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Tina Rothkamm: "Für meine Tochter riskierte ich alles"

Tina Rothkamm war mit einem Tunesier verheiratet. Nach der Scheidung wollte er ihr gemeinsames Kind nicht hergeben. Die beiden entkamen - in einem Flüchtlingsboot übers Mittelmeer.

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Man kennt die Bilder: Überfüllte Flüchtlingsboote, die es irgendwie an die Küste Italiens schaffen. An Bord völlig erschöpfte Afrikaner, die auf ein besseres Leben hoffen. An einem Tag im März 2011 aber passiert auf Lampedusa etwas Ungewöhnliches: Aus einem mit 120 Tunesiern besetzten Boot steigt eine blonde Frau mit ihrer ebenfalls blonden Tochter. Sie scheint die Überfahrt gut überstanden zu haben, sie macht einen müden, vor allem aber erleichterten Eindruck. Die Frau heißt Tina Rothkamm.

Was muss in einem Leben passieren, damit man in diese Lage kommt?

Tina Rothkamm, 40, Lehrerin, hat sich diese Frage oft gestellt. Und manches, sagt sie, klärt vielleicht der Blick zurück. In die behütete Kindheit mit Eltern, die ihr sehr viel Liebe und noch mehr Freiheit schenkten. "Vielleicht", sagt sie heute, "wäre mir einiges erspart geblieben, wenn mir mehr Grenzen gesetzt worden wären." Die Eltern sind Künstler, sanfte, zugewandte Menschen. Diskussionen gibt es viele bei den Rothkamms, Verbote fast keine. In dieser Sicherheit entwickelt Tina eine unbändige Abenteuerlust. Sie verliebt sich fast immer in Männer aus anderen Kulturen, und es zieht sie früh in fremde Länder. "Ich habe ausgekostet, was ging", sagt sie. Die Eltern ließen die Tochter, und die Großmütter gaben großzügig Geld für Reisen. Und Tina hatte das Gefühl, dass alles, was sie tat, gut war.

Die Katastrophe, die dieses Leben beendete, passiert, als ihre Mutter, Vertraute und beste Freundin, bei einem Autounfall stirbt. Tina ist damals 20, studiert in England Eurythmie und kehrt sofort zurück nach Düsseldorf. Der Tod der Mutter verändert alles, sie fühlt sich verlassen, wünscht sich das verlorene Familien-paradies zurück und sehnt sich nach eigenen Kindern. Mit 23 bekommt sie ihren ersten Sohn von einem Schauspieler. Die Beziehung scheitert bald darauf. Drei Jahre später wird sie erneut schwanger, der Vater ist ein philippinischer Jazzmusiker. Auch diese Liebe zerbricht.

Tina Rothkamm lebt nun so ziemlich das Gegenteil ihres eigenen Familien-Ideals; sie leidet darunter, und dass sich ihre Söhne bei den Vätern wohler zu fühlen scheinen als bei ihr, verletzt sie zusätzlich. Im Februar 2000 fliegt sie nach Tunesien. Allein, sie will zu sich kommen. Abends in der Disco spricht sie ein junger Medizinstudent an. Gut sieht er aus, groß und schlank. Am nächsten Morgen wacht Tina neben Farid* auf. "Ich weiß, es klingt kitschig, aber es war Liebe auf den ersten Blick." Er will ihr seine Stadt zeigen und treibt sie im Laufschritt durch die engen Gassen. Ihr gefällt seine bestimmte Art. Sie fühlt sich sicher bei diesem Mann.

Ich wollte beweisen, dass ein Moslem und eine westliche Frau zusammenleben können.

Zurück in Düsseldorf hält sie es vor Sehnsucht fast nicht aus. Die Söhne sind bei den Vätern, sie fliegt immer wieder nach Tunesien. Und beschließt, ein Leben mit Farid zu wagen. Sie wohnen in einem kleinen Bungalow, sie arbeitet als Reiseleiterin, er studiert, ist charmant und zärtlich. Doch dann verändert er sich. Farid wird launisch, weist sie ab. Einmal verbrennt er ein Buch, das sie gerade liest, "Gute Mädchen kommen in den Himmel, böse überall hin" lautet der Titel. Anfangs erklärt sie sich seine Wut mit verletztem Stolz, weil er von ihrem Geld lebt. "Ich war mit einem unerschütterlichen Urvertrauen ausgestattet. Ich dachte wirklich, alles wird gut, wenn man vorurteilsfrei auf die Menschen zugeht. Heute bin ich vorsichtiger."

