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Frauenärztin Grace Chiudzu kämpft in Malawi

Viele Ärzte verlassen Afrika, weil sie im Ausland mehr verdienen können. Grace Chiudzu bleibt - als eine von nur 14 Gynäkologen in Malawi.

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Sie sitzt da wie ein bockiger Teenager, beide Ellenbogen auf die Knie gestützt, den Kopf gesenkt. Tippt auf ihrem Handy herum. Zeigt, dass sie keine Zeit zu verlieren hat. Wenn man sie doch dazu zwingt, wenn man Fragen stellt, kann ihr Unmut leicht dieses riesige Wartezimmer anfüllen, in dem es keine Tapete gibt, keine Bilder, keine Zeitschriften.

Grace Chiudzus massive Erscheinung, ihre radikal geschorene Frisur, die zwei mächtigen Oberarme sind wie ein Schutzwall gegen Fragen. Was nützen schon Antworten in diesem Krankenhaus? Es wären doch immer die gleichen: zu wenig Medikamente, zu wenig Personal - das ganze Gerede.

<Dabei ist das Kamuzu-Krankenhaus etwas Besonderes. Nicht so still und frisch gestrichen zwar wie die Schwesternschule nebenan. Nicht so spektakulär verspiegelt wie der mit internationalen Zuschüssen finanzierte Sitz der "National Aids Commission" weiter drinnen in Lilongwe, der kleinen Hauptstadt des kleinen Malawi. Kamuzu ist einfach ein L-förmiger weißer Kasten. Was das Hospital besonders macht, ist, dass es hier eine Frauenärztin gibt, nämlich Grace. Sie ist eine von 14 Gynäkologen in einem Land mit 13 Millionen Menschen. Die Frauen, die hierherkommen, sind es gewohnt, sich bei Gebrechen oder Schwangerschaften von Verwandten beraten zu lassen. Die Ärzte, die Säle, die Apparate machen ihnen Angst, schon die Tatsache, nicht in ihrer gewohnten Umgebung zu sein, beunruhigt sie, und ihre Familien schüren diese Angst. Wenn sie kommen, dann deshalb, weil es Komplikationen gab.

Sie hoffen auf Wunder. Manches Wunder kann die Medizin tun, die meisten werden von den Arbeitsbedingungen verhindert. Grace steht auf, geht zum Schwesternzimmer hinüber, davor steht eine Plastikschüssel, über der ein Kanister hängt. Kurz öffnet sie den kleinen Plastikhahn und hält die Hände darunter. Mit den ausführlichen Chirurgen-Bewegungen über Handrücken und Daumen schäumt sie Waschpaste auf. Das Wasser hat sie abgestellt, erst nach der Prozedur macht sie es wieder an und spült die Hände unter einem sparsamen Rinnsal ab. Mangel prägt die Gewohnheiten.

In Graces Kommandostimme liegt keinerlei Bedauern, als sie den Mangel benennt. "Damit man Gewebe sauber schneiden kann, muss die Schere scharf sein. Damit ein Operationssaal steril bleibt, müssen seine Türen fest schließen. Damit man einen Kranken in den zweiten Stock bringen kann, muss der Aufzug funktionieren. Nichts davon ist hier verlässlich. Es gibt nicht einmal eine Pathologie." Ihr Mund schließt sich nach jedem Satz, nichts lächelt, keine verbindliche Mimik.

"Die Entbindungsstation und die Frauenklinik liegen fünf Kilometer auseinander", sagt sie. "Fünf Kilometer, die die diensthabenden Ärzte und Schwestern im Auto, im Bus oder im Taxi zurücklegen müssen. Für die Strecke braucht man, je nach Verkehrsaufkommen, bis zu zwei Stunden. Nicht rechtzeitig am richtigen Ort zu sein, das kann ein Todesurteil sein." Death penalty nennt sie das, Todesstrafe.

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Eine Schwester begleitet Grace bei der Visite, sie hat später noch 61 Patienten zu versorgen, allein. Trotzdem folgt sie Grace in aller Ruhe, Schreibblock und Desinfektionsgel in der Hand. Die Flure sind zum Innenhof hin nur von blauen Metallstreben begrenzt, man kann sehen, wer gerade gegenüber entlanggeht. Drei Oberschwestern mit blütenweißen Spitzenhauben. Ein Wachmann mit Knüppel. Ein Alter mit einem Klafter Brennholz auf dem Arm.

