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Florence Brokowski-Shekete "Aus mir sollte etwas werden"

Florence Brokowski-Shekete: Florence Brokowski-Shekete
© Anna Ziegler
Weil etwas aus ihr werden sollte, wuchs Florence Brokowski-Shekete bei einer Pflegemutter in Buxtehude auf. Heute ist sie die erste und einzige Schwarze Schulamtsdirektorin Deutschlands – und wird noch immer unterschätzt.

BRIGITTE WOMAN: Frau Brokowski-Shekete, verraten Sie mir, wie man verzeiht?

Florence Brokowski-Shekete: Oh, da überraschen Sie mich jetzt aber. Ich wurde schon viel gefragt, etwa: Warum sprichst du so gut Deutsch? Oder: Wie wird eine wie du Schulamtsdirektorin? Doch wie man verzeiht, das wollte noch niemand von mir wissen. Gefällt mir, auch wenn ich Sie unmittelbar enttäuschen muss (lacht). Ich bin nicht sicher, ob ich darauf eine Antwort habe. Wie kommen Sie darauf, dass ich weiß, wie man verzeiht?

Sie hatten harsche, rabiate Eltern. Als sie zwei Jahre alt waren, kamen Sie zu einer Pflegemutter und ...

Ach so, da gibt’s nichts zu verzeihen, das war mein großes Glück. Meine Pflegemutter wurde meine Herzensmama. Ich hatte eine schöne Kindheit, behütet, idyllisch, warmherzig.

Sie sind in Buxtehude aufgewachsen, einer kleinen Gemeinde bei Hamburg. Ihre Herzensmama war weiß, Sie sind Schwarz. Wie kam es dazu?

Ich kam 1967 in Hamburg auf die Welt. Meine Eltern waren für ihre Ausbildung von Nigeria nach Deutschland gekommen. Mein Vater studierte Bauingenieurwesen, meine Mutter lernte Diätassistentin.

Stammten Ihre Eltern aus der nigerianischen Oberschicht?

Nein, es wurde in der Familie zusammengelegt. Entsprechend hoch waren die Erwartungen. Das Studium schleifen lassen, um ein Baby zu betreuen, ging nicht. Sie hätten auch ihre Aufenthaltsberechtigung verloren.

Da es noch keinen Anspruch auf einen Krippenplatz gab, kamen Sie in eine Pflegefamilie.

Was ich erst seit Kurzem weiß: Ich war keine Ausnahme. In der Community war es üblich, die Kinder während der Zeit im Ausland von Einheimischen betreuen zu lassen, unabhängig von einer gewissen Betreuungsnot.

Warum?

Es erhöhte die Zukunftschancen des Kindes: Es lernte die neue Sprache schnell und akzentfrei. Die englische Oberschicht schickt ihre Kinder aufs Internat – ein durchaus ähnliches Konstrukt.

Was war Ihre Pflegemutter für eine Frau?

Mama war irre mutig. Sie war Jahrgang 1924, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs flüchtete sie mit ihren Eltern von Stettin nach Buxtehude. Sie baute sich eine bescheidene Existenz als selbstständige Schneiderin auf. Die Nähmaschine ratterte ohne Unterlass in ihrer Zwei-Zimmer-Wohnung. Nebenbei war sie ehrenamtlich in der evangelischen Kirchengemeinde aktiv. Sie mochte Kinder, hatte aber selbst keine und war auch ohne Partner. Auf Vermittlung des Pfarrers nahm sie dann mich in Pflege. Als alleinstehende Frau! Ein Schwarzes Mädchen! Ich war sogar das einzige Schwarze Kind in Buxtehude, das muss man sich mal vorstellen.

Einmal, so erzählen Sie es in Ihrer Autobiografie, wollten Sie Ihre Hautfarbe abwaschen.

Mama brachte mir aber rasch bei, dass ich so, wie ich bin, gut bin, eben "ihre Flori". Meine Kindheit war wie in einem Kokon. Ich vergaß meine Hautfarbe.