Sie strengt sich an, will sich anpassen und die Regeln verstehen, sie will beweisen, dass ein Moslem und eine westliche Frau zusammenleben können. Aber sie macht Fehler. Beim Besuch bei Farids streng traditioneller Familie spricht sie ihren Mann in Gegenwart anderer an - eisiges Schweigen. Sie rupft den Salat, statt ihn in winzige Vierecke zu schneiden - keiner isst davon. Trotz solcher Kränkungen ist sie entschlossen, ihr Leben positiv zu sehen: "Ich dachte, toll, ich lerne jeden Tag etwas dazu." Ihre Lieblingsbeschäftigung wird das Kochen. Sie hofft, mit einem perfekten Couscous endlich Anerkennung zu bekommen.

* Name von der Redaktion geändert

Ich hätte früher Grenzen ziehen sollen.

Farid schließt sein Studium ab und will in Deutschland seinen Facharzt machen. Sie ziehen in Tinas Heimat. Aber auch dort bleibt das Beziehungsmuster: Er demütigt sie, sie setzt nichts dagegen, entschuldigt ihn - und leidet unter seiner Kälte. Warum lässt sich eine kluge, selbstbewusste Frau so behandeln? "Diese Frage stelle ich mir immer wieder", sagt Tina Rothkamm. Ihre Sehnsucht nach Harmonie, das Gefühl, so viel gehabt und so viel verloren zu haben, machten sie anfällig für Farids Manipulation, glaubt sie heute. "Eigentlich war der Psychoterror von Anfang an da. Er konnte charmant sein und im nächsten Augeblick gemein. Es war ein Riesenfehler von mir, dass ich nicht sofort Grenzen gezogen habe. Immerzu fühlte ich mich schuldig und dachte, wenn ich nur seine Ansprüche erfülle, wird er mich lieben."

Als sie 2002 heiraten - Tina Rothkamm ist bereits hochschwanger -, kippt Farid in der Hochzeitsnacht einen Sack Müll über ihr aus, aus Frust, dass seine Eltern nicht aus Tunesien angerufen haben. Trotzdem hofft Tina weiter, irgendwie werde es noch was mit der Bilderbuchfamilie. Sie träumt sogar davon, eines Tages ihre Söhne dazuzuholen. 2007 zieht sie mit Farid zurück nach Tunesien, weil ihm eine Stelle als Arzt in einem Wellnesshotel auf Djerba angeboten wurde. "Ich glaubte damals wirklich, dass er, wenn er erst mal Geld verdienen würde, mit sich und mir zufrieden sein würde."

Ein Irrtum. Mit Tochter Emira geht Farid liebevoll um, doch seiner Frau zeigt er seine Geringschätzung immer unverblümter. Einmal stürzt sie nach einem Streit blutend auf der Straße. Kein Taxi hält an für sie, nur einer traut sich zu helfen. Mohamed, ein Gemüsehändler aus der Nachbarschaft. Ihm vertraut sie sich vorsichtig an. Als Farid ihr in einem Streit mitteilt, dass er sie seit Jahren betrügt, wacht sie endlich auf. Endlich wird sie wütend, so wütend, dass sie mit ihrer Tochter nur noch weg will. Farid lässt sie nicht. Wieder ist es Mohamed, der ihr hilft. Er bringt sie zu seinen Eltern in die Berge. Sie schlafen auf dem Boden, ohne fließend Wasser und ohne Toiletten, immer in der Angst, die Polizei oder Farids Leute könnten sie aufstöbern. In dieser Zeit werden Mohamed und Tina ein Paar.