Das erste Zimmer. Moskitonetze hängen schlaff an langen Drähten, auf dem Boden liegen Bündel, Kleider, Plastikflaschen. Der einzige Nachtschrank ist so verrostet, dass sich die Borde neigen. Darauf kippeln ein paar Tiegel. Die Schwester dreht den Gelspender auf. Das Verreiben in den Handflächen ist eine sanfte Geste, mit der sich Grace seitlich dem Bett nähert.

Unter der blümchenverzierten Bettdecke schaut ein graziler Fuß hervor, auf dem Kissen ein verschlafenes Gesicht. Ein Kind auf den ersten Blick. Ein Blick in die Krankenakte: ein halbes Kind. 13 Jahre. Grace spricht auf Chichewa mit dem Mädchen: "Wie geht es?" Es antwortet leise: "Gut."

Die Schwester schlägt die Bettdecke um, auf dem schmalen Bauch, ganz unten, kleben kreuzweise zwei weiße Pflasterstreifen. Grace drückt die Bauchdecke, sucht tastend. Dem Mädchen musste ein Eierstock entfernt werden. "Wenn sie weiterhin ungeschützten Sex hat - und dass sie das hatte, ist ja aus der Schwangerschaft zu schließen - , wird sie sich mit großer Wahrscheinlichkeit infizieren. Dann wird sie keine Kinder mehr bekommen können." Infizieren, damit ist HIV gemeint. Keine Kinder mehr bekommen, damit ist der soziale Abstieg gemeint. Grace hat die Untersuchung abgeschlossen. "Sikomo", sagt sie, "danke", und tritt zurück in den Mittelgang zwischen den zweimal vier Betten.

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"Uns Afrikanern sind Babys sehr wichtig", sagt sie. "Jede Frau weiß, dass ihr Mann sie verstoßen würde, wenn sie keines bekommen kann." Über Verhütung darf ebenso wenig gesprochen werden wie über Sex. Die Gesellschaft macht daraus ein Tabu. "Die Mädchen vertrauen sich nur bestimmten Personen an, und die geben ihnen nicht immer den richtigen Rat." Abtreibung, die gesetzlich verboten ist, wird deshalb ständig praktiziert. In Häusern, in Hütten, von Müttern oder Tanten. Die Ärzte, die keine Abbrüche vornehmen dürfen, haben sich dann mit den Ergebnissen der laienhaften Stocherei zu befassen.

Doktor Chiudzu hat dazu oft keine Zeit. Hunderte Frauen warten jeden Morgen an den Türen und im Freien auf Hilfe. Meist arbeitet ein Arzt pro Schicht, manchmal mit nur einer Schwester. Und heute morgen musste die Gynäkologin vier Stunden lang auf den Minister warten, mit dem sie den Neubau der Entbindungsstation besprechen sollte. Während sie den Verwaltungstermin wahrnahm, hatten dutzende Patientinnen Wehen, haben dutzende Frauen entbunden, dutzende Kinder waren krank. Manche sind gestorben.

Nur wenige Ärzte akzeptieren solche Arbeitsbedingungen, viele Mediziner, die aus Malawi stammen, sind nach ihrer Ausbildung in Europa geblieben. Zwischen 2000 und 2005 hat jede zweite Krankenschwester das Land verlassen. Von den 86 Schwestern, die 2003 noch im Kamuzu arbeiteten, sind 66 nicht mehr da. Einige wurden pensioniert, die meisten gingen nach England, in die USA, zu NGOs, die besser zahlen. Doch es ist nicht nur der geringe Verdienst, der sie vertreibt.

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Es ist auch der tägliche Kampf um die Anerkennung ihrer Arbeit. Im malawischen System, so klagen viele, bringt gute Arbeit immer nur Momenterfolge. In den Ländern der ersten Welt kann Erfolg sich verselbständigen, es gruppieren sich fähige Menschen in der Hoffnung auf eigenes Fortkommen um den Erfolgreichen, und es gibt Menschen mit Geld, die in gute Ideen investieren. In Malawi dagegen gibt es nur sehr wenige wie Grace Chiudzu, die es als Erfolg begreifen, gegen den Auswanderungsstrom zu schwimmen und zu bleiben.