Es gab keinen Rassismus?

Natürlich gab es Momente, in denen ich gezwungen wurde, meine schwarze Haut in meiner weißen Welt bewusst wahrzunehmen, etwa wenn ein Spielkamerad wissen wollte, ob ich "überall so schwarz" sei. Fremde strichen mir über mein "schönes, krauses" Haar, als sei ich ein Ausstellungsstück. Und ja, ich hörte auch das N-Wort. Was ich aber rückblickend sagen muss: Der Status meiner Mama schützte mich.

Wie meinen Sie das?

Meine Mama war durch ihre kirchliche Arbeit in Buxtehude hoch angesehen, eine eher kleine Stadt, in der man mich kannte, das muss man mitdenken. Der Schlüssel dafür, dass ich in meiner Kindheit kaum Ausgrenzung erlebte, war meine soziale Herkunft. Das ist ja bis heute so. Es macht für mein Schwarzes Kind einen Unterschied, dass ich, seine Mama, Schulamtsdirektorin bin und nicht arbeitslos.

Dennoch sagte Ihre Mama oft mahnend zu Ihnen: "Flori, was denken die Leute!"

Mama und ich fielen natürlich auf. Also musste ich mich extragut benehmen. Meine Hautfarbe kompensieren. Aber ehrlich, das muss ich bis heute. Schauen Sie, heute habe ich eine Löcherjeans an. Hätten Sie, eine weiße Frau, so eine Löcherjeans an, würden Zufallsbegegnungsmenschen denken: Wow, Löcherjeans, die ist hip. Meine Hautfarbe aber erzeugt andere Gedanken: Kann die sich nichts anderes leisten? Ein weiteres Beispiel: Trage ich einen kurzen Rock und Overknees, erlebe ich, dass mir ein bestimmter Job unterstellt wird – meine weißen Freundinnen erleben das nicht. Das sage ich auch meinem Kind: Du musst deine Hautfarbe mitdenken! Damit wir uns nicht falsch verstehen: Das bedeutet nicht, dass ich mir als Schwarze weniger erlaube oder Situationen meide. Ich weiß aber, dass mein Verhalten andere Assoziationen wecken kann als das meiner weißen Mitmenschen. Das ist permanent in meinem Kopf, und mal habe ich mehr, mal weniger Energie. Ich verstehe daher sehr gut, dass Mama auf ein angepasstes Verhalten meinerseits drang.

Was war mit Ihren Eltern?

Die Vereinbarung lautete, dass sie mich freitagabends abholen und ich das Wochenende mit ihnen verbringe. Das taten sie aber nicht. Sie gaben mich bei Mama ab und kamen wochenlang nicht wieder. Später standen sie immer wieder aus dem Nichts vor der Tür. Freitag wurde mein Angsttag. Kommen sie, kommen sie nicht?

Warum waren Sie so ungern bei ihnen?

Ich kann mich einfach an nichts erinnern, was das Herz eines Kindes hätte höherschlagen lassen, wie gemeinsames Spielen, Kuscheln, Erzählen ...

Trotzdem finden Sie in Ihrer Autobiografie warme Worte für Ihre Mutter und Ihren Vater. Mich hat das überrascht.

Ah, daher rührte Ihre Frage nach dem Verzeihen.

Ja.

Ich weiß nicht, ob ich meinen Eltern verziehen habe oder ihnen verzeihen müsste. Ich bin ihnen dankbar, denn sie brachten mich zu Mama, Punkt. Verzeihen ist vielleicht auch ein Trend: Lass los, dann geht es dir gut! Mir treten häufig Menschen ans Bein. Schwarz, Frau, beruflich erfolgreich. Das ist für viele ein Affront. Was ich sagen kann: Ich bin nicht nachtragend. Ich stelle den Menschen, der mich geärgert hat, innerlich zur Seite. Ich kann ihn dann anschauen, ihm begegnen, ohne dass mein Zorn erneut hochkocht. Und ich bin eine Erklärerin.

