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Stephans Sommermärchen-Check

Was für ein packendes Finale: Obwohl sie zweimal zurücklagen, kämpften sich die Japanerinnen zurück ins Spiel und besiegten die USA schließlich im Elfmeterschießen. BRIGITTE-Mitarbeiter Stephan Bartels war live im Stadion dabei und freut sich für einen sympathischen neuen Weltmeister.

Das Spiel: USA gegen Japan. Das Endspiel.

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Zuschauer: 48.806. Ausverkauft. Darunter: Helmut Kohl nebst Gattin, Christian Wulf nebst Gattin und Tochter, Angela Merkel, Sepp Blatter, Chelsea Clinton. Und Silvia Neid. Und die anderen deutschen Fußballfrauen, die seit acht Tagen nichts zu tun hatten. Sommermärchen-Faktor (SMF): 100 Prozent

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Das Spiel: Toll. Der Hammer. Irre. Eigentlich tendieren Endspiele dazu, taktische Geplänkel zu befördern. Das muss an den USA vorbei gegangen sein: Die erste Halbzeit war ein einziger Sturmlauf auf das japanische Tor. Und auch danach waren die Amerikanerinnen eigentlich besser (mal abgesehen von Homare Sawa, die beste Spielerin auf dem Platz und des Turniers). Dass es trotz zweimaliger Führung, trotz Verlängerung, trotz dieser amerikanischen Siegermentalität nicht reichte, das gehört zu den liebenswerten Schrullen dieses possierlichen Sports. Fußball ist ein seltsames, wunderbares Spiel. Und dieses Endspiel der beste Beweis dafür. Danke. SMF: 100 Prozent

Wetter: Akzeptabel, so gerade eben. Aber auch nur, wenn man Herbsttage Mitte Juli zu schätzen weiß. Es fühlte sich an wie Oktober, es roch sogar wie Oktober. 16 Grad am Anfang, 12 am Ende. SMF: 10 Prozent.

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Die Fans: Es waren deutlich mehr Amerikaner da als Japaner. Aber auch deutlich mehr Deutsche als US-Anhänger, und da die Deutschen mehrheitlich auf Japan setzten, gab es irgendwie eine Pattsituation. Was aber auch egal war: Selten sind friedlichere, freundlichere Fanlager aufeinander getroffen als hier. Menschen, denen es beim Bundesligafußball "irgendwie zu aggressiv" zugeht, hätten ihre Freude gehabt. Alle anderen auch. Schön war's. Nicht ganz so laut wie bei den deutschen Spielen. Aber: schön. SMF: 96 Prozent

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Was bleibt: Endlich das Ende aller Sportmärchen. Selten zuvor ist ein Begriff so ausgelutscht worden wie das Sommermärchen, das es werden sollte. Das war es nicht. Dafür die sportlich beste WM, die es je gab. Die Weltspitze ist enger zusammengerückt, das ist gut. Japan ist ein wahnsinnig sympathischer Weltmeister, die USA ein sympathischer Zweiter. Frankreich war überraschend toll, Brasilien dagegen hat genervt, Marta allen voran. Was uns angeht: Die Männer-WM 2006 hat dieses Land verändert. Diese hier... na ja, vielleicht ein bisschen. Schließlich gibt es inzwischen viele bekehrte Männer, die gern zugesehen haben. Und das, obwohl sie vorher gar keinen Bock darauf hatten. Das ist doch was.

Video: Japan siegt nach Elfmeter-Drama

Das Vorspiel: FC St. Pauli gegen Brøndby Kopenhagen Am Abend vor dem deutschen Viertelfinale habe ich mir ein Testspiel des FC St. Pauli in Hamburg angeguckt. Neben mir standen drei bis vier Typen, die sich die gesamte erste Halbzeit nonstop über die Frauen-WM unterhalten haben. Das ging in etwa so: "Sach ma, Digger: Guckst Du das?" Und die Antwort: "Klar, Alter, muss ich doch". Aber mit offensichtlichem Widerwillen: Da wurde über schwache Torschüsse gelästert, über bekloppte Schiedsrichterinnen, über das schlechte Niveau der Torfrauen, "die schlagen doch keine A-Jugend bei den Jungs". Ich grinste in mich hinein. Vor ein paar Wochen noch wäre Frauenfußball hier kein Thema gewesen. Auch nicht in der Kantine, geschweige den bei Frank Plasberg. Viele Frauenfußball-Ignoranten beschäftigen sich inzwischen ziemlich intensiv mit Frauenfußball, und sei es nur, indem sie pausenlos erklären, wie wenig sie sich damit beschäftigen. Eher also ein Sommerdiskurs als ein Sommermärchen, aber immerhin.

Das Spiel: Deutschland gegen Japan

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Zuschauer: 26.067. Das wirklich sehr hübsche Stadion in Wolfsburg war pickepacke voll. Sommermärchen-Faktor (SMF): 95 Prozent

Das Spiel: Seltsam. Sehr seltsam. War Deutschland schlecht? Ja. Nein. Vielleicht. Es war fast alles drin in diesem Match: Enormer Druck auf die deutsche Mannschaft, die 13 Tage lang nervös und fahrig wirkte. Aber auch enormer Druck auf das japanische Tor – und dann komische Unkonzentriertheiten beim Torschuss. Eine Abwehr, die kaum Fehler machte – und einem trotzdem irgendwie permanent Angst eingejagt hat. Und mit Japan einen Gegner, der durch sicheres Passspiel und eine Weltklasse-Taktik mal so richtig genervt hat. Was es noch gab: Dramatik in rauen Mengen. Ein nicht erwartetes Ende. Einen verdienten Sieger, der nicht Deutschland hieß. Das muss man jetzt auch mal aushalten können. Aber ein Sommermärchen, das böse ausgeht? Geht gar nicht. SMF: 32 Prozent

Wetter: 27 Grad, Sonne bei Anpfiff, Sonnenuntergang über dem VW-Werk zur Halbzeit. Auf dem See nebenan liefen Menschen Wasserski. So geht Sommer. Herrlich. SMF: 100 Prozent.