Später am Tag nimmt Grace sich ein Taxi zur fünf Kilmeter entfernten Entbindungsstation. Sie fährt vorbei an den kleinen Telefonkabinen, in denen Handys auf Klapptischen liegen. Durch die Innenstadt, vorbei an den zwei, drei Hochhäusern, am Supermarkt, dessen Parkplatz von Bluthunden bewacht wird. Einmal quer durch die willkürlich angelegte Hauptstadt Lilongwe mit ihren namenlosen Straßen und nummerierten Vierteln. An den Ampeln sprinten die Taschentuch- und Erdbeerverkäufer mit flachen Körben vor den Kühler. Die asphaltierten Routen sind von Drainagekanälen gesäumt, die über die Stege zu den Gebäuden führen. Überall riecht es nach Holzfeuern und Abgasen. Fahrradfahrer balancieren Kanister auf den Gepäckträgern oder lebendige Schweine. Die letzten hundert Meter zur Station führen durch die Coffin-Road, die Straße, in der die Sargmacher ihre Werkstätten haben.

Auf den Gängen der Station ziehen Waschfrauen ein großes Bündel blutiger Laken hinter sich her. Sie schleifen es in einen winzigen Raum mit einem Keramikbecken. Hier wird von Hand gewaschen. Der Geruch der Desinfektionsmittel ist längst verflogen, süßlich hängt die Krankenluft in den Gängen. Hätte Grace bereits am Morgen ihren Dienst angetreten, hätte sie wieder vier, fünf tote Babys vorgefunden, wie jeden Tag. Babys, die ihre Mütter allein entbunden haben. Allein in dem nackten und nicht sterilen Saal. Niemand hatte Zeit, bei den Geburten dabei zu sein. Wäre Grace am Morgen in die Entbindungsstation gekommen, hätte auch sie nichts ändern können an dem Chaos, der Disziplinlosigkeit, der Desinformation.

Ich tue, was zu tun ist. Nicht mehr und nicht weniger.

Jeder Beschäftigte im Kamuzu-Krankenhaus kommt an den Punkt, an dem er feststellen muss, wie sinnlos es ist, hier etwas verändern zu wollen. Es sind einfach zu viele Fronten. Viele hören dann auf, frustriert, ausgebrannt. Die Hygiene, die Ressourcen, der Kommunikationsfluss. Man müsste tägliche Konferenzen einführen, doch das verbietet schon die Entfernung zwischen den Stationen.

Grace spricht ganz langsam: "Es kommt der Augenblick, wo man sich sagt: Ich gehe einfach jeden Tag hierher und tue, was zu tun ist. Nicht mehr und nicht weniger." In ihrer Ausbildung hat sie vieles gelernt, das sie hier niemals anwenden kann. Grace war ein begabtes Kind. Als Medizin-Studentin bekam sie, geboren im "Unabhängigkeitsjahr" 1964, von der Regierung unter Hastings Kamuzu Banda ein Stipendium für Schottland, wo der Diktator selbst studiert hatte. Sie machte ihren Facharzt in Südafrika und kehrte dann nach Malawi zurück. Heute verdient sie 142000 Kwatcha im Monat, etwa 700 Euro. Ihr Mann Hastings hat in England studiert, er arbeitet im Baugewerbe, auch er verdient gut.

Abends sitzt das Ehepaar in einem Restaurant, am Himmel liegt schon die Mondsichel auf dem Rücken, ein künstlicher Lichterteich strahlt aus den Büschen. Alles scheint verwandelt. Grace lächelt jetzt, lacht sogar manchmal ihr schäumendes Lachen, das die Gäste an den Nachbartischen herüberschauen lässt. Sie isst Kotelett, hier gibt es ein scharfes Messer, eine Gabel, sorgfältig schält sie das Fleisch von den kammförmigen Knochen.

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Außer den beiden eigenen Kindern, einem Sohn und einer Tochter, haben die Chiudzus noch eine ältere Adoptivtochter. Und sie kümmern sich um ihre Nachbarn, sie bauen Mais an, den sie eigenhändig ernten und einlagern, "für die Armen, die ringsum leben", sagt Grace. "Wenn ihnen das Essen ausgeht, können sie immer noch zu uns kommen."

Die Chiudzus gehören zu einer neuen Generation von Akademikern, die sich bemühen, die Effizienz ihrer europäischen Ausbildung zu nutzen, gleichzeitig aber Werte ihrer afrikanischen Heimatländer zu pflegen. Grace hat auf Privilegien, auf die Möglichkeit, in Europa zu arbeiten, bewusst verzichtet. Ihre Lebensweise versteht sie als politisches Statement: Seine Probleme muss Afrika selbst lösen.