Eine Erklärerin? Wie meinen Sie das?

Eine Erklärung ist wie ein Pflaster. Eine schmerzhafte Situation schmerzt dann weniger.

Gilt das auch für Rassismus?

Jein. Es ist schon so, dass es für mich – aber da spreche ich jetzt sehr bewusst nur für mich – einen Unterschied macht, ob ein Mensch mich bewusst beleidigt oder etwas in guter Absicht oder mindestens ohne bösen Hintergedanken sagt. Ich nehme mir aber heraus, dass die Deutungshoheit bei mir liegt.

Wenn Sie sagen: "Das war jetzt rassistisch, das verletzt mich!", muss Ihr Gegenüber das anerkennen.

Genau. Die Realität in Deutschland, auch im Jahr 2021, ist aber eine andere. Viele wollen von mir, dem Opfer, ein Pflaster.

Das müssen Sie erklären.

Neulich, der Klassiker. Ich kam mit einem Mann ins Gespräch, er fragte: "Wo kommen Sie her?" Ich sagte: "Aus Hamburg." Er: "Nein, ich meine, wo kommen Sie wirklich her?" Meine Entgegnung, dass meine Antwort doch bitte genügen müsse, kommentierte er mit einem "Seien Sie nicht so pampig!". Ich war pampig, er hatte keinen Fehler gemacht.

Ihre Pampigkeit war sein Pflaster.

Ja. Aber das geht nicht. Als Schwarze Schulamtsdirektorin sehe ich natürlich auch regelmäßig in erstaunte Gesichter. Ich halte das aus. Ich mache dann Small Talk, sodass mein Gegenüber sich sammeln kann: Schönes Wetter, wie war die Anreise?

Als Sie neun waren, gingen Ihre Eltern zurück nach Nigeria. Sie mussten mit, gegen Ihren Willen.

Ich glaube nicht, dass ihnen bewusst war, was sie mir antaten. Sie dachten, dass ein Kind zu seiner Familie gehört, wenn es diese Möglichkeit gibt. Ha, da ist sie wieder, die Erklärerin (lacht). Ich hatte eine schwere Zeit in Nigeria. Ich war das schwarze, halt nein, das weiße Schaf der Familie, das sich nicht anpassen wollte. Ich vermisste Mama entsetzlich. Aber Empathie gab es keine, im Gegenteil. Wurde mein Verhalten als unpassend eingeordnet, durfte ich meiner Mama nicht mehr schreiben oder es wurden mir ihre Briefe vorenthalten. Ich war häufig krank, hatte Bandwürmer oder Fieber. Nach beinah drei Jahren erkannte eine Lehrerin die Ursache für meinen miserablen Zustand. Sie schaute nicht weg. Sie sprach meine Eltern an. Sehr respektvoll, aber auch sehr deutlich. Nach über drei Jahren durfte ich wieder zu meiner Mama nach Deutschland.

Sie wollten Flugbegleiterin werden ...

... aber ich hatte nur einen nigerianischen, keinen deutschen Pass. Meinen Berufswunsch aufzugeben, weil ich ansonsten Deutschland wieder hätte verlassen müssen, war eine der größten Enttäuschungen. Die Angst vor einer Abschiebung schwebte wie ein Damoklesschwert über Mama und mir. Ich musste das Abitur bestehen und dann studieren, nur so konnte ich mein Bleiberecht behalten. Jede verhauene Klausur war eine Katastrophe. Diesen Druck erleben viele Menschen, deren Aufenthaltsstatus unsicher ist. Das ist Alltag in Deutschland, und es kann bitter machen, krank oder auch rebellisch. Manche können ihr Potenzial nicht voll entfalten.

Und Sie?

