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Flüchtlingen helfen: "Geh gefälligst hin und sag Hallo!"

Flüchtlingen helfen: "Geh gefälligst hin und sag Hallo!"
© Rattay/Reuters
Wie konnte es passieren, dass Flüchtlinge in Deutschland misshandelt werden? Weil wir wegschauen, meint Kolumnistin Julia Karnick. Ihre Erfahrung ist: Die Flüchtlinge warten nur darauf, dass wir mit ihnen sprechen und sie ihre Dankbarkeit ausdrücken können.

Das Handy-Foto, das in den letzten Tagen durch die Medien ging, zeigt einen Mann am Boden, die Hände auf dem Rücken mit Handschellen gefesselt, im Nacken die schweren, schwarzen Stiefel eines grinsenden Wachmannes. Ein anderes Opfer wurde offenbar gezwungen, sich auf eine Pritsche mit Erbrochenem zu legen. "Das sind Bilder, die man sonst nur aus Guantanamo kennt", kommentierte der Hagener Polizeipräsident, als letztes Wochenende bekannt wurde: Wachleute in zwei nordrhein-westfälischen Flüchtlingsunterkünften sollen Asylbewerber misshandelt haben.

"Massenhaftes Wegschauen ist die beste Voraussetzung dafür, dass Unrecht geschieht."

Als ich im Radio erstmals davon hörte, war ich entsetzt, aber keineswegs überrascht, im Gegenteil. Die Ermittlungen laufen, einige Bundesländer haben angekündigt, die Situation in den Flüchtlingsheimen ihres Verantwortungsbereiches zu überprüfen, das Thema steht im öffentlichen Fokus: Es würde mich kein bisschen wundern, wenn nun, wo ein ganzes Land genauer hinschaut, noch ganz andere Ungeheuerlichkeiten ans Licht kämen – und zwar nicht nur in den zwei Unterkünften in NRW, sondern überall. Denn bisher schauen die meisten hierzulande doch am liebsten weg, wenn es darum geht, unter welchen Bedingungen Flüchtlinge in ihrer Stadt oder in ihrem Landkreis leben. Und massenhaftes Wegschauen ist nun mal die beste Voraussetzung dafür, dass Unrecht geschieht.

Ich habe im Sommer 2013 das erste Mal hingeschaut, nachdem mich eine Freundin gefragt hatte, ob ich sie zu einem Sommernachbarschaftsfest in ein Flüchtlingsheim begleite. Ich ging mit, aus schlichter Neugierde und weil mich das Thema "Flüchtlinge" schon damals beschäftigte: Bereits vor einem guten Jahr zeichnete sich ab, dass die Zahl der Menschen, die in unserem Land Zuflucht suchen, nicht wieder sinken, auch nicht stagnieren, sondern immer weiter steigen würde. Als ich bemerkt hatte, dass diese Prognosen ein diffuses Unbehagen bei mir auslösten ("Wo sollen die denn nur alle hin?"), hatte ich zu mir selbst gesagt: "Schäm dich! Wenn du dafür bist, dass Verfolgte und Kriegsopfer ein Recht auf Asyl haben sollten, kannst du schlecht dagegen sein, dass diese Menschen deine Nachbarn werden. Also, wenn es so weit ist, geh gefälligst hin zu deinen neuen Nachbarn und sag Hallo!"

"Das Fest im Flüchtlingsheim war ein Fest ohne Gäste, weil kaum ein Eingeladener kommen wollte."

Zuallererst aber, weil es in unserer unmittelbaren Nachbarschaft noch keine Flüchtlingsunterkunft gab, ging ich mit zum Sommerfest auf dem Gelände einer stillgelegten Kaserne, in deren Zimmern nun mehr als 150 Asylbewerber wohnten. Die Flüchtlingsfrauen hatten ein Buffet vorbereitet, Speisen aus x-verschiedenen Ländern, aus Syrien, Kenia, Afghanistan, Somalia, Rumänien, Tschetschenien, dem Irak. Männer machten orientalische Musik. Laut und lustig waren jedoch nur die vielen Kinder, die zwischen den Erwachsenen herumtobten, manche sprachen schon ein bisschen Deutsch, die anderen verständigten sich mit Händen und Füßen. Die Alten dagegen saßen auf Klappstühlen in der Sonne und lächelten traurig und ein bisschen verwirrt – wie Menschen, die wissen, dass sie sich freuen sollen, aber nicht verstehen worüber. Ich lächelte zurück und hätte heulen können: Allein der Stadtteil, in dem diese Unterkunft liegt, hat knapp 13.000 Einwohner, aber außer meiner Freundin waren höchstens neun, zehn andere Hamburger da. Es war ein Fest ohne Gäste, weil offenbar kaum ein Eingeladener kommen wollte.

Ich bin sicher, es gibt sie überall in Deutschland: Orte, an denen Flüchtlinge darauf warten, dass jemand kommt, sie fragt, mit ihnen spricht, ihnen die Gelegenheit gibt, Dankbarkeit auszudrücken. Aber viel zu oft kommen viel zu wenige. Oder es kommt niemand. Schlimmstenfalls kommen ganz viele, die aber nicht Hallo sagen, sondern gegen die Unterbringung von Flüchtlingen in ihrer Nähe protestieren wollen.

Viel zu viele der Asylbewerber in Deutschland leben total isoliert vom Rest der Gesellschaft. Die meisten dieser Menschen stammen aus Ländern, in denen man öffentlichen Institutionen besser gründlich misstraut, als ihnen zu vertrauen, in denen der Staat seine Bürger nicht schützt, sondern Angst einflößt, in denen ein Polizist kein "Freund und Helfer" ist, sondern Handlanger einer gefährlichen Übermacht: Wem sollten sich die – oft traumatisierten – Flüchtlinge ohne jeden Kontakt zu hilfbereiten Nachbarn anvertrauen, wenn so etwas geschieht wie in den Unterkünften in NRW? Wen können sie um Rat und Hilfe bitten, wenn keiner kommt und sie nach ihren Problemen fragt? Niemanden.

Kein Wunder also, dass Typen wie die nun erwischten Wachmänner allzu leicht glauben, sie könnten mit Flüchtlingen machen, was sie wollten – ebenso wie manch privater Unterkunftsbetreiber, der staatliche Gelder dafür kassiert, dass er Menschen unter menschenunwürdigen Bedingungen, zwischen schimmelnden Wänden und ohne funktionierende Toiletten, unterbringt. Solange Sommerfeste in Flüchtlingsunterkünften kaum besucht werden von den deutschen Nachbarn, solange kaum jemand hingeht und Hallo sagt zu den Menschen, die bei uns Zuflucht vor Krieg, Verfolgung oder auch Armut suchen, solange wird sich daran nicht nachhaltig etwas ändern, fürchte ich.

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Wenige Wochen nach dem Sommerfest eröffnete eine Flüchtlingsnotunterkunft auch in Julia Karnicks Nachbarschaft. Zusammen mit anderen Anwohnern hat sie die Initiative "HH – Herzliches Hamburg!" gegründet, die den Bewohnern hilft: mit Kleiderspenden, Kinderbetreuung, Behördenbegleitung und der Organisation von Patenschaften.

Hier geht es zur Facebookgruppe von "HH – Herzliches Hamburg!"

Text: Julia Karnick

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