Die deutschen Fans: 26.000 Menschen, die ihre Leistung gebracht haben, man kann es kaum anders sagen. Hier zeigte sich das Erbe von 2006: Auf der Autobahn nach Wolfsburg sah ich vollgepackte Fan-Autos und Busse mit Nummernschildern aus der ganzen Republik. Und im Stadion? Nimmermüde peitschte das Publikum die Mädels nach vorn, gelegentliche Pfiffe bei Fehlpässen sind da zu verzeihen. Birgit Prinz wurde vor dem Anpfiff gefeiert, die Japanerinnen nach dem Ende – nach den Minuten der stillen Fassungslosigkeit, als das Ausscheiden der Deutschen plötzlich Realität war. Das war fair, das hatte Stil. Respekt. SMF: 98 Prozent

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Die anderen: Die japanischen Spielerinnen müssen sich sehr einsam gefühlt haben. Ich habe ein paar Transparente gesehen. Aber so gut wie keine Menschen dazu. Ist halt doch verdammt weit weg, dieses, na, hier, dings, Japan. SMF: 4 Prozent

Was bleibt: Zu schade, aber die Jungs, denen ich am Freitag auf der Stehtraverse bei St. Pauli zugehört habe, wird die WM jetzt wohl verlieren. Ein Sommermärchen war es 2006 auch deshalb, weil Deutschland bis zum Ende dabei war. Innerlich wird sich das Land von diesem Turnier nach Samstagabend verabschieden. Das Märchen, wenn es denn je eins war, ist seit dem Wochenende vorbei. Der Rest ist eine Woche normale Weltmeisterschaft. Nach allem, was man so von den Mannschaften hört: die beste Frauen-Weltmeisterschaft aller Zeiten. SMF: 0 Prozent

Video: Erste Worte von Silvia Neid zum WM-Aus

Stephans Sommermärchen-Check: Eröffnungsspiel

Mit Weltmeisterschaften in Deutschland ist es neuerdings so eine Sache. Ob Fußball, Handball oder Tontaubenschießen: Globale Titelkämpfe sind bei uns nur noch Märchen, mit einer Jahreszeit davor. Und jedes Turnier muss sich an der Mutter aller Sportmärchen messen lassen, der Männer-Fußball-WM von 2006.

Das Märchenhafte damals lag vor allem in der duften Stimmung, dem guten Wetter und der Tatsache, dass wir uns selbst und den Rest der Welt mit fortgesetzt guter Laune überrascht haben.

Und jetzt? Frauen-WM. Wieder wabert das Wort "Sommermärchen" durch das Land und die Medien. Zu dumm nur, dass wir uns diesmal nicht mehr überraschen werden. Dass wir lustig und nett können, wissen wir ja nun. Aber schön könnte es trotzdem werden, von mir aus auch irgendwie märchenhaft. Und deshalb gibt es hier, mindestens nach den deutschen Spielen, meinen Sommermärchen-Check. Heute: das Eröffnungsspiel.

Das Spiel: Deutschland gegen Kanada

Zuschauer: Knapp 74.000. Das Olympiastadion ausverkauft. Europarekord. Nicht zu toppen. Sommermärchen-Faktor (SMF): 100 Prozent

Das Spiel: Nicht so übel. Deutschland 80 Minuten haushoch überlegen, hätte drei Tore mehr schießen müssen. Durch den wirklich hübschen Freistoß von Christine Sinclair wurde die Nummer für zehn Minuten sogar richtig spannend. Damit war nicht zu rechnen, aber zu einem guten Märchen gehört neben dem Happy End ja auch eine Portion Drama. SMF: 83 Prozent

Wetter: 23 Grad, leichte Bewölkung, ein laues Lüftchen durchwehte die Hauptstadt. Und gegen Ende tauchte die tiefstehende Sonne Publikum und Akteure in goldenes Licht. Nicht übel. SMF: 93 Prozent.

Die deutschen Fans: Gestresste Jugendamtsmitarbeiter hätten sich zur Erholung auf einen Klappstuhl vors Stadion setzen sollen. Selten sah man so viele freundliche und fröhliche Familien auf einem Haufen. Und laut können die auch: der Lärmpegel in der Arena war unglaublich. Die erste Welle schwappte in Minute 11, ab der 72. Minute wurde "Oh, wie ist das schön" gesungen. Heftige Abzüge aber für die Pfiffe, wenn es bei den deutschen Frauen mal einen Fehlpass gab. So nicht, Freunde. SMF: 88 Prozent

Die anderen: Ich wollte mich vor dem Spiel mit kanadischen Fans unterhalten. Die einzigen, die ich gefunden habe, waren eine Mutter, die ihrer weinenden Tochter gerade klarmachen wollte, dass es nach den Pommes jetzt nicht auch noch ein Eis gibt. Die Welt scheint diesmal noch nicht zu Gast bei Freunden zu sein. SMF: 6 Prozent

Die Stadt: Berlin hat gefeiert, Berlin hat Party gemacht, Berlin war mal wieder eine Wolke. Schon toll, dieser Christopher Street Day. Wie bitte? WM? War da was? SMF: 15 Prozent

Text: Stephan Bartels Fotos: Stephan Bartels, Imago

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