Ich bin ein Das-Glas-ist-halb-voll-Mensch. Ich habe eine starke Resilienz. Vielleicht ist mir diese angeboren, vielleicht hat mich Mamas Liebe stark gemacht. Ich war 21, als sie schließlich auch auf dem Papier meine Mama wurde und mich adoptierte. Das war so ein schöner Tag.

Sie wurden Lehrerin, dann die erste Schwarze Schulleiterin Deutschlands.

Das ging rum wie ein Lauffeuer. Hast du gehört, die hat sich beworben! Die hat den Job! Manche nannten mich hinter meinem Rücken die Schwarze Hexe, aber wissen Sie was?

Was denn?

Andere Chefinnen haben auch fiese Spitznamen. Ich habe mir abgewöhnt, jede Spitze auf meine Hautfarbe zu beziehen. "Nur weil ich Schwarz bin, will man mich hier nicht" ist eine ebenso kontraproduktive Haltung wie "Die ist Schwarz, die passt nicht hierher". Was aber Realität ist: Als Schwarze muss ich mich beweisen und mindestens anfangs mehr leisten. Frauen, die in Männerterrains vordringen, kennen das Gefühl – und so gut wie alle nicht weißen Menschen in Deutschland.

Doch Sie wollten stets noch eine Stufe höher.

Nein. Ich wollte nie "Karriere machen". Es waren immer die Aufgaben, die mich reizten.

Das allein genügt aber nicht.

Stimmt. Es gab immer Menschen, die an mich glaubten. Eine Schulsekretärin meldete mich für ein Seminar für führungswillige Lehrkräfte an – der Schulleiter hatte mich nicht auf dem Schirm. Die stellvertretende Schulleiterin übernahm kommissarisch die Schulleitung, als der Chef krank wurde – und holte mich mit ins Boot. Was mir sehr in Erinnerung geblieben ist, sind zwei Schülerinnen, beide Schwarz. Sie sagten: "Wir haben eine Schwarze Schulleiterin. Dann können auch wir alles werden."

Es braucht Vorbilder.

Absolut! Aber pssst, jetzt verrate ich Ihnen noch etwas. Natürlich bin ich in dem, was ich mache, auch gut. Ja, inzwischen kann ich das selbstbewusst sagen. Ich höre mindestens einmal pro Woche, wie erstaunlich gut ich doch Deutsch spreche. Früher hat mich das irritiert. Inzwischen denke ich: Unterschätz du mich ruhig. Und dann komm her. Das wird ein Spaß.

Florence Brokowski-Shekete: Buchcover "Mist, die versteht mich ja!"
© PR

Ihre Geschichte schrieb Florence Brokowski-Shekete auf: "Mist, die versteht mich ja! Aus dem Leben einer Schwarzen Deutschen", 250 S., 22 Euro, Orlanda Verlag.

Florence Brokowski-Shekete, geboren 1967 in Hamburg, ist die Tochter nigerianischer Eltern – ihre Mutter und ihr Vater kamen für ein Studium nach Deutschland – und wuchs in Buxtehude bei einer Pflegemutter auf. Nach dem Abitur studierte sie Lehramt und arbeitete als Lehrerin. Ende der 90er-Jahre machte sie sich mit einer Agentur für internationale Kommunikation selbstständig, für die sie bis heute nebenberuflich tätig ist. Sie kehrte in den Schuldienst zurück, wurde Schulleiterin, Schulrätin und ist heute in Mannheim die erste und einzige Schwarze Schulamtsdirektorin Deutschlands. Sie lebt in Heidelberg und hat ein erwachsenes Kind.

Wir haben uns bei BRIGITTE WOMAN für eine diskriminierungssensible Schreibweise entschieden. "Schwarz" ist großgeschrieben, um zu verdeutlichen, dass es sich um keine "biologische Eigenschaft" oder Hautfarbe handelt, sondern um eine politische Selbstbezeichnung, die mit einer Rassismuserfahrung verbunden ist.

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BRIGITTE WOMAN 06/2021 Brigitte

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