Nach langem Kampf setzt Tina Rothkamm die Scheidung durch. Sie wird schwanger von Mohamed und geht mit ihm nach Deutschland. Dort kommt Elias, heute zwei Jahre alt, zur Welt. Tina fliegt zurück nach Tunesien, sie will Emira zu sich holen. Doch Farid, inzwischen ein Arzt mit viel Einfluss, sorgt dafür, dass seine Tochter das Land auf legalem Weg nicht verlassen darf. Immer wieder versucht die Mutter, das Kind über die Flughafenkontrolle zu bringen. Vergeblich. Es ist ein Glück für Tina Rothkamm, dass ihr privater Aufstand mit dem des tunesischen Volkes zusammenfällt, denn die alles kontrollierende tunesische Polizei verliert fortwährend an Macht. Sie sagt: "Ohne das Chaos der Revolution hätten wir keine Chance gehabt."

In dieser Zeit legen fast täglich Flüchtlingsboote nach Italien ab. Eine tunesische Freundin fragt: "In zwei Tagen soll wieder ein Schiff nach Italien gehen. Warum fährst du nicht mit?" Tina starrt sie entgeistert an. Und bittet sie dann doch, Kontakt zu einem Mittelsmann aufzunehmen. Rund 2000 Euro muss sie für sich und Emira bezahlen. Cash. Zwei Tage müssen sie warten. Dann werden Mutter und Tochter im Morgengrauen zum Hafen gebracht. Zwei kleinere Wracks liegen da und ein größeres Schiff, das etwas stabiler aussieht. Auf dieses steigt sie mit ihrer achtjährigen Tochter Emira. Ihr ist bang zumute.

An Bord ist es so eng und voll, dass sie fürchtet, das Schiff könnte sinken. Dicht an dicht liegen, sitzen, hocken die Flüchtlinge. Ihr Glück: Viele der Flüchtlinge kommen aus Mohameds Dorf, sie kennen die Deutsche und überlassen ihr den besten Platz. Als sie und Emira zur Toilette müssen, stellen Männer einen rostigen Eimer auf und halten Decken als Sichtschutz hoch. Es riecht nach Erbrochenem, die schmierige Pampe, die es zu essen gibt, rührt sie nicht an, sie hat einen kleinen Vorrat an eigenem Essen mitgebracht. Sie ist die Einzige mit Gepäck und teilt alles, was sie hat: Kekse, Jacken, Tabletten gegen Übelkeit. Sich und ihrer Tochter sagt sie wie ein Mantra: "Das geht vorbei, wir müssen nur überleben."

Nach 20 Stunden landen sie auf Lampedusa. Die Leute von der Küstenwache sind perplex, als sie die blonde Frau und ihr Kind sehen. Die beiden werden sofort versorgt und zur Botschaft nach Rom gebracht. Danach reisen sie zurück nach Deutschland, und Tina Rothkamm zieht sich für Wochen zurück, so gut es geht. Als die deutschen Zeitungen über die Flucht berichten, gibt Farid ein Gegen-Interview. "Tina lügt", behauptet er, so heißt auch ein Forum, in dem sich Dutzende von Usern über sie ereifern. Der scharfe Ton setzt ihr zu. Jetzt, fast ein Jahr nach der abenteuerlichen Flucht, hat Tina Rothkamm noch einmal ein neues Leben angefangen. Sie lebt mit ihrer Patchwork-Familie im Rheinland und arbeitet als Eurythmie-Lehrerin in einer Waldorfschule. Auf die Frage, wie sie über die Flucht denkt, sagt sie: "Mir wurde mein Urvertrauen genommen - und darüber bin ich froh. Ich bin endlich angekommen." Jetzt hat sie sogar den Fußboden in ihrer Wohnung machen lassen. "Das bedeutet, hier will ich bleiben." Sie weiß auch: "Mich kann man an jedem Ort der Welt aussetzen, ich komme immer klar."

Tina Rothkamm hat über ihre Erlebnisse ein Buch geschrieben: "Flucht in die Hoffnung. Wie ich meine Tochter aus Tunesien befreite" (286 S., 14,99 Euro, Piper). Hier finden Sie eine Leseprobe, in der sie die Flucht aus Tunesien beschreibt.

Text: Claudia Kirsch Fotos: Dominik Asbach

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