheit. Einmal sagt er: "Ich dachte, ich muss mich nie mehr mit dem Carsten von damals auseinandersetzten. Der war weg." Im Vernehmungsprotokoll wird sachlich vermerkt: "Der Beschuldigte weint".

In Saal A101 vor Richter Götzl fällt es ihm schwer, sich präzise zu erinnern. Immer wieder sagt er Sätze wie: "Ich krieg nicht mehr wiederhergestellt", oder: "Sein Speicher sei voll gewesen", als sei sein Gehirn eine Festplatte. Dabei wirkt Carsten S. sehr bemüht. Dinge, die er nur vage erinnert, hat er versucht mittels Internet zu rekonstruieren. Dann sagt er: "Ich hab das recherchiert bekommen." Er will alles richtig machen, fragt den Richter mehrmals, was der jetzt genau von ihm hören will.

Man merkt schnell, Carsten S. hat gelernt, sich zu erklären. Er hat in etlichen Therapiestunden seine eigene Erklärung dafür gefunden, wie er überhaupt in die rechte Szene, die er heute nur "Drecksszene" nennt, abrutschen konnte.

Er erzählt dem Richter, wie er nach einer gescheiterten Ausbildung zum Konditor zurück nach Jena kommt. Wie ihn ein rechter Bekannter fasziniert habe, er habe ihm gefallen, deshalb habe er sich mit ihm angefreundet. Der spielt ihm die "Zillertaler Türkenjäger" vor und andere Neonazi-Musik. Bald geht er auf NPD-Demos. Er lernt Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt kennen. Sie seien mal in seiner Wohnung gewesen, sagt er dem Richter. Daran erinnere er sich, weil er Plastiktüten für ihre Springerstiefel geholt habe, zum Drüberziehen, damit sie ihre Schuhe anlassen konnten.

Doch konkrete Details zu seinem Engagement im Thüringer Heimatschutz und der NPD fehlen ihm. Wie er dazu gekommen sei, den "Stützpunkt" der Jungen Nationaldemokraten (JN), der Jugendorganisation der NPD in Jena zu gründen, fragt ihn Richter Götzl. Carsten S. antwortet: "Ich weiß nicht mehr, ob das bestimmt wurde von Ralf Wohlleben. Vielleicht bin ich nicht Schatzmeister geworden, weil ich Schwierigkeiten mit Mathe hatte." Er war auch im Gespräch für den Bundesvorsitz der NPD, warum, weiß er nicht mehr.

Auch "das mit der Waffe" erzählt er fast beiläufig, so, als sei es nur ein weiterer kleiner Handlanger-Job gewesen, den er für die drei Untergetauchten erledigen sollte. Ende 1998 oder Anfang 1999 wurde er von Ralf Wohlleben und André K., einem weiteren Kopf des Thüringer Heimatschutzes, gefragt, ob er den "Dreien" helfen könnte. Die beiden Führungskader hatten Angst davor, selbst überwacht zu werden. Carsten S., willigte ein, erfreut, "etwas zu sein". Von den Hochrangigen ins Vertrauen gezogen zu werden, "das war ein gutes Gefühl", hat er einmal in einer Vernehmung ausgeführt.

Helfen, das bedeutete, mit Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt zu telefonieren - erst in einer Telefonzelle, dann mit einem Handy, was S. extra dafür besorgte. Die konspirativen Anrufe liefen über eine Mailbox, auf der die "Uwes", wie S. sie in der Vernehmung nennt, "Order" für ihn hinterließen. Manchmal hieß es, "alles o.k.", dann wollten sie Geld, dann ein Motorrad. Wenn Carsten S. die Nachricht abgehört hatte, ging er zu Ralf Wohlleben, der gegenüber wohnte und berichtete. Sie klauten zusammen das Motorrad, doch es wurde ihnen wieder entwendet. Er stieg auch auf Geheiß der Drei in Beate Zschäpes Wohnung ein, nahm Ausweispapiere und Akten mit. Dann kam die Waffe. Die "Uwes" wollten möglichst ein deutsches Fabrikat, mit Munition, so erzählt es Carsten S.

Er bestellte die Waffe auf Wohllebens Anweisung hin im rechten Szene-Laden Madleys in Jena. Er bekommt eine Ceska - mit Schalldämpfer. Lagert sie kurzzeitig im Bettkasten in seinem Kinderzimmer und bringt sie dann nach Chemnitz, wo ihn Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt vom Bahnhof abholen.

Ob er das zeitlich einordnen könne, fragt Richter Götzl. Irgendwann zwischen der bestandenen Führerscheinprüfung und dem Beginn seiner Arbeit als KFZ-Lackierer muss es gewesen sein, sagt Carsten S. Irgendwann im April 2000.

Ich hatte ein positives Gefühl.

Götzl will von Carsten S. wissen, was er dabei gedacht hat. "Ich habe den Drei vertraut", sagt er. "Ich hatte ein positives Gefühl, dass die damit nichts Schlimmes anstellen."

Was wusste er denn überhaupt von den "Dreien", fragt der Richter beharrlich nach. "Nichts", antwortet Carsten S. Dass sie untergetaucht, "weggelaufen" seien, weil man Rohrbombenattrappen bei ihnen gefunden habe. Weil sie mal eine Judenpuppe an eine Autobahnbrücke gehängt haben. Beim Ausstieg wird S. wieder plastisch

So wie Carsten S. die drei späteren Terroristen in seiner eigenen Wahrnehmung verharmlost, verharmlost er auch sein eigenes Engagement in der rechten Szene. Andere haben über ihn ausgesagt, dass er sehr wohl bei Strategie-Diskussionen dabei gewesen sei. Er wusste, dass sich Teile der Szene radikalisierten. Doch heute, am ersten Prozesstag, bleibt er vage.

Seinen Ausstieg hingegen beschreibt er wieder plastisch. Der Film "A beautiful thing" über ein schwules Coming-Out, den er im Frühjahr 2000 gesehen hat, habe ihm Mut gemacht. Er wollte schwul leben, verstand aber, dass das in der Szene nicht möglich gewesen wäre. Auch ein Gefängnisaufenthalt im August 2000, als er rund ums Rudolf-Hess-Gedenken für zehn Tage in Gewahrsam genommen wurde, habe ihn geläutert, sagt er. Und dass Ralf Wohlleben danach über ihn gelacht hat: "Warum lässt Du dich auch einfangen." Oder, dass der irgendwann sagte: "Mich würde es ja ankotzen, wenn andere Leute über mich sagen würden, ich sei schwul." Andere Gründe, etwa Zweifel an der rechten Ideologie, führt er nicht an. Auch Reue zeigt Carsten S. an diesem Tag nicht.

Für die BRIGITTE beim NSU-Prozess vor Ort ist Lena Kampf. Sie berichtet aktuell für BRIGITTE.de und stern.de.

Text: Lena Kampf

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