Am nächsten Mittag warten vor der Entbindungsstation wieder mehrere dutzend Frauen, viele haben Töpfe und Schüsseln dabei. Sie kochen für die Verwandten im Krankenhaus. Kinder sitzen geduldig daneben. Auf der Station herrscht Gedränge, viele Frauen haben ihr Gepäck auf die Betten gelegt und sich selbst auf den Boden, da ist es kühler. Am Ende eines Flurs liegt der Kreißsaal, die Schwingtüren sind mit dem englischen Namen "Theatre" beschriftet. Sie stehen weit offen, zwei Metallbetten auf Rollen haben sich dahinter verkantet. Auf einem der Betten liegt eine Tote, eingewickelt in ein Laken. Die Schwestern versuchen, den Körper auf das andere Bett zu hieven, es gelingt ihnen nicht sofort.

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In dem Raum, in dem die Krankenakten gelagert werden, steht ein Holztisch. An der Wand hängt ein Zettel: "Nicht dokumentierte Arbeit ist nicht getane Arbeit." Grace sitzt auf einem Hocker und füllt Formulare aus. Sie braucht Medikamente. Zeile um Zeile füllen sich mit unlesbarer schwarzer Schrift. Da in der zentralen Medikamentenstelle keine Medikamente mehr vorhanden sind, ist diese Arbeit reine Formsache. Schikane, denkt Grace. Ihr Unmut steigt die Wände hoch, die Regale voller roter Mappen entlang, die sich bis unter die Decke stapeln. Ihr Beeper geht, ihr Handy fiept. Sie schreibt.

"Letztes Jahr war ich in Norwegen", sagt sie plötzlich, "da arbeiteten pro Schicht zehn Ärzte. Dabei wissen die Europäer nicht einmal, was Schmerz ist. Ihr ganzes Leben ist darauf ausgelegt, Schmerz zu vermeiden. Manchmal frage ich mich, warum es in einem Krankenhaus in Europa so gut aussieht, während es hier einfach an allem fehlt. Kann das nur das Geld sein, oder steckt noch etwas anderes dahinter?" Sicher hat sie eine Ahnung, was die Antwort sein könnte. "Ja." Grace schaut hoch, ausdruckslos. "Aber bei dieser Frage ziehe ich es vor, die Antwort nicht zu kennen." I prefer to stay ignorant, so sagt sie es.

Auf internationalen Ärztekongressen wird stets gestaunt, wenn es heißt, sie sei eine von 14 Gynäkologen. Was? Nur 14? Doch es findet sich immer jemand, der dann sagt: Ja, aber in Malawi ... Malawi ist ja nur ein kleines afrikanisches Land.

Info zu Malawi

Als der Popstar Madonna 2006 in Malawi ein Kind adoptierte, geriet das ostafrikanische Land mit seinen 13 Millionen Einwohnern weltweit in die Schlagzeilen. Weniger bekannt sind erste Erfolge Malawis im Gesundheitsbereich: Durch international geförderte Aids-Programme konnte die HIV-Rate um ein Drittel gesenkt werden. Malawi ist eines der ärmsten Länder Afrikas, der Großteil der Bevölkerung lebt von weniger als einem Dollar am Tag. Fast zwei Drittel der Menschen sind Analphabeten.

Bis auf die Nord-Süd-Verbindung sind die Straßen kaum befahrbar, häufige Überschwemmungen ziehen Versorgungsmängel nach sich. Die Modernisierung des Landes begann erst 1994, als die Ein-Parteien-Regierung von Hastings Kamuzu Banda durch ein Referendum beendet wurde. Banda, selbst Arzt, hatte seinerzeit zwar die Kamuzu- Klinik bauen lassen, allerdings erhielt unter seinem repressiven Regime nur die Elite eine ordentliche medizinische Versorgung. Paradoxerweise verdanken die Ärzte aus Graces Generation dem Diktator ihre gute Ausbildung. Nach der Unabhängigkeit startete er ein Stipendienprogramm, Akademiker konnten in Europa studieren.

Text: Ania Faas Fotos: Toby Binder Ein Artikel aus der BRIGITTE 09/09

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